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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 4 (März 1910)
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Scheu, Robert: Karl Lueger
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Altmann, Wilhelm: Berliner Zukunftsopern
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0033

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, ls zur äußersten Konsequenz ausgestaltet hat.
edes Ding, jeder Mensch, jedes Ereignis soll au-
erdem, was es sonst ist, auch noch überdies ge-
^ütlich sein. So verlangt es .der kategorische Im-
erativ von Wien. Der Wiener anerkennt nicht, daß
s auch rein praktische, ntichterne Dinge, daß es
j^ausame Konstellationen gibt, daß ein Konflikt
nenschen von Menschen, Klasse von Klasse reißt,
r ^vill nicht die Kante, den Bruch, die scharfe Flä-
i®, er will keine Tragödie. Alles und jedes Ding

und muß irgendwie zum Qefühl sprechen, auch
ji®. trockenste Zweckhandlung soll in einem ge-
^uigen Rahmen erscheinen, alles soll irgendwie
eicht gemacht werden, selbst die Mathematik und
er Tod sollen im Feuilletonstil auftreten.
t . D e r entziickt sie, der ihnen beweist, daß
eme Materie so spröde, so ernst, so hanebiichen
w!’ äaß sie nicht „leger“ erledigt werden könnte.
, lrgends auf der Welt ist die Abstraktion so ver-
aßt, nirgends sind strikte Abmachungen so anti-
^thisch, nirgends sind Programme so verachtet.
L enn nun ein tatkräftiger Mann solide Arbeit so
ervorbringt, daß ihre rauhe Seite gar nicht fiihlbar
wenn er reale Leistungen mit Spaß guirlan-
I ' erh dann ist er ein Held und Abgott. Die Sache,
Sache soll nur der Anlaß, das notwendige
euel sein, um eine Qefühlssentaion auszulösen und
Was Persönliches zur Erscheinung zu bringen.

Die Qemiitlichkeit hat eine Schwester, die Aus-
se,assenheit. Ausgelassenheit ist die zum Selbst-
r^ eck erhobene exzessive Erholung. Der Oester-
e'cher erholt sich gern, er erholt sich nach großen,
er auch nach kleinen Leistungen, manchmal
v°Sar vor künftigen Leistungen. Arbeit in Form
jj° n Erholung, das ist des Wieners seligster Traum.
as hat ihm Lueger geboten, und weil er dabei
°gar etwas Reales zuwege gebracht hat und ein
roßer Administrator war, so ist jetzt den Wienern
er Beweis geliefert, daß es also doch geht, daß
,r auch fidel ans Ziel kommen kann. Sein Evan-
sehum ist nunmehr bewiesen.
j Wovon erholt sich der Wiener jahraus, jahrein?
eu denke, von der psycho-physischen Arbeit der
jsassen- und Völkermischung. Völkerverdauungs-
. adigkeit. Vielleicht erholt er sich auch von einem
hm aufgezwungenen Liberalismus, vom großstäd-
,‘schen Industrialismus, von den Komplikationen
es modernen Verkehrs? Wien ist und bleibt noch
mige Zeit die Stadt der kleinen Qewerbe, der be-
hUemen Sinekuren, der Herrschaftsdiener und Fi-
aker. Halber Süden. Das exakte Denken der mo-
hernen Volkswirtschaft will nicht in Fleisch und
j.’ ut übergehen. Eine Zeit lang war die Masse
'heral, aber es war eine fremde Tracht, ein steifes
jVeid, der Tag mußte kommen, wo die falsche
l^aske abgeworfen wurde. Lueger war der Be-
eier, der dem Volk erlaubte, sich so zu geben, wie
, s ist, ohne sich zu genieren. Dafür unendlicher
he'ßer Dank.

