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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 16 (Juni 1910)
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [12]: Ueber die Musik
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Silbergleit, Arthur: Der Spiegel
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Lewin, Robert Kosmas: Homunculus: Oder: Wie man grosse Männer züchtet
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0130

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Dinge und Qeschehnisse, die tönen, wie Du selbst
sagtest; und kannst es nicht erzwingen, daß der
Zusammenhang der Tonfolgen nur in ihnen selbst
liege. — Du kennst die Musik unserer jungen Zeit,
Du kennst die Fuge, diesen Verband mehrerer
selbständig sich bewegender Stimmen. Treten die
Stimmen der Fuge zusammen, bewegen sie sich
mit und gegeneinander, so muß ein Qedächtnis lahm
sein, das nicht eines Kampfes gedenkt, oder eines
Tanzes, eines wilden Qegeneinanders, eines be-
sänftigten Miteinanders. Kaum könnte ich ein
besseres Gleichnis für die Freiheit des Willens fin-
den als diese Fuge, mit ihrem Schein der Selbst-
ständigkeit in Stimme gegen Stimme, mit ihrem
Qetriebenwerden und Folgerichtigkeit: der Weg
ist jeder vorgeschrieben, und doch geht jede
eigenwillig. — Noch mehr: als einer Voraussetzung
mußt Du der Wirklichkeit Wert für die Musik zu-
schreiben. Denn wenn jene ersten oder frühen
Tonfolgen haften, so haften sie um ihrer Bedeutung
willen für den lebenden Qedächtnisträger; jene Be-
ziehung nämlich, die sie zu gliedhaften macht, ist
der Frlebnis- und Ergriffenheit wertende Zweck.
Diese Wirklichkeitsbeziehung bildet also die Vor-
aussetzung jedes Haftens der Tonfolgen; die Wirk-
lichkeitsspuren sind so wenig eine Beute, ein
Fremdes, Angeheftetes einer eigenschönen Musik,
daß keine Musik vielmehr ohne sie bestände. —
Aber ist dann noch in der Tat die Musik der Wie-
derholung, der Abänderung, der überlieferten For-
meln eigenschön? Es wiirde mir schon unglaub-
haft darum erscheinen. weil Du damit eine Raub-
schönheit anerkennst; ich müßte dann an zwei
Schönheitsarten glauben, die sich wesentlich un-
terscheiden; aber daß es zweierlei Schönes gebe,
glaube ich nicht, denn es ist derselbe und der eine
Mensch, dessen Schönheitsarten dies sein sollten.

Der Begriff Schönheit ist einer, und Deine
Scheidung macht ihn zunichte. Wie sehr aber die
Ordnung oder Schönheit der Musik und der Wirk-
lichkeit. dle Eigenschöne und Raubschöne, einer-
lei sind, wie tief die Musik die Wirklichkeiten
durchdringen muß und eben dadurch zu größerer
und größter Ordnung und Schönheit gelangt, will
ich Dir, wenn wir vieles iiberschauen können,
zefgen. Vergiß Du nur nicht, Kalypso, Deinen
Satz, den ich nicht vergessen konnte: es sind die
Dingp. die tönen: was bedeutet das Tönen der
Dinge?

