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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 43 (Dezember 1910)
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Jacob, Heinrich Eduard: Die Sommernacht
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Hiller, Kurt: Der Eth
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Unger, Erich Walther: Die Gehemmten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0349

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mittags wiedererkannt zu werden von suchenden Augen!
O Du süsses, dich entfernendes Rauschen . . .

Leise pfeifend kommt der Pförtner durch das leere
Foyer und schliesst das Portal. Es dunkelt tiefer.

Die Bogenlampen werden matter und verlöschen
ganz. Die Qärten hüllen sich wieder in schwarzblaues
Geheimnis.

Die Grillen singen. Die Blumen duften. Die
Sterne scheinen.

Der Eth

Von Kurt Hiller

Wie vom Aesthetiker bekanntlich der Aesthet, so
ist vom Ethiker der Eth zu unterscheiden. Der Aesthe-
tiker ist ein Mann, welcher die Wissenschaft Aesthetik
betreibt (er pflegt dabei sehr geschmacklos zu sein);
der Aesthet ist jemand, der in das Zentrum seines
Daseins die stets wache Absicht eines sublimen, un-
aufgeregten Geniessens gestellt hat. Der Ethiker übt
die Wissenschaft Ethik aus — o, wenn es doch eine
gäbe! — und bleibt wer er ist, auch wenn er tägüch
handelt wie sieben Schufte; der Eth weiss eventuell
nichts von Imperativen, Kriterien, Formalprinzipien, lebt
und webt aber in jedem Augenblick seiner Bewusstheit
für eine Idee; kämpft, leidet, blutet; regt sich auf,
macht sich gemein.

Der Aesthet und der Eth bilden miteinander eine
Kultur-Antinomie, Sind zwei interessante Gegensatz-
typen innerhalb der diskutablen Menschheit letzter
Läufte. (Schriebe ich unter dem Symbol der Brille, so
müsste ich sagen: diese beiden Typen sind von der
allergrössten charakterologischen Bedeutung.)

Nun, Kleiner, versuche mal, die Antinomie zu lösen.
Schwierig. Denn: den Aestheten tadeln, wegen seiner
Blasiertheit, Unproduktivität, Quietistik, das heisst be-
reits, sich vorneweg auf den Standpunkt des Ethen
stellen; und: den Ethen veräpfeln, weil er anfechtbare
Gebärden macht, durch Idealismus in seiner Genuss-
fähigkeit beschränkt ist und mit dem Lärm seiner
allerhand Proteste die vornehme Ironie der Geruhig-
Versatilen naiv stört — das ist schon die Antizipation
der Aesthetenansicht. Aber weiter: sogar der Wille, die
Antinomie überhaupt zu lösen, ist Ethentum; denn der
Aesthet ist gegen Problematik, Analysen, Denktätigkeit;
wie alle Aufregungen, verachtet er auch die intellektualen;
ob irgendwer recht oder unrecht habe, lässt ihn kalt;
wenn man ihm eine Antinomie präsentiert, äussert er
zart: „Nu wenn schon!“ und zieht es vor, mit spitzen
Fingern (unter importantem Lächeln) in den wirklich gut
besorgten Memoiren der Marquise d’Y. zu blättern.
Wiederum: Versuche einer Wertvergleichung beider

Typen von vornherein als kindlich, pedantisch, lächerlich
abzulehnen („Wertung? — Ueberwundener Standpunkt,
mein Lieber!“), ist natürlich dogmatischer Aesthetismus.

Die Sache ist ganz trostlos. Entscheide ich mich
für A, ist es falsch; entscheide ich mich fiir E, ist es
falsch; und nicht nur das: entscheide ich mich iiber-
haupt, ist es falsch; und entscheide ich mich iiberhaupt
nicht, ist es auch falsch. Der Fall ist von nieder-
schmetternder Verzwicktheit. Ich habe arg zu leiden
darunter. Meine Freunde lachen mich aus: das wären
doch alles nur Begriffe, und der Hasenbraten schmeckte
mir doch ganz gut dabei, und ich sollte nicht so
albern sein und mich derartig ins Imaginäre einspinnen,
vielmehr zur Natiirlichkeit zuriickkehren. Aber das
Auslachen niitzt nichts, ich komme iiber die Geschichte
nicht hinweg. Freilich sind es „Begriffe“, aber Be-
griffe sind Abkiirzungen des täglich qualvoll Erlebbaren.