Man hat ihm vorgeworfen, daß er seine Qesin-
,!' ng unzählige Male geändert habe. Aber im Kar-
v' nalpunkt bewahrte er die Treue. Er hat sich
° n der sogenannten demokratischen Partei ge-
jj Gtlnt, aber nur, um auf einem andern Wege die
jj Crnokratie erst recht zum Siege zu führen. Die
. ernokratie eines Landes ist soviel wert, wie das
°lk des betreffenden Landes. Er hat schließlich
°ch den Mittelstand, den Kleingewerbler zum
. erren von Oesterreich gemacht. Das hat er von
nfang an gewo]]t. Das hat er auch durchgeführt.
$ ^boi'gekommen, bewahrte er diese Qesinnung,
s ,L rauf)te si cfl ni e zu etwas anderm hinauf. Er
^nraubte sich nie zu etwas anderem hinauf. Das
^chönste am Wiener ist die leidenschaftliche Ab-
g e,gung gegen jedwede Pose. So war auch Lueger.
le r gaf) sich immer natiirlich, allzu natürlich. Er
l^gte der Wissenschaft, der Bureaukratie, der
j/ esse, dem Hofe das Joch s e i n e s Volkes auf,
j r genoß seinen persönlichsten Triumph, wenn er in
wj! er Versammlung, war es nun die Akademie der
j 'ssenschaften, das Parlament oder eine Schiller-
Cl ler — immer und überall die e i n e Sprache re-
Jxr Wie sie *^ as hören wollte und verstand.
j ääs nicht echt demokratische Qesinnung?
^mrner wieder erneuerte er seinen Sieg über die
akte Form, über die logischen Forderungen, über
xv e Qesellschafts- und Klassengliederung. Immer
j^'cder führte er in Ausdrucksweise und Taten den
e^veis, daß die inkarnierte Volkspersönlichkeit,
e, ne Zuhilfenahme von Prinzipien alle diese Dinge
ensogut treffe, und besser. Er spielte immer
leder den Menschen gegen die Politik, gegen
le Struktur der Qesellschaft aus. Daß es ihm
e*ang, ist wunderbar und gibt zu denken. Die

Sozialdemokratie verhöhnte seine Partei wegen
ihres bunten Gefüges, wegen der Verknäuelung
der widersprechendsten Interessen. Aber daß es
gliickte, diesen bunten Haufen zusammenzuhalten
und als geschlossene Macht zu politischen Zielen
zu führen, das war ja Luegers höchster Triumph,
das wars ja, was er beweisen wollte. Nun ist er
tot, und wenn die Partei wirklich ihren Schöpfer
nicht iiberleben sollte, so wäre dies ein Beweis
mehr für die These seines Lebens: Wien ist ein
Wesen für sich, allen Abtraktionen überlegen, und
Lueger seine Offenbarung. — Seine Persönlichkeit
bezeichnet übrigens die Qrenze zwischen Wien und
Oesterreich. Das Reich zu repräsentieren, war ihm
versagt. Er war Stadtmann, nicht Staatsmann.

Berliner Zukunftsopern

Von Wilhelm Altmann

Das rapide Wachsen Berlins in den letzten
dreißig Jahren, die Tatsache, daß die Zweimillionen-
stadt an Vergnügungssucht selbst London und
Paris überflügelt, scheint in gewissen Kreisen eine
Art Qrößenwahn hervorgerufen zu haben. Man
glaubt, die Zahl der Theater noch immer ver-
mehren zu müssen, obwohl die meisten nur mit
Hilfe von sogenannten „Vereinsbillets“ notdürftig
gefüllt werden. An Opernhäusern war freilich bis-
her kein Ueberfluß.

Lange Zeit hat das Königliche Opernhaus allein
dominiert; auch jetzt ist es noch in der glücklichen
Lage durch das ihm allein zustehende Aufführungs-
recht der Wagnerschen Werke (um nur diese anzu-
führen) volle Häuser zu erzielen und anderen
Opernbühnen dadurch dic Lebenskraft zu unter-
binden.

Dies wird sich allerdings mit dem ersten
Januar 1914 ändern, da, trotz aller Bestrebungen.
die bisherige Schutzfrist von dreißig Jabren auf
fiinfzig zu erhöhen, an eine Aenderung der Qesetz-
gebung von den ausschlaggebenden Faktoren nicht
gedacht wird. Wenn neuerdings die Qründung von
Opernhäusern betrieben wird, so geschieht es ganz
offenbar in der Hoffnung, die Wagnerschen Werke
bald ausschlachten zu können. Alle bösen Er-
fahrungen, die bisher mit Operngründungen gemacht
wurden, scheinen nicht abschreckend zu wirken.

