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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 52 (Februar 1911)
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Nr. 53 (März 1911)
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Benndorf, Friedrich Kurt: Mystik
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Döblin, Alfred: Der Rosenkavalier
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0428

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Menschen, ist nicht lehrbar, sondern angeboren wie
Poesie und Religion (als die Ehrfurcht vor dem Uner-
forschlichen), und sie hat mit Propagation so wenig
zu tun wie Religion mit Moral. Das mystische Erleben
ist nur mitteilbar — durch die sinnlichanschauliche
Intuition.

Persönlichkeiten mit der seelischen Konstruktion
des Mystikers sind zu jeder Zeit möglich und haben
in allen Jahrhunderten gelebt, im Morgenland und
Abendland, unter Buddhisten, Mohammedanern, Juden,
Christen und „Heiden“. Der Chinese Lao-Tse gehört
eu ihnen wie der Perser Dschelalud-Din-Rumi,
der Neuplatoniker Plotin wie der Pantheist Bruno
und der Romantiker Novalis, der Prediger Eckhart
im dreizehnten Jahrhundert wie der Arzt Parazelsus
im sechszehnten, der Schuhmacher Jakob Böhme
im siebzehnten, der Physiker Fechner im neunzehnten
und der Rechtsanwalt Mombert im zwanzigsten Jahr-
hundert. Besonders häufig traten sie im vierzehnten
Jahrhundert auf, in einer Zeit grober Veräusserlichung
der Kirche. Die bildliche Ausdrucksweise dieser
christlchen Mystiker (Ruisbruch, Tauler, Suso) bewegt
sich ebenso im Rahmen der Scholastik und Mystik des
mittelalterlichen Katholizismus, wie die der heutigen
Mystiker im Rahmen der dogmatisch unbefangenen
„naturalistischen“ modernen Philosophie. Alle Mystiker
sind Träger derseiben Qrundidee, bei deren (mehr oder
weniger dichterischen) Gestaltung sie an typische Vor-
stellungen und Begnffe ihrer Zeit anknüpfen. Ueber
die Jahrhunderte grüssen sie sich zu, und es erscheint
nur wie eine persönlich ungeprägte Harmonisation der-
selben Melodie, wenn ein mystischer Gedanke wie der
des Sufismus, dass „alle Dinge von dem ewig uner-
schaffnen Licht ausfliessen“, nun in Momberts Munde
lautet: „Die hohe Himmlische gebar das Wunder der
Welt I“

*

Während der realistische Dichter dem Geheim-
nis der Einzelerscheinungen des Lebens ins Auge sieht,
treibt es den mystischen Dichter, an dem Geheim-
nis des Lebens als Ganzen zu raten. Jener bringt
naturgemäss allgemeinere und raschere Wirkung hervor,
weil in den von ihm geschaffenen lllusionen des Lebens
sich jeder selbst leicht wiederfindet, dagegen dieser nur
lai'gsarn und auf wenige wirkt, weil es schwer ist, zu
einem Eriebnis der Selbstversenkung (der „Abgeschieden-
heit“, wie die alten Mystiker sagen) hinaufzugelangen.
Dazu kommt, dass die Menge von dem geistigen
Pathos metaphysischer Abstraktionen wie Sein und
Werden, Ich und Welt, Zeit und Ewigkeit, die der
mystische Dichter in seinen Gleichnissen konkretisiert,
nur schwach berührt wird.

*

Zu den wesentlichen Merkmalen mystischer Be-
fähigung gehört die Schau „sub specie aeternitatis',
Der Mystiker hat das Trügerische der Erkenntnisforraen
von Zeit und Raum tief begriffen und versenkt sich
in den Gedanken der Ewigkeit und Unendlichkeit, den
uns die unmittelbare Betrachtung der Welt eingibt. Er
sagt mit dem aiten Heinrich Suso: „Lass dir nimmer
genügen, bis dass du erkriegest in der Zeit das gegen-
wärtige Nun der Ewigkeit“; oder mit Angelus Silesius:
„Du selber machst die Zeit, das Uhrwerk sind die
Sinnen; hemmst du die Unruh nur, so ist die Zeit
von hinnen“; oder mit dem modernen französischen
Symbolisten Albert Samain: „Pense, domine l’äge, et
respire l’Espace“; er bildet mit souveräner Kraft ein
Gleichnis und sagt mit Alfred Mombert:

Es fliesst alles von mir ab wie grosser Regen.
Auch mein eigen Herz fliesst von mir ab,
selbst mein Geist und all meine Weisheit.

