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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 23 (August 1910)
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Scheerbart, Paul: Der Todesrausch: Eine Mückenphantasie
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Larsen, Werner P.: Drei Stunden
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Pudor, Heinrich: Gesicht und Maske
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [17]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0186

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„Sterb'en! Sterben ist dodt dasi Süjßeste im
Leben! Sterben woilen wir jetzt! Sterben!“

Und alle Mücken schrieen das der Zippa nach.

Mit seligem Oelächter flogen sie gegen den
heißen Zylinder, und bald lagen alle zappelnd neben
dem Abendbrot des alten Mannes.

Der wollte die Sterbenden schnell töten, damit
sie nicht so lange zu leiden hätten.

Aber Zippa rief lachend, während sie sich ihre
verbrannten Flügel abscheuerte:

„Laß sein! Wir sterben ja so gern! Das Sterben
ist ja so schön!“

'Und die sämtlichen sterbenden Mücken Schrieen
es wieder der Zippa nach.

Und alles ladite — und — starb.

"Der alte Mann aß weiter.

Er hätte Hunger.

Drei Stunden

Von Werner Peter Larsen

„Ich komme nicht,“ sagte sie um zwei. Eine
Pastorstochter mit glattem Scheitel.

„Warum nicht?“

,‘,Es ist Sünde . . .“

„So.“

Schweigen. —_

„Das heißt, ich kann ja auch kommen. Aber Sie
dürfen mich nicht küsseni“

„Gut.“

„Wirklich nicht?“

„Wirklich nicht!“

„Dann komme ich.“

* Es schlug zwei. Sie hatte Eile uhd ging. Um
vier wollte sie kommen.

Um drei traf ich sie, sie kam vom Bade. Ich
wich ihr aus, ich sah sle erröten.

Um vier kam sie. Setzte sich in die Ecke und
schwieg. Schlug die Augen nieder. War verlegen.

„Da ist die Fußbank,“ sagte ich. „Man sitzt
besser so. Eine schöne Erfindung — Fußbänke.“
„Ja,“ sagte sie. „Eine schöne Erfindüng. Ich
danke.“

Sie hob den Fuß, raffte das Kleid. Sie hatte
frische Unterklcider an, frisch wie Schnee.

Um halb fünf wurde sie müde. Qanz plötzlich.
Sie mhßte ein wenig ruhen. Ein ganz wenig nur.

Es würde doch auch niemand kommen ? Qewiß
würde niemand kommen. Wer sollte da kommen?
yBestimmt nicht?“

„Bestimmt nicht.“

So machte sie sich’s bequem.

' Um fünf-

Aber das ist schon Nebensache.

Gesicht und Maske

Von Heinrich Pudor

Das Gesicht, losgelöst vom Hinterkopf und
Oehirn, steilt den Affekt an sich dar. Die Senti-
riients et Passions entstehen nicht im Qesicht, aber
sie sprechen sich hier am vollkommensten aus.
Alles, was wir fühlen und empfinden, was unser
BlUt treibt und erhitzt, und den Herzschlag be-
schleunigt, spiegelt sich hier, und wird in den
tausend und abertausend Zügen des Gesichtes
wiedergestrahlt. Wir können uns beherrsChen und
Empfindungen verbergen, indem wir unser Gesicht
in die gewohnte Form und in den gewohnten Aus-
druck zwingen. Aber selbst in diesem Fall nimmt
es eben diesen Ausdruck der niedergezwungenen
Empfindung an. Und je nach dem Temperament
und der Lebhäftigkeit und dem Reichtum des Emp-
findens wird das Gesicht zu einem Meer der Emp-
findungswellen. Nichts ist schneller als das Denken
und das Empfinden, aber ihnen folgt der Gesichts-
ausdruck, als ihr Niederschlag. Besonders bei
leidenschaftlichen Menschen, die nie die Kunst des
Gesichtskomödienspiels gelernt haben.

Vornehmlich im Auge spiegelt sich die leiseste
Gefühlserregung wieder. Der Augapfel verändert
sich nicht, aber der Blick, die Richtung des Blickes,
das Feuer und die Strahlüngsfähigkeit des Auges,
vor ällem aber die Stellung und die Bewegung der

Gespräche mit Kalypso

Lider, Von ’denen wesentlich' der Ausdruck des
Auges abhängt. Durch die Wimpern wird der
Ausdrucksreichtum der Lider ins Unermessene ge-
steigert.

