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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 46 (Januar 1911)
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Bang, Herman: Honoré de Balzac
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [6]: Ein Volksroman
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Friedlaender, Salomo: Der zarte Riese
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0371

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Die „Menschliche Komödie“ ist die Mutter des
neueren Romans, und alle Schriftsteller Frankreichs
haben um ihr reiches Erbe gekämpft. Flaubert hat
uns Madame Bovary geschenkt und sich der Provinz
bemächtigt, die Balzac ihm erschlossen hat. Dumas
wurde durch die Kameliendame berühmt, die „Comedie
Humaine“ hatte ihm Coralie und Florine gezeigt. Fabre
hat uns „L’abbe Tigrane“ gezeichnet und die Studien
eines der Priestertypen Balzacs dazu verwendet; Belot
und Malot sind Millionäre geworden, indem sie uns
von grossen Verbrechen und grossen Verbrechern er-
zählten — sie haben Vautrin gekannt. Droz hat durch
sein Spiel mit einem Feigenblatt gefallen — er hatle
die Maison Nucingen gelesen. Die Briider Goncourt
haben Eugenie Grandet gelesen und Renee Mauperin
geschrieben. Zola endlich hat die Geselischaft de'
Orldans studiert, wie sie von Balzac gegeben war,
und durch dieses Studium konnte er uns die des
Kaisertums zeichnen, die aus jener hervorgegangen war.

Als Eugenie Grandets Dichter starb, teilten Frank-
reichs Schriftsteller den Roman zwischen sich auf, und
man kann vielleicht keinen grösseren Beweis für sein
Genie finden als den, dass zugleich „Rocambole“ und
„Madame Bovary“ von ihm abstammen.

Aber Honore de Balzac — er, dessen Grösse Goethe
erriet — lebt noch heute, nicht nur in dem Werke
derer, die er beeinflusst hat

Er lebt vor allem in seinem eigenen lebenden Werk
„La Comödie Humaine.“

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XVII

Der Tausch

Der Kaiser schlief in der darauffolgenden Nacht
sehr schlecht; er träumte fortwährend von roten und
gelben Flammen, die gegen den Himmel schlugen und
die Sterne in Verwirrung brachten.

Und des morgens fuhr der Kaiser sofort mit seinem
Gefolge zum Rathaus und setzte den Schildaer Rats-
herrn auseinander, wie sie durch ihren Bedachungs-
plan in gelben und roten Farben bewiesen hätten, dass
sie garnicht so dumm seien, wie sie sich immer an-
steilten — und dass sie wegen dieser fortwährenden
Verstellungskunst nun erst recht strafbar wären

Da w'aren natürlich die Schildaer Ratsherrn sehr
entsetzt; sie glaubten, die Sache mit der Bedachung
ganz vortrefflich gemacht zu haben, und nun zeigte
sich der Kaiser erst recht ungemütlich; Moritz Wiedewitt
war ganz allein auf die Idee der Stadtbedachung
durch seine rot und gelb gestreifte Oberbürgermeister-
kappe gekommen und sehr stolz auf seine Himmels-
uniformierung.

Irtdessen — Herr Wiedewitt liess nicht so schneli
die Flinte ins Korn failen; er sagte den Kaiser ganz
einfach ungefähr folgendes:

„Grandiosität! Dass sie uns für so schrecklich
klug halten, ist ein grausamer Irrtum. Seien Sie mal
ein Jahr Oberbürgermeister von Schilda — dann werden
Sie nicht mehr daran glauben, t.ass die Schildaer sich
blos dumm stellen und dabei sehr klug sind.“

Und der Kaiser sagte darauf ungefähr dieses:

„Gut I So wollen wir unsere Kopfbedeckungen
tauschen — nimm Du die Krone und ich nehme die
gelb und rot gestreifte Kappe.“

Und so geschahs.

Und die Schildaer waren natürlich aus dem
Häuschen.

Der Kaiser aber fuhr bald darauf zum goldenen
Löwen und liess den Herrn Sebastian zu sich kommen.

Und mit dem Herrn Sebastian begab sich Phiiander,
der jetzt den Oberbürgermeister vorstellte, in ein kleines
abgelegenes Zimmer und schloss die Türe hinter sich
zu.

XVIII

Die Getäuschten

Als die beiden Herren nun allein waren, sagte
Philander der Siebente leise:

„Herr Sebastian! Erschrecken Sie nichtl“

Und dabei nahm er den weissen Bart und die
weissen Augenbrauen und die weissen Haupthaare ab.

Herr Sebastian erschrack wirklich. Und als er
hörte, dass er die Kleider mit dem Kaiser tauschen
sollte, erschrack er noch mehr.