Der Satz: die Wiederkehr eines Vorgangs läßt
den Vorgang als in sich zusammenhängend er-
scheinen, herrscht. Ich ließ eben eine willkfirliche
Tonfolge auftreten, die der Musiker selbst setzt,
deren eigene Wiederkehr dann ordnend wirkt. Die
Wirklichkeit bietet nun vieles Tönende oder Ton-
ähnliche. dessen Uebereinstimmung, mit vorge-
formten Tonfolgen diese ordnet. AIso zweierlei
Ordnungsweisen. die zwischen Tonfolge und Ton-
fnlge. und die zwischen TonfoJge und Tonhaftem
der Wirklichkeit. Tch spreche nicht von
einer Nachahmung dieser tonhaften Erscheinungen
der Wirklichkeit: da mich die Tätigkeit des Er-
zeugers jetzt nicht beschäftigt, sondern nur die Tat-
sache der Musik, so rede ich von Wiederkehr,
Uebereinstimmung, Qleichheit und Aehnlichkeit der
Tonfolgen. Wie nun musikalische Tonfolgen zu be-
greiflichen Qebilden werden können, wenn sie mit
den Qesängen der Vögel. dem Sausen des Meeres.
dem Tropfen des Wassers und sonstigen Tönen der
Wirklichkeit fibereinstimmen, branche ich nicht er-
klären. Anch die menschliche Stimme, ihr Tönen
in der Sprache. im Weinen, Klagen, Lachen gehört
zu diesen Erscheinungen der Natur. Wohl aber
dürfte Dlr unklar sein. was ich mit dem Tonhaften
in der Natur meine. Die Ereignisse der Welt haben
das Qemeinsame mit den Tönen, daß sie zeitlich
verlaufen: in den Schnelligkeitsunterschieden. im
Wechsel der Beschleunigung der Töne, in ihrem
Stocken. gleichmäßigen Verharren, Jagen, hastigen
Rennen, gemessenen Schreiten werden zahllose
Zusammenhangsmöglichkeiten gegeben. Sieh. Du
wiesest mir. daß dle Erscheinuneen der Welt wnn-
derbar verschwistert seien: das Tönen hänet nicht
wie ein fadenscheinlger Mantel fiber den Dingen:
fein und streng beeleitet es ihr Leben. ia. enthüllt
tief Verboreenes. So wird es mir beereiflich. daß
auch das Nichttönende. die Höhe und Tiefe des
I?aums. die Schneiiigkeit imd Art von Beweeungen,
Oesichtsausdrücke, die kfelligkeiten. die Oerfiche.
Seelenerregungen und Qedanken dem Menschen
leicht tonhaft erscheinen, daß er sich berechtigt
wähnt, Uebereinstimmungen zwischen Tonfolgen

und Tonlosen zu sehen. Wie diese wunderbare Be-
ziehung sich herstellt, läßt die Betrachtung der
einzelnen Wirksamkeiten der Tonfolgen erkennen.
Tonhöhe: das Wort sagt schon viel über die Stell-
vertretung eines Raumverhältnisses durch Töne,
über den Wert der Töne als Raumgleichnisse.
Andere Sprachen sagen statt Höhe das Schwere,
Stumpfe, Spitze, Harte. Man erfaßt anscheinend
gar nicht das Eigentümliche des so Bezeichneten;
jene Verbindung der Töne, die Du bezeichnetest, mit
andern Vorgängen der Wirklichkeit ist so eng, daß
an keine Lösung gedacht wird. Der Mensch denkt
rasch und kurz; er hält Beispiele als Regeln fest,
ist ganz ohne Tiefe. Viel Widersinn und Wider-
sprüchliches findet sich hier. — Die tiefen Töne,
sich oft findend bel furchtbaren Wesen und Er-
eignissen, haben vielfach Qemeinsames mit
Kraft, Gewalt und Grauen. — Auch für das Dunkle
treten tiefe Töne ein, für das Plumpe, Schwere;
und so hohe für Lichtes, Leichtes, Zartes, auch für
Schwaches, Verächtliches; Du findest selbst: war-
um, und lächelst. Tonstärke: auch dieses Bild
spricht für sich. Das Laute und Lelse: Iaut
spricht der Starke, leise der Schwache. Es ist wie
ein Märchen, so kindlich einfach und iiberdeutlich.
Und noch oft wirst Du diese rührende Denkweise
finden, diese engelhafte Ahnungslosigkeit, dieses
bedenkenlose Arbeiten mit dem Einmaleins und Bil-
derbuch. Aber reiche Zusammenhangsmöglichkei-
ten gibt diese ärmliche Oleichung. Das Anschwel-
len von leise zu laut, das verschwindend Leise, das
Qegenüber der Stärken und anderes erhält mannig-
fache, wenn auch fast nie eindeutige Ordnungs-
werte, empfängt musikalischen Sinn. Die Aus-
einanderbindung der abfolgenden Töne, die
Tatsache, daß die Töne bald gegeneinander
kurz abgesetzt, bald gebunden sind, daß ihre
Höhen bald näher, bald ferner aneinander liegen,
gibt Gleichniswerte in großer Zahl; gern werden
die Töne selbst wie bewegte Menschen angesehen,
denn der Mensch ist sich das bekannteste und wich-
tigste Qleichnis. Die Abgesetzten hflpfen, springen,
die gebundenen schweben, tanzen, schleifen: oder
der sich abschließende Trotz, die bestimmte Härte
und die Sanftheit mit ihrer willigen Anschlußnei-
gung bilden die Wirklichkeitsgruppe. Du erläßt es
mir, alle die vielen Zusammenhangsmögüchkeiten,
die sich aus den Bestimmtheiten der mnsikaüschen
Tonfolgen ergeben, abzuwandeln.