Ich bin ein Marmorbild in einem Garten
und blicke auf klare Bäche, auf Blumen.

Das ist Regen, der von mir abflSss,
und zu Blumen ward.

Ich bin im Hochwald, in den Schatten;
um meine Marmorschultern rankt Epheu.

Bis das Feuer in den Wald kommt
und mich entkleidet.

Ich aber singe im Geloh der Flammen
das tiefe Lied von meiner Ewigkeit.
Verstandesmässig ist auch dem Nichtmystiker ein-
leuchtend, dass sich im Kleinsten das Universum
widerspiegelt („Die Sonne blickt hinein in das Weltall
meines Auges“ Mombert) — dass das in unendlich
vielen Abstufungen sich entwickelnde Gesamtbewusstsein
unabreissbar sein muss und dass vom Gesichtspunkt
dieser Unabreissbarkeit das Einzelbewusstsein sich als
ewig fühlen darf (wenn auch nicht im Aberglauben

einer persönlichen Unsterblichkeit); aber intuitiv,
gefühls-schöpferisch, erlebt das Leben als „ewigen
Gedanken“ doch nur der geborne Mystiker. 1hm sind
die Stunden gegönnt, wo das individuelle Fühlen im
Allgefühl völlig aufgeht und alie Zeit eitel Gegenwart
wird — wo ein Verstehen über dem Alltagsverstehen
zu walten scheint, das ohne unser Zutun und Anstren-
gung, wie in Traum und Rausch, mit unfassbarer
Sicherheit gleichsam zu Ende denken lässt, was in ge-
wöhnlicher Stunde unerraffbar bleibt.

Dass für dieses Glück der inneren Entäusse-
rung von Zeit und Raum das Wortsymbol unzu-
länglich ist, deutet Mombert an zwei Stellen seiner
„Schöpfung“ an. „Oeffne keinen Mund. Denn das
Leben ist unsagbar“: „Aus dem’ Qualm der Sprache
kehre ich heim um nie mehr zu sprechen“. Er fühlt
dass die Sprache als eine Funktion des Gemeinschafts-
lebens, nichts über das auszusagen vermag, was aller-
einsamste Erfahrung ist. Schon der alte Mystiker
Jakob Böhme klagte: „Die irdische Zunge kann nicht
erleben, was der Geist begreift und versteht.“ Aber
das Begreifnis des Geistes ist nun einmal an die
„irdische Zunge“ gebunden; die Verwandlung in Sprach-
form gibt ihm erst „Wesen“ (so wie die Körperwelt
dem Chaos erst Wesen gibt); das Erlebnis der eksta-
tischen Erkenntnis will sich mitteilen, aus demselben
Drange heraus, der das Zeitlose nach Zeitlichera, das
Ich nach einem Du begehren lässt, und so bedienen
sich die Mystiker bildlicher Umschreibungen, um mit
der Sprache, die ja vielmehr ein Ausdrucksmittel des
i Verstandes als des Gefühls ist, doch dem Gefühl bei-
zukommen. Aus diesem Gesichtspunkt müssen die
halluzinatorischen und zugleich so realistischen Gebilde
der grossen Dichter beurteilt werden.

