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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 41 (Dezember 1910)
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Rittner, Tadeusz: Ein Charakter
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia: Ein Volksroman
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Walden, Herwarth: Bücher zu Geschenkzwecken
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0332

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Uebrigens habe ich die Empfindung, dass er an
diese erste Wahrheit, die ich ihm gesagt hatte, höchstens
eine Woche glaubt.

Jetzt hat er [fast rote Backen und seinen Mund
umspielt ein fast triumphierendes Lächeln.

„Es scheint . . . ich werde doch gesund,“ sagt er,
und blickt mich mit kaum wahrnehmbarer Ironie an.

„Gott sei Dank,“ seufze ich und sehe zur Decke
hinauf.

„Die Woche ist vorüber.“

„Vorüber“ bestätige ich, mit der Miene eines kom-
promittierten Menschen.J

Und abends kommt der Doktor.

„Er wird gesund,“ sagt er plötzlich händereibend,
„und Donnerstag kann er zum erstenmal aufstehen.“

Ferdinand lächelte glücklich, als ich ihm diese
Worte wiederholt hatte.

Er lächelte nur. Und dann blickte er mir mit
dem gewohnten Ausdruck riicksichtslos aufrichtiger
Freundschaft in die Augen I

„Ich danke dir fiir die Gastfreundschaft. Und ich
freue mich, dir durch einen kleinen Gegendienst wenig-
stens teilweise meine Erkenntlichkeit zeigen zu
können.“....

Es war etwas in seinem Blick, was mir die alten
Zeiten in Erinnerung brachte, und. . . . ich erzitterte
vor Angst.

„Ich will dir die Augen öffnen. . . . “

Aha— — dachte ich und fühlte, wie ich erblasste.

„Dieses Weib.diese Adele, von der du

behauptest, dass sie dich liebe.und dieser

Herr.dieser Mischi, oder wie er sonst heisst,

von dem du glaubst, er wäre dein Freund.“

.Ich stöhnte und erhob bittend die Hand.

„Betrügen dich, dass es eine Freude ist. Als ich
in diesem Zimmer lag, war ich oft Augenzeuge. . . .
Es tut mir leid, wenn du dir die Sache zu sehr zu
Herzen nimmst, aber.

Er driickte mich mit seiner eisernen Hand.

. . ... .„Aber ich musste es dir sagen. Es war
meine Pflicht. Und ich wäre wirklich deiner Freund-
schaft unwürdig, wenn ich es dir nicht mit rücksichts-
loser Offenheit gesagt hätte.“

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

I

Schilda

Die Sonne war untergangen.

Und es regnete.

Und Herr Moritz Wiedewitt, der Oberbürgermeister
von Schilda, sass vor seinem Schreibtisch und grübelte;
die Lampe brannte trübe.

Frau Lotte Wiedewitt, die Gemahlin des Ober-
bürgermeisters von Schilda, sass auf dem Diwan — und
ihre Augen funkelten.

Moritz hüstelte und sagte beklommen:

„Es ging heute mal wieder alles schief“

Da rief die Lotte gellend:

„Das halte der Deuwel aus. Mein Wirtschafts-
geld langt nicht. Ein solches Hundeleben ertrage ich
nicht länger. Dass muss jetzt anders werden.“

„Schrei blos nicht sol“ sagte der Oberbürgermeister
sanft. Aber da schrie die Frau Lotte erst recht, dass
die Wände dröhnten.

Und ihr Gemahl ward ebenfalls wütena.

Und da schrien sie alle Beide.

Die Schildbürger, die auf der Strasse vorüber-
gingen, krauten sich hinter den Ohren und kamen
auch in schlechte Stimmung.

„Wer weiss, wie das noch enden wird I“ sagten
sie mit Mienen echter Verzweiflung.j

„Das haben wir nun davon“, rief die Lotte, „von
der grossen Emanzipation! Dazu also haben wir uns
vom Volksgeiste emanzipiert! Hunger und Elend haben
wir davon — und weiter garnichts. Ein neues Inlett
für die Betten muss auch angeschafft werden. Ich er-
trags so nicht länger. Ich schweige jetzt nicht mehr.“

„Du hast nie geschwiegen I“ rief der Oberbürger-
meister, und ein Lächeln erhellte sein Angesicht.

„Warte nur, es wird sich schon machen lassen!“

AIso fuhr er fort.

Aber die Lotte rannte zum Zimmer hinaus und
schmiss die Türe hinter sich zu, dass alles krachte.
Die Lampe brannte wieder ganz trübe,

Und es regnete in Schilda.

II

Ulaleipu

Philander der Siebente, der Kaiser von Utopia, sass
vor seinem grossen Fenster und blickte hinaus.