Und als Herr Sebastian gar vernahm, dass der
Kaiser willens sei, als Fluglechniker Sebastian durch
die Welt zu reisen und ihn den Flugtechniker als
Oberbürgermeister von Schilda in der Gestalt des
Kaisers Philander von Utopia zurücklassen wollte, da
erschrack der Herr Sebastian am meisten.

Aber die Sache wurde glatt arrangiert, Herr
Sebastion erhielt die schriftlich aufgesetzten Verhaltungs-
massregeln, und Philander der Siebente wanderte eine
halbe Stunde später als Flugtechniker Sebastian zum
Tore von Schilda hinaus.

Die Schildaer ahnten nicht, dass der Kaiser weg
war, und bauten ihre uniformierten Himmel weiter
aus, während Herr Sebastian seinen ersten Bürger-
meistersbefehl in die Welt setzte; dieser Befehl setzte
den Schildaern auseinander, dass sie zunächst darüber
nachzudenken hätten, wie sie ihren uniformierten
Hiinmel nützlich verwerten könnten, und dass sie
natürlich die ganze Dachgeschichte gleich wieder ab-
decken müssten. '

Das verdross die Schildaer natürlich sehr; sie
hatten geglaubt, jetzt ein ganz neues Leben unter
ihren neuen Himmel führen zu können. Herr Wiedewitt,
der sich natürlich schon genau als Kaiser geberdete,
sollte helfend eingreifen lehnte das aber sehr kühl ab
und machte überall Einkäufe und besichtigte den Hof-
zug und erkundigte sich bei den Beamten nach den
Preisen, die in Ulaleipu für Schlachtvieh und Fische
gezahlt werden.

Herr Sebastian wollte währenddem sein Abendbrot
verzehren, bemerkte aber, dass er mit seinem weissen
Bart nicht essen konnte — und musste aufstehen und
hungrig auf sein Zimmer gehen, wo er seine Zer-
velatwurst ohne Bart ass und auf die Narrheit
schimpfte aber so, dass es niemand hörte

XIX

Im Luft-Waggon

Der Herr Sebastian ass nun in des Kaisers rotem
Mantel aber ohne weissen Bart — sehr ärgerlich
seine Zervelatwurst. Und zu derselben Zeit sass der
Kaiser im Luft-Waggon des Herrn Sebastian und ass
Kaviar und warmes Rostbrot, während die drei
Maschinisten die Abfahrtsmanöver leiteten; der Waggon
wurde langsam durch Röhrenfüsse, die sich mechanisch
verlängerten, immer höher gehoben dann bereiteten
sich die beiden sehr beweglichen Flügel aus und
dann begannen hinten die Schraubenräder zu arbeiten —
und das Luftfahrzeug schwebte zu den Wolken empor
und hielt sich anfänglich über der Meeresküste.

Der Führer des Luftwagens, Herr Schlackenborg,
betrat die Veranda, in der der Kaiser Philander sein
Abendbrot verzehrte und dabei durch die grossen
Glasscheiben nach Westen blickte, wo die Sonne im
Meere in grosser Farbenpracht unterging. Herr
Schlackenborg setzte sich dem Kaiser gegenüber und
langte ebenfalls zu; ein längeres Schreiben des Herrn
Sebastian hatte die drei Maschinisten genau informiert -
wie sie sich seinem Freunde gegenüber zu verhalten
hätten Dass dieser Freund der Kaiser selber war,
wussten die Drei nicht, doch dass er ein einflussreicher
Mann und Bartmann genannt werden sollte — das
wussten die drei Maschinisten. Auf ihre Versc'nwiegen-
heit konnte sich der Kaiser verlassen, und Herr
Schlackenborg war ein gebildeter Ingenieur.

„Es wäre nun“, begann Schlackenborg, „mir sehr
erwünscht, wenn ich wissen könnte, wohin die Fahrt
gehen soll“.

„Oh“, versetzte Bartmann, „darüber habe ich noch
garnicht nachgedacht. Fahren wir doch, so lange es
noch hell ist, über dem Meere — und vielleicht landen
wir dann an einem Leuchtturm, wo Ihnen die Lotsen
bekannt sind“.

„Soll geschehen!“ sagte Schlackenborg, gabs weiter
durchs Sprachrohr und entkorkte eine Porterflasche.

Bartmann sah in die Farbenpracht des Sonnen-
unterganges und sagte leise:

„Ich muss Ihnen schon erklären, Herr Schlackenborg,
dass ich ein etwas sonderbarer Mensch bin; ich habe
Jahrzehnte hindurch fernab vom Weltgetriebe wie ein
Einsiedler gelebt und möchte nun das Leben kennen

lernen — oder, wie ich zu sagen pflege, ich möcht
hinter das Leben kommen; ich möchte hinter jedem
Baum und hinter jedem Fels und hinter jedem Sonnen.
untergang — noch mehr sehen — das, was eigentlich
dahinter ist — die eigentlichen Lebensnerven die
Triebfeder — den Mechanismus — Sie verstehen wohl“.