K a I y p s o :

Ich will Dir nicht widersprechen. Du sprachst
nur mit einem Wort von den Menschenstimmen.
Die Musik ist eine Menschenkunst; wie den Maler
das Qesicht, so fesselt den Musiker dle Stimme,
denn sie bietet so feine und viele Zusammenhangs-
werte. wie Du es nennst. Verständlicher ist dem
Menschen seine Stimme. als irgend ein anderes
Tönen. deucht mich. Viele Seelenbewegungen
haben ja eine enge Beziehung zu der Stimme, ja.
wir erröten bisweilen nicht ohne Qrund. wenn wir
uns sprechen hören. und ich darf wohl an den
Eigenton der Stoffe denken, wenn die Stimmen der
Lebendigen schwingen. Es ist kein Zufall, wenn
iener Nerv, wle mir ein Kundiger sagte. der Nerv.
der das Herz. die L'unge und Eingeweide lenkt und
steuert. der Herumschweifer, auch Stimmnerv ist;
eng nimmt die Stimme an unserm Innersten teil:
wohl sind dle beiden aneinandergekoppelt: Stimm-
organ und Stimmungsorgan. Doch nicht die
Worte wurzeln in dieser Stimme, sondern ihr Ton,
wie auch das Schluchzen. Jubeln. Stöhnen, das
wortlos und hinter den Worten verläuft und uner-
reichbar dem Worte erstaunlich tief redet. Die
Musik aber ringt nicht nach Sprache; die
Deutlichkeit der Worte ist der Musik ein zu ärm-
liches Ziel, der furchtbaren ffirstlichen Kunst.

Der Spiegel

Von Arthur Silberg-Ielt

Als wäre die Kühle des Mondes auf seiner
Fläche gefroren, so geronnen starrt und stlcht sein
gläserner Glanz ins Dunkel. Wie eln heißes
Frauenlächeln seine stählerne bingeschmiedete
Ruhe und den Frost seiner Kälte zu schmelzen,
aufzutauen sucht; wie die goldenen Reigentänze
dämmerungewisser, hin- und herflackernder Kerzen
diese silberne Bflhne zum Theater ihrer Wlrbel,
Taumel und Abenteuer wählen! Wollen sie ieden