"Und neben dem Auge ist der Mund der ge-
treuste Spiegel der Gefühle und zugleich das
wesentlichste Mittel des Empfindungsausdruckes.
Den Lidern entsprechen die Lippen, dem Augapfel
die Zähne. Sie bleiben sich gleich, aber je nach
der Empfindung öffnet oder schließt sich der Mund.
Vielleicht sind die Lippen durch den Bau ihrer
Weichteile eines noch lebhafteren und reicheren
Ausdruckes fähig, als die Lider. Die Mundwinkel
häben eine weit größere BewegliChkeit, als die
äußeren Augenwinkel, und dadurch begleiten uhd
verstärken sie den Ausdruck des Mundes.

Zwischen Auge und Mund bildet ein weiteres
wichtiges Ausjdrucksmittel der Empfindung die
Nase. Den Lidern und den Lippen entsprechen
die Nasenflügel, während die Nase selbst in gleicher
Weise wie Zähne und Augapfel unveränderlich
bleibt. Bei phlegmatisc'hen Naturen Sind allerdings
die Nasenflügel fast starr und erwachen nur im
stärksten Affekt zu Leben. Bei leidenschaftlichen,
heftigen urid feurigen Naturen sind dagegen die
NasenTlügel an dem Ausdruck stark beteiligt und
vermögen in ähnlicher Weise sich zu öffnen und
zusammenzuziehen, SiCh zu heben und zu krampfen
wie die Lippen. Das Volk spricht ja auCh von
„fliegenden Nüstern“.

’Auch das Kinn trägt wesentlich zum Emp-
findungsausdruck bei, aber als Basis des Gesichtes
ist es in seinen Zügen feststehender ünd wird in
seiner Ausdrucksfähigkeit wesentlich durch die
Steliung der Kiefer und die Linien des Mundes
und der Mundwinkel bestimmt. Eher schon ist die
Stirn, die das GeSicht krönt, eines reiCheren Aus-
druckes fähig. In sicfi selbst starr, ist sie doch
durch die sie umS'pannenden Muskeln und die Haut
befähigt zur Wiederspiegelüng desSen, was in der
'Seele vor sich geht, weil ihr AusdruCk am wenigsten
in den Bereich der willkürlichen öder gewaltsamen
Veränderung und Verfälschüng der wahren Emp-
findung fällt. Der Ausdruck der Stirn ist zu einem
gro’ßen Teil unwillkürlich und unabsichtlich; die
betreffenden Muskeln stehen in unvollkommenem
Konnex mit unserem Bewußtseinszentrum — „es
steht dir an der Stirn geschrieben“.

Das Gesicht ist der Spiegel des Affektes. Und
das Gesicht, losgelöst von dem Sitz der Vernunft
und des Denkens 1, die Maske. Das Wort Maske
ist sehr bezeichnend ursprünglich mit „Hexe“
gleichbedeutend. Die Hexe verkörpert den Affekt,
losgelöst Von der Vernunft, in gleidher Weise wie
die Maske. Will man nun zum'Zweck theatralischer
Wirkung eine fremde Person und einen fremden
Affekt wiedergeben, so bedient man sidh der künst-
lichen Maske. Das Altertum kannte eine tragische,
komische oder Satirische. Die antiken Masken
wurden im Zusammenhäng mit den Dionysien, den
antiken "Passionsspielen, erfunden und je nach den
verschiedenen Leidenschaften, die es darzustellen
galt, gestaltet. Und weil die Maske den vom Ver-
standesmäßigen losgelösten Affekt vortäuscht,
wurde sie stets zu KarnevalSaufzügen verwendet,
zuerst in Venedig steit der RenaissanCezeit. Von
der Uebertegung losgelöste Affekte sind ebenfalls
Figuren wie Arlequin, PagliacCo, PoliCinelle, Lelio
und Pierrot.

“Es ist erklärlich, daß die Kunst, welche es
vorzugsweise mit der Darstellung von Emp-
findungen zu tun hat, stets die Darstellung von
Gesichtsmasken in ihr SChaffensgebiet aufnahm.
Es sei an die antiken Terrakottenmasken, an die
pompejanischen Schreckensmasken, an die römi-
sChen Bronzemasken erinnert. Die Gorgone
Medusa, die Personifikation des Entsetzens, alSo
des heftigsten Affektes, wurde immer als Maske
dargestelit.

In der neueren Kunst zeichriete der große
Lionardo oft genug Masken als Trägerinnen ’des
Affektes. Auch Andreas Schlüters Schlußsteine mit
Masken sterbender Krieger seien erwähnt.