„O ja“, sagte da der Schlackenborg, „das möchte
ich auch wohl — das Uhrwerk in der Natur kennen
lernen — alle Maschinenteile — das ganze Kraft-
arrangement. Es ist mir das eigentlich ganz geläufig,
da ich als Maschinentechniker immer gewohnt bin,

überall die Schrauben aufzuschrauben und in das

Innere zu sehen“.

„Nicht so ganz,“ bemerkte der Bartmann, „ver-
stehen wir uns lch möchte mehr den Duft der
Natur in kondensierter Form —■ als Parfüm aufnehmen
Ich möchte die Quintessenz des Lebenden haben
Aber — darüber sprechen wir wohl noch öfters
Wichtig ist mir auch, hinter die Menschen zu kommen
Auch den Menschen möchte ich unter die Haut sehen
Ich möchte sehen, ob die innerlichen Freuden des

Menschen sehr gross sind — ob die Menschen auch
nicht im Kaiserreich Utopia verlernt haben, ein innerliches
Leben zu führen; das äusserliche Leben ist in Utopia
so bequem und angenehm, dass ich fürchte, das
innerliche Leben könnte zu kurz kommen.“

„Ein bischen viei auf efhmal,“ entgegnete Herr
Schlackenborg, „verzeihen Sie gütigst, dass ich nicht
gleich so foigen kann, -- aber ich werde mir die

grösste Mühe geben, Ihren interessanten Auseinander-
setzungen mir verständliche Seiten abzugewinnen.
Einstweilen muss ich bitten, mich zu entschuldigen
ich muss nach den Maschinen sehen.“

Und er ging, und der Kaiser sass da und starrte
in den Sonnenumergang und in die Farbenpracht des
Meeres, die tief unten flackerte und brannte

Und die Augen des Kaisers sahen die goldenen
Ränder der Wolken und die Glanzlichter in der Tiefe —
und er wollte dahinter kominen — hinter dieses grosse
mächtige schäumende Leben

Fortsetzung folgt

Der zarte Riese

Von Mynona

Es war einmal ein Riese, der vvar so zart, so
zart! Und nun ging er durch die Menschen Wie
sanft nur setzte er seine Schritte, wie sanft. Und
noch mit seinem aliersanftesten zertrat er so viele
nette freundiiche Menschen: Frau Direktor Buller ganz
platt, ganz platt: Herrn Geheimrat Wersch; Herrn
Omnibuskutscher Koppke; so nette Menschen zertrat
vorsichtig der zarte Riese. Da weinte er. Wie
Wolkenbrüche, aber salzig, stürzten seine Thränen auf
gute, liebe Menschennaturen. Die Kinderschule, ja die
Kinderschule kam ins Schwimmen, brach ein, sank.
Der Riese weinte, Mütter schrieen, Versicherungs-
gesellschaften starben Der schmerzlich bewegte Riese
warf sich zu Boden, aber die Erde bebte: London,
Madrid, Zehlendorf und Nowawes fielen zusammen wie
Kartenhäuschen. Gut, gut meine ich es, beteuerte
der zarte, so zarte Riese, und seine reuige Stimme
erzeugte einen soichen Luftdruck, dass achtzig junge
und alte Kellner des Luna-Parkes weggeweht wurden
wie Papierschnitzel. Der Riese stiess einen tiefen
Seufzer aus seiner grameswunden Brust, es expiodierte
davon ein Krematorium nebst vier Friedhöfen, ein
Hagel von Asche und Gebeinen wirbelte durch die
Lebendigen. Und es graute dem Riesen vor sich
selber, als er, von Witwen und Waisen umgraupelt, auf
flachem Felde hingestreckt lag; unter ihm ein Guts-
hof mit einer Meierei, alles voll verröchelnder Tiere
und Menschen. Tötet, o tötet ihr kleinen, feinen Leute
mich, den sanften Mörder eures Glücks, bat der Riese.
Da hatte er gut bitten, sein Wimmern zerpuffte ein
Wöchnerinnenheim, eine Grenadierkaserne, die natürlich
in der Nähe lag, einen regierenden Herrn, der mit
herrlichem Auto daherbrauste und ein paar alternde
Mädchen, die zum Postamt eilten. Aber, lächelte der
Riese, und überirdische Wehmut brach aus seinem
Blick, — aber kann ich Sanfter, der ich nur zu gross
bin, viel zu gross bin um der guten, dieser lieben, so
kleinen, so niedlichen, munteren Leute willen, mich
nicht selber töten? Hallelujah, lallte er ganz leise
aus Furcht, jemanden zu verletzen; Heureka, lächelte

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