Jenseitsgedanken von ihm bannen und den Reger
bogenglanz, der als himmiische Erinnerung an d! 1
Wohnung der Mondbraut auf der Siebenfarbef
brflcke aus dem verschämten Winkel eines g (
schliffenen Eckchens lugt? Schon überschimmel*
diese letzte himmlische Heimlichkeit die bunterd
Maskenzüge des Irdischen, und aus tausend GärtJ
mit den Launen krauser Blütenformen, mit der hi#
perlenden Fontänemusik zu den Festen der Sinnlid 1,
keit und dem Taumel lichttrunkener, gläsern«*
Sonnen und Kugeln auf steilen Lanzen grüßen atf
Gestalten in die flimmernde Bühne herein. W?
gelöst aus den strengen Verstrickungen ein«'
Teppichs offenbaren sie hier ihre beziehungsreicP 1
Bildlichkeit: Pierrot seinen, breitgebauschten Uebef'
mut bei der schmalen Melodik einer Mandoline, di 1
Tänzerin mit dem spangenversklavten Haar di !
freie Anmut ihrer Linien, Don Juan sein lustgf'
beiztes Qenießerlächeln hinter der kaum verhaltenäf
Bitterkeit eremitenhaft strenger Mundwinkel, d« (
Tod, der letzte Barkenführer in dem Venedig unserf 1
Wehmut, seinen ersten Lenkerblick, und die B^
jadare die Kreise tausendjähriger Weisheit, am End 1
getanzt in runden Ringen und Ringeln. Scho 11
schicken die Tempel leiser Lust und die Manegejj
der Leidenschaft aus ihren Heiligtümern ur
Zwingern jene Zwitterwesen von Engeln, Mensche 11
und Tieren aus, die ihre innere Rissigkeit über di (
glatten Flächen lächelnd hinüberführen. Zuweile 11
haucht alle Einprägsamkeiten dieser blinkende 1*
Bühne und allen Abglanz von Tat und Traum de (
knospenzarte Atem eines Kindes fort. Hier sucheC
die jungen Mädchen unbefangen die Landschafte 11
ihrer Seele und die eingesogenen Bilder längst Vef'
gangener, Unvergessener. Manche aber ahnef
nicht, daß diese blitzende Fläche bereits alle LebenS'
tänze gespiegelt hat und sind in Staunen befangei 1'
wenn sie ihre schmale Schmiegsamkeit baP
schmäler, baid stärker gerundet heraustreten sehei 1'
Eine alte, kaum verzitterte Müdigkeit der Oo'
wesenen kränkelt nicht selten die Werdenden an ;
heitere, junge Augen verschattet oft der Flor greise (
Blicke, und wie ein gemaltes Echo aus imme (
tieferen Tiefen rätselt unter den Zflgen des HeuK
das Antlitz von Qestern auf, geistern immer neußi
traumhafte Qesichter und Qesichte, und zu deü
Märchen tauklingender Lenze stimmen die Maskei 1
verwchter Wir.ter tcrlcse, frostige Klänge an
Himmel und Erde haben sich sacht auf dieser glattefl
Ebene gesammelt: die helläugige Liebe der Kinder»
der Tälerengel, und die letzte Heimweherinnerunfj
an Madonnas Regenbogenbrücke; die Träume unO
Tänze aller Alter, gehoben aus den starren Versem
kungen der Zeit; die tiefe Stille der Dunkelheit un<>
die goldenen Chöre des Lichtes. gesegnet von dei>
sieben Leuchtern der Tage; die unschuldigen Tränef
der Mädchen und das vielwissende Lächeln def
Frauen; und die Qegenspieler von Schlaf um
Schlacht, Traum und Tod zwingen wortlos mi (
schon gleichem Antlitz zu einem alles ebnendeü'
glättenden Wunder. Bis die Nacht vor alle Maskei 1
den Schattenvorhang zieht und der Mond seinei*
goldenen Epilog über die silberne Bflhne spricht.

Homunculus

Oder:

Wie man grosse Männer züchtet

Von Robert Lewln

Aus den Laboratorien kommt uns große Kunde!
Seit Jahrhunderten haben Leute, die wir für tiefe
Denker hielten, sich abgemüht, uns zu erklären, was
ein großer Mann sei. Die einen bewunderten iu
Napoleon, dem Manne der Tat, das Qenie, die
anderen erblickten in Hamlet, dem blässlicheii
Zögerer, das Qroße. Was das Wesen des großeU
Mannes ausmache, darüber herrschte, wie es
scheint, völlige Unklarheit. Der alte Qoethe muß
wohi in den Augen eines modernen „Energetikers“
ganz abstruse Ideen darüber gehabt haben: „Abef
freilich eine Erscheinung wie Mozart bleibt immef
ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist. Doch
wie wollte die Qottheit überall Wunder zu tun Qe-
legenheit finden, wenn sie es nicht zuweilen id
außerordentlichen Individuen versuchte, die wif
anstaunen, und nicht begreifen, woher sie
kommen!“ Das sind nicht poetische Floskeln, Herf
Ostwald, die der alte Qoethe dem Eckermann sagt»
sondern wirklich ernstgemeinte Worte.

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