Drüben wurden die Schneezacken der himmelhohen
Berge |feuerrot und bekamen goldene Ränder. Es
wurde Morgen.

Und der Kaiser sah seine |Schneezacken heftiger
glühen, und seine Augen schmerzten, so dass sie bald
die unteren Teile der Berge suchten, auf denen Ula-
leipu, die Residenz des Kaiserreichs Utopia, er-
baut war.

Ulaleipu war eine grosse Felsenstadt; sie umkränzte
die Ufer des schwarzen Sees in Hufeisenform.

Der schwarze See in der Tiefe hatte auch Huf-
eisenform. Dort, wo das Hufeisen offen ist, reckte
sich der Kaiserpalast aus den schwarzen Wassern
heraus; der Palast war auf vielen steilen Felsenkegeln
erbaut und zumeist so, dass die Felsen als solche nicht
mehr zur Geltung kamen; die Architektur verdeckte
die Felsen fast überall.

Und so wie sich der Kaiserpalast an die Felsen
anschmiegte, so taten dies auch die anderen Paläste
der Residenz Ulaleipu, so dass von den unteren Teilen
der Berge, die auch den schwarzen See in Hufeisen-
form umkränzten, nicht viel zu sehen blieb; fast über-
all ward das Gestein verdeckt von der Architektur.

Und da es nun allmählich immer heller wurde,
sah sich der Kaiser von seinem grossen Fenster aus
seine gewaltige Felsenresidenz an und freute sich über
ihre Hufeisenform; viele Kettenbrücken und andere
Brücken verbanden die einzelnen Stadtteile, und alles
war sehr reich und prächtig; Türme und Fahrstühle,
weitüberragende Erker und zurückgehende Terrassen,
Tunnel und Spiralstrassen, Plätze mit vielen Hailen
darunter — und tiefe Schluchten mit Säulengängen
rechts und links — und wirklich hängenden Gärten
und ganz steile Parkanlagen mit Wasserfällen und
Springbrunnen — so was gabs da alles in schwerer
Menge, dass das Auge sich nicht satt sehen konnte
an all der fabelhaften Pracht.

Unten im schwarzen See spiegelten sich die roten
und goldenen Schneezacken der hohen Gebirge, und
auch der dunkelblaue Himmel spiegelte sich im
schwarzen See.

Und dann ging die Sonne hinter den Bergen auf,
und es wurde ganz hell in Ulaleipu, v enn auch die
Sonne vorläufig noch unsichtbar blieb.

Der Kaiser öffnete sein grosses Fenster; langsam
gingen die Spiegelscheiben runter, so dass die frische
Morgenluft des Kaisers Stirne kühlte.

Und die Residenzler ringsum auf den Bergabhängen
öffneten auch ihre Fenster.

Alle liessen die frische Morgenluft in ihr Haus
hinein.

*

* *

III

Das Frühlingsfest

Die Zylinderwagen und die Fahrstühle sausen berg-
auf und bergab, durch die Tunnel und über die Ketten-
brücken flitzten die iangen Paketwagen, und dazwischen
drehten sich die langen Züge der Spiralbahnen hinunter
und in die Höhe — ganz Ulaleipu ist in Bewegung —
und alles glitzert dabei — und die glitzernde Bewe-
gung kann der Kaiser vom grossen Fenster aus sehen
und sich darüber freuen; seine Residenz feiert heute
das grosse Frühlingsfest — der Tag ist so Iang wie
die Nacht — in fröhlichster Morgenstunde beginnt es
und am nächsten Tage in den späteren Morgenstunden
hört es erst auf.

In den Fremdenpalästen geht es am lebhaftesten
zu — nur für geladene Gäste aus den Provinzen hat
heute die Residenz ein offenes Tor — die anderen
Fremden müssen hinter den Bergen bleiben, denn die
Stadt Ulaleipu kann sich nicht so leicht nach oben
und unten hin ausdehnen — die Bautätigkeit ist bei-
nahe zu Ende.

Auf den Terassen und in den Gärten gibts jetzt
das berühmte Frühlingsfrühstück und dazu ein Früh-
konzert von fünfzig Kapellen, die an fünfzig verschie-
denen Stellen mit Benutzung der Echos teiis zusammen,
teils vereinzelt — aber immer einander ergänzend —
das Meisterwerk eines utopianischen Komponisten vor-
tragen.

Aus allen Fenstern sind jetzt bunte Stickereien
herausgehängt und aus den Türmen ragen unzählige
lange Stangen heraus,. die sich immerzu um sich selber
drehen, was einen Glanzeffekt erster Güte erzeugt, da
die Stangen sämtlich von oben bis unten mit bunten,
zum Teil prismatisch geschliffenen Gläsern verziert sind.