Man denke an jene früheren Versuche, dem
Königlichen Opernhaus Konkurrenz zu machen.
Recht aussichtsvoll begann die Oper im Theater
desWestens im Jahre 1898. Trotz mancher
guten Leistungen, trotz mancher wirkungsvollen
neuen Werke blieb das Publikum zu oft aus. Mehr-
facher Direktorenwechsel wurde nötig. Unter
Alois Prasch, der ohne genügende Qeldmittel das
Theater iibernommen hatte und zudem nicht zu
wirtschaften verstand, kam es zur Katastrophe;
ein kurzes Direktorat seines gar zu optimistischen
Nachfolgers überlieferte das schöne Haus im Jahre
1908 endgiltig der Operette.

Verheißungsvoll erschien auch die Qründung
des National-Theaters im Jahre 1905.
Allein der Direktor wurde von Unglücksfällen fort-
während heimgesücht, auch mißfiel das recht
abseits liegende stallähnliche Haus. Nach e i n e r
Spielzeit waren die Mittel aufgebraucht und das Qe-
bäude, in dem unter anderen eine recht gute
Fidelio-Aufführung stattgefunden hatte, wurde in
ein Varietd umgewandelt.

Erst Herrn Q r e g o r war es vorbehalten, in
seiner im November 1906 eröffneten Komischen
0 p e r ein würdiges zweites Opernunternehmen zu
schaffen und fortzuführen. Aber auch er hat mit
vielen Schwierigkeiten, vor allem im Repertoir, zu
kämpfen; selbst die größten künstlerischen Er-
folge zogen nicht immer das Publikum heran. Es
stößt sich zum Teil an den hohen Eintrittspreisen,
die durch den kolossalen künstlerischen Apparat
und die Kleinheit des Hauses bedingt sind. Leider
wird Berlin in zwei Jahren Herrn Qregor verlieren,
der zum Intendanten der vereinigten Stadttheater
in Frankfurt am Main ausersehen ist. Dort stehen
ihm fast unbeschränkte Mittel zur Verfügung, um
großartige künstlerische Pläne durchführen zu
können. Mit seinem Scheiden dürfte die Komische
Oper wohl zur Operettenbühne herabsinken.

Wenn von einer finanzkräftigen Qruppe allen
Ernstes daran gegangen wird, am Kurfürstendamm
eine „Qroße Oper“ im Herbst 1911 zu eröffnen,
so hätte meines Erachtens nichts näher gelegen, als
zum Leiter Herrn Qregor zu berufen, dessen Insze-
nierungskunst vorbildlich gewirkt hat. Statt dessen

wählte man unter vierundzwanzig Bewerbcrn
Herrn Angelo N e u m a n n. Er ist sicher einer
der fähigsten Opernleiter und ein gewiegter Qe-
schäftsmann, dessen Name in die Geschichte der
Oper eingetragen ist. Ich kann ihm den Schmerz
nachfühlen, daß er sich nach seinen Triumphzügen
mit dem reisenden Richard Wagner-
T h e a t e r mit der Leitung der Opern in Bremen
und später in Prag begnügen mußte. Aber Angelo
Neumann ist in letzter Zeit oft und schwer krank
gewesen und wird, wenn er seinen hiesigen Amts-
antritt überhaupt noch erlebt, gerade das drei-
undsiebzigste Lebensjahr vollendet haben. Ein
Alter, in dem er kaum imstande sein wird. sich auf
dem ihm fremden Berliner Terrain zurechtzufinden
und ein neues Unternehmen ruhmvoll zu in-
augurieren. In Prag soll er ständig alles im alten
Opernschlendrian gehen lassen. Es soll ihm hier in
Berlin ein Gehalt von 60 000 Mark sowie Tan-
tieme ausgesetzt sein. Daß diese iiberhaupt er-
zielt werden können, ist ziemlich ausgeschlossen.
Mit welchem horrenden Zuschuß arbeitet das
Königliche Opernhaus! Auch bei der „Qroßen
Oper“, die in erster Linie wohl der Bauspekulation
ihr Leben verdankt, diirften die Unterhaltungs-
kosten nicht viel geringer ausfallen als beim
Königlichen Opernhaus, vorausgesetzt daß diesem
wirklich ernstlich Konkurrenz gemacht werden soll.
Auch können die Eintrittsgelder dann nicht
wesentlich billiger angesetzt werden. Es liest sich
ja schön auf dem Papier, daß in der „Qroßen Oper“
fünfundzwanzighundert Personen Platz finden
sollen, allein es gehört ein riesiger Optimismus dazu,
auch nur zu glauben, daß täglich die Hälfte nach
jener von dem Verkehrszentrum recht entfernten
Qegend hinauswandern wird. Sehr bedenklich
erscheint die Bezeichnung „Große Oper“. Soll
etwa auch jene „große Oper“ der Meyerbeer und
Qenossen gepflegt werden, die, wie wir meinten,
Richard Wagner doch endgültig erledigt hat.