lch kenne einen Litteraten, der hat es gut. Wenn
einer vor ihm enthusiastisch wird, schaltet er die Mund-
winkel um, bläst mit Superiorität den Zigarettenrauch
von sich und ejakuliert irgend ein saloppes Aperqu im
Jargon der Dandysten; legt aber einer in seiner Gegen-
wart augurale Pointen auf den Tisch, so runzelt er
die Brauen, zitiert Natorp und bemerkt empört, es
gebe gewisse Leute, deren Beruf es sei, Paradoxe zu
machen. Dieser Litterat, der gegen den Elan die
Skepsis und gegen den Esprit die Moral ausspielt, ist
vollkommen beneidenswert; er erfreut sich einer so
heroischen Gewissenhaftigkeit, dass er es sogar über
sich gewinnt, bei passender Gelegenheit übertrieben
gewissenhaft zu sein. Zu s e i n; nicht etwa zu scheinen;
denn niemals posiert er, alles ist jedesmal echt. Sein

immenses Bedürfnis, sich Ueberlegenheitsgefühle zu ver-
schaffen, agiert nur in seinem Unterbewusstsein; ins
Oberbewusstsein strahlt es sich aus als Cancan
variierender Ueberzeugungen.

Dieser Litterat, der es leugnet, ein Aesthet zu sein
und es in so hohem Grade ist, dass er sogar zuweilen
Eth ist, imponiert mir unsagbar und ist mir masslos
widerlich. Aber ich habe gar kein Recht, ihn masslos
widerlich zu finden: denn erstens kann ich nichts zu
seiner Widerlegung sagen, und zweitens ist es bereits
Ethentum und mithin Dogmatismus, überhaupt ein
Phänomen widerlich zu finden, etwas minus zu be-
werten. Jedoch — o Unheil! — mir aus sittlichen
Erwägungen das gute Menschenrecht streitig zu machen,
irgend wen oder was masslos widerlich zu finden — ist
das nicht Ethentum reinsten Wassers?! Ich halte es
nicht mehr aus. Andauernd schliessen sich circuü.
Ich platze. Was nützt mir meine prophetische Ahnung,
mein Historiker-Riecher, dass die Zeit, wo Aesthetismus,
kultivierte Indifferenz, witzige Passivität fashionable
waren, sehr bald vorbei sein wird, und dass der Eth,
der Wollende, Gesinnungsvolle, Kämpfende, dass Politik,
Begeisterung und Tendenzdramen wieder in Mode
kommen werden? Diese Mutmassung, und wäre sie
selbst eine Erkenntnis, frommt mir Platzendem wenig;
denn das, was sein wird, ist ja nicht identisch mit
dem, was sein soll. Und so muss ich denn wehrlos
und untätig mir mitansehen, wie ich der Selbstver-
nichtung anheimfalle: ich, ein Eth wider Willen, und
nicht einmal wider Willen.

Die Qehemmten

Von Erich Unger

Erste Szene

Berlin Strasse am Nordhafen Abend

Harry (dreiundzwanzig Jahre) und Leo (vierundzwanzig
Jahre), zwei Leute, wie sie der Autor braucht.

Harry: Ich werde Dir Deinen erotischen Lebenslauf
voraussagen. Nach zehn Jahren wirst Du zu
mir kommen und mir sagen, dass Du ein
Ladenmädchen angesprochen hast, sie sei aber
leider verabredet gewesen. — Nach weiteren
sieben Jahren wirst Du zu mir kommen mit
der Mitteilung, dass Du in der Elektrischen
ein Weib gesehen hast, die Dir nicht un-
geeignet erscheine, mit ihr zu verkehren. —
Schliesslich wirst Du noch einmal im Alter von
zweiundachtzig Jahren mir sagen, dass Du
ein Ladenmädchen angesprochen hast und
I)u seist der Ansicht, es sei nicht ausgeschlos-
sen, dass daraus ein Verkehr sich ergeben
könne. Aus diesen Deinen drei Mutmassungen
wird Dein Liebesleben bestehen.

Leo: Es wird kommen, wie Du gesagt hast. Im
Alter von zweiundachtzig Jahren werde ich
ein Ladenmädchen ansprechen und Dir sagen,
ich sei der Ansicht, es sei nicht ausgeschlos-
sen, dass daraus ein Verkehr sich ergeben
könne. Dies aber ist der Fluch, der auf
unserem Geschlechte lastet: Dir wird es eben-
so ergehen. Auch Du wirst nie zu einer Ver-
einigung mit einem Weibe kommen. Und
dies: nicht, da die Natur uns einen soma-
tischen Mangel anhing, sondern weil unser
ans Staunen gewöhnter Geist unfähig ist, die
sexuellen Phänomene in ihrer Einfachheit zu
begreifen. Unser Geist sträubt sich mit aller
Macht dagegen, simpel von der Sexualität zu
denken, und so bringen wir es nicht einmal
über uns, ein Ladenmädchen anszuprechen.