’E)ie neuste Kunst hät sich erst jüngst wieder
und zwar vornehmlich im Kunstgewerbe, der Dar-
stellung von Masken zugewendet. Beliebt ist be-
sonders das Gorgonenhäupt. Die Japaner beson-
ders, mit ihrem außerordentliChen Reichtum der
Affekte, haben die Masken bewußt als Bilder der
rein für sich bestehenden, von alier Vernunft los-
gelösten Affekte, der Affekte „an sich“ behandelt.

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin
Zehntes Gespräeh
Aufatmen der Verzauberten

Die Luft ist grausChwarz. Vom Meere kommt
Rollen, Donnern und ein unaufhöriiches Tosen.

M u s i k e r

(Jammernd, läuft über die Klippen.) Kalypso!
Kalypso! Hilf mir; sie sind hinter mir her. Hilf
mir, Kalypso! (Steigt tiefer.)

Die VogelmensChen

(In Scharen durcheinander.) Sie ist fort. Sie
ist verschwunden aus der Grotte. Die Grotte stürzt
ein. O unser Retter ha ha, wir wollen ihn opfern,
wollen ihn der Göttin opfern. Er hat sie auf-
gestachelt. Sie ist unten gewesen. Am Grabe des
Olympyers ist sie gewesen. Ich sah sie den Stein
abwälzen, ein Qualm. Seine Locken küßte sie, als
er sich aufrichtete. Oh er! Der Olympier ist wach.
Das Meer kommt. Schlingt alles ein. Wir klirren
mit ihnen herunter. (Alle berausCht) Wir dürfen
sterben.

D e r A 11 e

(Mit gliihenden Augen, still vor sich hin) Wir
dürfen sterben.

Lstztes Gespräch

Abgesang

(Offenes Meer; schwarzer Himmel. Die Insel
ist weggefegt.)

Der Olympier

(Einen weißen Faltenwurf von den breiten
eckigen Schultern bis zu den Sandalen, in die
Wolken ragend, auf dem Meeresspiegel, gebückt,
Erde im Haar, blutige Stirn, die er oft abwischt,
grauweiße zusammengeklebte Locken, schwer
keuchend; ein pergamentenes, eingefallenes, uraltes
Gesicht mit erlbschenen Blicken.)

K a 1 y p s o

(in ihrem blauschwarzen Gewande mit weißem
durchSichtigen Ueberhang, sieht ängstlich zu ihm
auf, umschlingt seine Hüften. Sie knirscht die
Zähne aüfeinander, als eine Welle den Leichnam des
Musikers an einer vorragenden Ktippe zer-
sehmettert.)

D e r j u n g e G o 11

‘(kommt Von weitem auf sie zu, riesengroß,
hager, struppig blönd, sicher, stechende Blicke; ein
blitzender Kronreif im Haar; sein sdhwerer, nach-
schleppender Mantel purpurrot, vorn mit goldenen
Haltespangen.)

Der Olympier

Er konnte mich! nicht töten, nur mich Vergessen.
— Ha, du, du Tiger, du blutiger Räuber, du —
Knecht, ich — bin — da, — bin immer da —.

T)er junge Gott

(Heiß und bitter) ICh has'se, die mich hassen.
Ich 1 meuchle, die mich würgen wollen. (Er schleudert
einen rauChenden Berg, den er aus dem Meeres-
boden ausreißt, gegen die Brust des Oiympiers.
Der, fast zerschmettert und stürzend, taumelt mit
Gebrüll nach vorn, erwürgt mit der linken Hand
den jungen Gott, während die Rechte dessen Kopf in
den Nacken bricht; der junge Gott gurgelt noch.
Beide versinken, während das Meer tosend auf-
steigt.)

K a 1 y p s o

(Die mit ausgestreckten Armen starr dage-
standen hat, richtet sich jäh in dem ungeheuren
weißen Toben und Zischen auf. Schreit wie ein
Orkan auf, afe ihre tauchenden Füße die sinkenden
Götterleiber berüh'ren. Ihre Züge verzerren sich.
Während sie beide Hände gegen die Brust preßt,
wäChst sie zusehends höher und höher auf. Ihr
ganzer Leib zuCkt und krampft sich. Ihr Mund
stößt aus ejn Hohö, hoh.— (Sie geht mit dröhnen-
dem Geschrei und Gelächter über das tanzende
Meer, wiegt sich in den Hüften, singt tief und lang-
geozgen, schlägt sich die Schenkel.)

Ende

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