Wie leichtgläubig waren jene Leute, die
glaubten, von Jahresbeiträgen zu vier Mark eine
neue Oper gründen und unterhalten zu können.
Dieser sogenannte „Qroße Opernverein“ sollte der
Handlanger einer Aktien-Gesellschaft werden, die
ein Richard Wagner-Theater erbauen
will. Es soll auch „gesichert“ sein, wenigstens
las man in den Zeitungen, daß Hermann Qura
seine Hamburger Stellung aufgibt, um Direktor des
Richard Wagner-Theaters zu werden. Ob er der
richtige Mann dafür ist, kann nach seinen recht an-
fechtbaren Experimenten des letzten Sommers in
dem von ihm gepachteten Neuen Königlichen
Operntheater zweifelhaft sein. Die Aufführungen
waren meist nicht die in Aussicht gestellten Muster-
vorstellungen nach Münchener oder gar nach
Bayreuther Art. Regie, Orchester und Chor, sowie
die Besetzung der kleinen Rollen ließen oft zu
wünschen. Die exorbitant hohen Preise standen
jedenfalls in keinem Verhältnis zu dem Qebotenen.
Immerhin hat Herr Qura in diesem Sommer an der-
selben Stelle Qelegenheit, die Scharten des Vor-
jahres auszuwetzen. Wie ich höre, soll er sich
neuerdings bemühen, ohne Anschluß an jene Aktien-
Gesellschaft eine neue Gesellschaft für ein auf
volkstümlicher Qrundlage am Schiffbauerdamm zu
gründendes Richard Wagner-Theater zusammen-
zubringen, während jene Aktien-Gesellschaft mit
Herrn Qregeor, wohl aber vergeblich, in Unter-
handlungen getreten ist. Wir hätten demnach außer
der Qroßen Oper sogar zwei Richard Wagner-
Theater zu erwarten.

Nicht ohne Bedeutung für das Berliner Musik-
leben ist die im alten Belle-Alliance-Theater be-
findliche Volksoper, die Fortsetzung der
Lortzing-Oper. Der Direktor Doktor A 1 f i e r i ver-
steht offenbar weit mehr als sein Vorgänger und
besitzt auch künstlerischen Ehrgeiz. Er nimmt sich
neuer Werke an und hat namentlich durch die Auf-
führung der „Cleopatra“ von August Enna sein In-
stitut zu Ehren gebracht. Wenn es ihm wirklich
gelingt, das durchaus nötige neue Haus zu bauen,
jenen „Großen Opernverein“ zu beleben und seinen
Zwecken dienstbar zu machen, dann erhalten wir
durch ihn vielleicht eine in gewissem Sinne ideale
Volksoper, für die Publikum reichlich vorhanden ist.
An eine Konkurrenz mit den großen alten und neuen
Opernbühnen darf er natürlich nie denken.

Wir können abwarten, was die „Qroße Oper“
und die „Richard Wagner-Theater“ bieten werden.
In der Hauptsache sicher eine Ausschlachtung der
Werke Wagners, die auch bei mangelhafter Aus-
führung ein großes Publikum anlocken. Was fehlt,
was auch das gegen ausländische Komponisten viel

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