Harry: Das müssen wir aber über uns bringen und
zwar heute noch. Sonst erfüllt sich Deine
grässliche Prophezeiung. Nachher werden wir
eine ansprechen, auch wenn uns diese Tat
so ungeheuer erscheint, dass Mitteleuropa da-
von erzittert.

Leo entschlossen: Jawohl, ansprechen, überreden
und sich zum Verhältnis machen!

Harry: Wir werden doch noch unseren freien Willen
haben!

Leo: Nimm Dich in Acht vor unserem freien Willen.
Wer kann wissen, was unser freier Wille
vorhat.

Harry: Das ist der Punkt. Es kann eine unglaub-
liche Phantasmagorie der Seele vorüegen.
Es kann sein, dass unser wirklicher, unterster,
tiefster Wille sich unserem Bewusstsein ent-
zieht, dass wir ihn nicht wahrnehmen, und
was wir für unseren Willen halten, sind viel-
leicht fälschliche Auslegungen, völlig ver-
schleierte und verzerrte Bilder unseres wirk-
lichen Willens. Welch eine Vermessenheit
war es, die Selbstbeobachtung als etwas
Sichereres hinzustellen als die Beobachtung
der äusseren Welt Als gäbe es hier weniger
Abgründe und neblige Rätsel! Wer känn
wissen, was unser Wille will.

Leo: Ja, ich will aber doch ein Ladenmädchen
ansprechen. Möge mein Unterbewusstsein
wollen, was es will. Was ich nicht weiss,
macht mich nicht heiss.

Harry: Recht sprachst Du! Auf denn une lasset uns
unser Unterbewusstsein desavouieren. Wir
wollen eine ansprechen!

Zweite Szene

Reinickendorf

Gegeniiber ein Warenhaus, das die Verkäuferinnen
verlassen.

Harry betreten: Ist denn hier überhaupt Gelegenheit,
eine Bekanntschaft zu machen?

Leo: Tief aufstöhnend: Leider — — ja.

Harry betreten: Leo, denke daran, dass der Versuch,
gehemmte Sexualität freizugeben, sich in
Angst umsetzt.

Leo betreten: Jawohl, jawohl — aber, wenn wir
sie unterdrücken, so ist sie nicht das Zeichen
unseres wirklichen Willens.

Harry geängstigt: Sieh mal — die dort — mit den
rosa Blumen — ist die nicht hübsch?

Leo geängstigt: —■ die? — die? — nein, sie ist
zu dünn.

Harry mit verzweifelter Brutalität gegen sich selbst:
Zu dünn, Leo?! — abzüglich unseres Unter-
bewusstseins auch zu dünn?!

Leo: Erschreckt: Abgesehen von unserem Unter-
bewusstsein — ist sie zu dünn.

Sie atmen beide masslos erleichtert auf.

Dritte Szene

Humboldthain

Sie haben ein Mädchen angesprochen, das zwischen
ihnen geht.

Harry: Fräulein, wie oft kommen Sie denn um neun
Uhr raus?

Das Mädchen: Einmal in der Woche.

Leo: Gehen Sie da öfter durch den Humboldthain?

Das Mädchen: Nö.

Leo: Sie haben aber einen schönen Schirm, wo
haben Sie denn den gekauft?

Das Mädchen: Das weiss ich nicht mehr genau.

Leo: Ich rede wohl dummes Zeug, Fräulein, was?I

Das Mädchen aufrichtig, etwas in Leo verliebt:
Och nein!

Harry zu Leo: Das kommt daher, lieber Leo, dass
Du Dich auf der Ebene der Tatsächlichkeiten,
der Fakten, eben nicht bewegen kannst.

Leo: Ja, natürlich — ich bin hoffentlich das Gegen-
teil von einem „wissenschaftlichen“ Menschen,
von einem Händler mit alten Tatsachen, dessen
Optik nur auf Gegenstücke der Sinne ein-
gestellt ist.

Harry: Nebenbei, lieber Leo, ist mir neulich einge-
fallen, dass der Gegentypus dieser wissen-
schaftlichen Faktenanbeter, nämlich die Aesthe-
ten, die das Wahrheitssammeln verachten
und die Schönheit zu lieben vorgeben — dass
also die Aestheten den Tatsachenmenschen
nichts, aber auch garnichts vorzuwerfen haben,
keinen Grund haben, über sie die Nase zu
rümpfen — und warum? Weil beide ein
und desselben Geistes Kinder sind. Bedenke

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