Die Frühlingsmusik rauscht über den schwarzen
See hinweg, in das grosse Fenster des Kaisers hinein —
und dann klingelt es bald da nnd bald dort, bald oben
in den Bergen und bald unten am See.

Und Ulaleipu frühstückt dabei — aber ganz vor-
sichtig isst man, klappert nicht mit Messer und Gabel,
kein Kind darf ein lautes Wort sagen. Und auch die
kleinen Jungen mit den Festschriften auf den Bahn-
stationen reichen vorsichtig das Papier hin, dass es
nicht knistert. Wer noch gehen muss, geht auf den
Zehen und langsam.

Der Kaiser sieht seine Stadt an — — sieht, wie
die Stangen auf den Türmen unaufhörlich glitzern und
farbig funkeln, und wie die bunten Stickereien die
ganze Stadt ganz bunt machen. Und das Frühkonzert
der fünfzig Kapellen tönt harmonisch in das Frühlings-
fest hinein, sodass der Kaiser doch lächeln muss.

Unten auf dem schwarzen See stehen auch die
Ruderboote und die Motorboote ganz still, damit kein
Misston hineinklinge in das Frühkonzert der fünfzig
Kapellen.

Bücher zu Geschenk-
zwecken

Es muss möglich sein, die Goldschnittatmosphäre
dieses wohlkonservierten Klischees so zu desinfizieren,
dass ein gebildeter Mensch ohne Saccharinbeschwerden
darin atmen kann. Es darf wohl gesagt werden, dass
der „Sturm“ einige recht wirksame Drogen hierzu ge-
liefert hat. Und es entspricht durchaus seiner Tendenz,
wenn wir die in Büchereinkäufen investierten Beträge
uns wertlos scheinenden Autoren zu entziehen suchen.
Man hat die Absicht des „Sturm“ oft modern genannt
Meistens suchten sich vergreiste Gehirne damit von
uns zu distanzieren. Aber wenn damit wohimeinend
gesagt sein soll, dass wir immer die Literatur des
lezten Monats vertreten, so bedanken wir uns recht
ernstlich. Es wäre dem „Sturm“ äusserst peinlich, mit
den Marionetten eines bürgerlichen Sentiments ver-
wechselt zu werden, die sich durch höfliche Belächelung
eines Goetheenthusiasten eine fragwürdige Originalität
erschwindeln wollen. Aber ebenso lehnen wir jenen
muffigen Historismus ab, der den Wert eines Buches
nach seinem Alter bemisst. Dies anbei. Wenn wir
jetzt unsern Lesern Bücher empfehlen, so greifen wir
bewusst auf die Vergangenheit zurück. Ueber zeit-
genössische Literatur ist in jeder Nummer des „Sturm“
gesprochen worden: es genügt auch, ganz einfach die
Bücher beim Einkauf zu meiden, die etwa der „Kunst-
wart“ und ähnliche gutgenährte Antiquitäten empfehlen.
Im übrigen haben wir das beruhigende Gefühl, dass
es keine Brücke gibt, auf die ein Sturmleser zum An-
kauf von Jörn Uhl schreiten könnte.

I

Der Verlag Eugen Diederichs in Jena steht
an der Schwelie jener Bewegung, die vom Staube be-
drohtes Kulturgut im grossen Stil wieder in die Ge-
sichtshöhe unserer Zeit zu heben wusste. Es ist schon
eine historische Aufgabe, die revolutionäre Wirksamkeit
dieses Verlages für die Richtung der buchhändlerischen
Tätigkeit und für die Kultur des Buches zu schildern.
Und wie sehr diese Faktoren in das zeitgenössische
Bildungswesen eingreifen, bedarf nur dieser Andeutung.

Als das monumentalste Archiv geistiger Beweglichkeit,
prachtvoller Selbstdarstellungen und ganz Wort ge-
wordener Leidensfähigkeit weise ich auf die Gesamt-
ausgabe der Werke S. Kierkegaards hin, für die diesem
Verlag der Dank aller Kulturmenschen abzustatten ist.
Man belästigt uns mit den Versuchen, eine fgut-
gezimmerte Ethik für die Seichtheit des religiösen Er-
lebnisses anzubieten. Und da flache Gewässer am
zugänglichsten sind, bedeutet dieser Buchstabenprote-
stantismus letztlich und endlich eine Gefahr. Hier bietet
sich ein Geist dar, der von der Höhe des religiösen
Erlebens als Ebenen des Geistes übersieht, sie in sich
einsaugt, an dem Ganztiefen eines „primitiven Gottes-
verhältnisses“ alle Erfahrungen in einer unerhörten
Wärme fruchtbar werden Iässt und der unser aller
Zeitgenosse zu sehr ist, um nicht in martervoilem

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