Der Rosenkavalier

Eine Vorbemerkung

Der Rosenkavaiier des Herrn Dr. Strauss hat sich
vorgestellt; dies weiss jeder jetzt in den durch Telegraph,
Kabel, Zeitung erreichbaren Territorien der Erde . . .
Ich lasse es dahingestellt, ob die Notiz richtig ist, dass
augenblicklich eine Expedition ausgerüstet wird unter
Führung von Wellmans, um die Nachricht coute que
coute, nötigenfalls mit Waffengewalt unter der Bevölkerung
vom Grönland und an den Quellen des Nils zu verbreiten,
ich zweifle daran, weil man vermutlich auch da schon
alles weiss. Sicherlich aber hat nie ein „Kavalier“ von
Reporters Gnaden solchen ungeheuren Weg gemacht
durch die weltverdeutenden Blätter, dass selbst Herr
Margolin ein betrübter Eckensteher gegen ihn wurde,
dass der Rosenkavalier, unähnlich dem Phosenkavalier,
jedem Verdacht der Hochstapelei entgehen konnte. —
Wir kennen Dr. Strauss seit Jahren gut. Er bedient
das Bedürfnis weiter Kreise nach Musikfortschritt vor-
züglich. Er ist ein Vertreter des Liberalismus in
bester Form, er leistet zwar nichts mehr, aber dafür
schreibt er Opern. Man braucht ihn, jede Zeit hat
den Dr. Strauss, den sie verdient. Früher trat er in
der Literatur unter dem Namen Sudermann auf; in
der Musik ist er weniger gut angreifbar. In früheren
Zeiten waren die Priester berufen, dem Volk einen
Gott zu demonstrieren; das besorgen jetzt die Schor-
nalisten; was sie demonstrieren, ist zwar kein Gott, aber
immerhin Herr Dr. Strauss. Im Vordergrund der
gegenwärtigen Kunstproduktion stehen diejenigen straf-
baren Handlungen und Vergehen, welche mit Musik
konpliziert sind; Vorschub leistet der Snob (auch Vor-
schuss), das ist die zahlungsfähige Versammlung von
Amüsierbengels und Lebemädchen beiderlei Geschlechts.
Andere Produktionen scheinen nach dem Gesetz von
Angebot und Nachfrage wenig mehr aufkommen; sodass
unsere Kunst eigentlich nur noch juristisches Interesse
bietet. Jetzt haust die Pest in Ostasien, bei uns geht
der Rosenkavalier um. Es gilt auch, hygienisch zu
arbeiten.

Ein gewisser Alfred Schattmann führt in das neuste
Elaborat des p. Straurs ein. Diese Einführung ist
ein Unikum; sie ist fraglos interessanter als das Ela-
borat des Dr. Strauss. A. Sch. gehört zu Str.: der
bläst Himmel und Erde aus Seifenschaum, Sch. aber
kann nicht einmal die solide Erde stehen lassen; sie
flfesst ihm als Quarkkäse durch die Finger.

Am Anfang gesteht er: „Hier hat es die Welt er-
lebt, dass R. Str., der Komponist der Salome und
Elektra, eine Komödie für Musik schrieb.“ Schwer
genug ist es der Welt schon geworden; aber schliess-
lich, sie hat schon schlimmeres erlebt. Und dann,
Herr Sch. schreibt über das Opus, das bringt Heiter-
keit in den Ernst der Situation. Er fällt ins Knie und
betet: „dass ihm Humor, Laune, Witz, Ueberschweng-
lichkeit als musikalisches Ausdrucksmittel, also die Ur-
elemente einer innerlich wahren, aus solchen Gründen
— man müsste sagen: mit organischer Notwendigkeit
herausentstehenden komischen Oper wie nur einem im
Blute liegen, hat der Schöpfer des Don Quixote, des
Eulenspiegel und nicht zu vergessen, der Feuersnot ja
doch handgreiflich bewiesen.“ Ich verstehe den Satz
wohl, aber dem Mann ist nicht zu helfen. Wenn er
in solchem Haus wohnen sollte, würde er bei einer
gewissen organischen Notwendigkeit den Weg unfehlbar
verpassen, müsste den Weg vom Wohn- zum Speise-,
und nicht zu vergessen zum Schlafzimmer, man müsste
sagen, aus aus solchen Gründen mit Blaupläne deren
Urelemente ihm wie nur einem im Blute liegen, suchen
und nicht finden. Sven Hedin, den ich wegen des
Satzes befragte, erklärte, soetwas käme weder in China
noch im Tibet vor, Es ist im Satz, gegen den ein
Unterseeboot ein Kinderspiel an Getährlichkeit ist; an
seinem Schluss ist mein Gesicht blauviolett geworden,
mein alter Schnupfen ist sprachlos versiegt, die Zunge
hängt mir meilenweit zum Halse heraus, und ich bin
gemacht, vora Dr. Strauss handgreiflich komponiert zu
werden.

Ich hatte glücklich meine Ferien zugebracht, mich
von dem Schreck zu erholen, als mir folgendes passierte:
„Die andere Seite des Wesens der komischen Oper,
die sie mit der pathetischen gemeinsam hat, die
Steigerung des ersten Empfindens über den Alltag, den
Durchschnitt der ph3istriösen Gefühlswelt hinaus in
höhere Stockwerke intensiven Empfindens, diese aus
inneren Notwendigkeiten der Veranlagung der Personen
im Drama, des Milieus und des dramatischen Prozesses
herausgeborene menschlich höchste Ausdrucksweise
durch Wort und Ton in einem: sind nicht die Salome
und EleKtra vom der ersten bis zur letzten Note ein Aus-
druck solchen Fühlens?“

Na,®ich bestreite, das ich bestreite alles, was mög-
Iicherweise in diesem Satz steht; es ist mir ganz egal,
man braucht sich so etwas keineswegs gefallen zu lassen.
Eine derart herausgeborene menschlich höchste Aus-
drucksweise geht über meine Fassungskraft, sie gehört
in die höheren Stockwerke, wo die Veranlagung anfängt,
über den normalen Alltag hinaus zum Platzen gesteiger
zu werden.

Der Herr Sch. lenkt später ab, ins Gebiet der
Embryologie. Hier bemerkt er, dass der Rosenkavalier
aus inneren Keimen entstanden sei. Schon möglich:
es ist freilich erstaunlich, was die Begeisterung für den
Dr. Strauss für Fortschritte „zeitigt“, es gibt jetzt offen-
bar schon äussere Keime, und was wird es später
noch alles geben, wenn Dr. Strauss Klassiker ge-
worden ist! Die höheren Stockwerke werden sich
bevölkern, die inneren Keime im Oberstübchen werden
über die philiströse Gefühlswelt hinaus fabelhaft
wuchern. — Nur fiel mir eine einschränkende Be-
merkung des p. Sch bezüglich der Keime auf; er meint,
es seien die Keime in Elektra und Salome zwar anders
geartet [als im Rosenkavalier, aber doch unterscheidet sich
der Rosenkavalier, etwas vom Elektra und Salome. Dies
ist meines Erachtens sehr begreiflich, man wird daraus
dem Rosenkavalier kaum einen Vorwurf machen, denn
zwar ist der Rosenkavalier ein Mann, aber dennoch
ist er keine Frau. Und zwar ist Herr Sch. logisch
sehr unorientiert, aber dennoch kann er keinen ver-
nünftigen Satz schreiben.

Ich gehe zur Embryologie des Werkes selbst
über: „Das Buch Hofmannsthals entstand stückweise.“
Schon dies hebt das neue Elaborat de facto weit über
die sonstigen Werke der Mitwelt, denn diese sind
sämtlich sofort ganz fertig gewesen. Der Künstler der
alten Schule vermied krampfhaft irgend etwas Ein-
zelnes zu dichten, zu komponieren, zu malen, in einem
Nu schrieb er sämtliche Seiten auf einmal, dies ist ja
das noch immer ungelöste Rätsel künstlerischer Produktion.
Wie kann Herr Sch. nur vom Hofmannsthal das Gegen-
teil behaupten? Oder schrieb Hofmannsthal zwar
stückweise, aber dennoch nicht im Nu? — „Wie ein
Akt fertig war, ja manchmal auch ehe ein ganzer Akt
fertig war, ging das Manuskript an Strauss, der es
komponierte.“

Mir fehlen Worte der Anerkennung für diese
Arbeitsweise. Das Beste wäre freilich gewesen, Herr

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