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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 14 (Juni 1910)
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Rubiner, Ludwig: Dichter der Unwirklichkeit: Anmerkungen zu Büchern des Max Brod
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [10]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0112

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öffnen unser Bewußtsein für die Wahrnelnnung der
neuen Qeographie innerer Räume. Abe/ müssen
wir durchaus in die Terminologie der Erkenntnis-
theorie abbiegen? Der Raum des Innern ist nicht
eine Projektion unseres Ich: nichts Trennendes
einer Differenziierung, nichts Unterscheidendes
oder Nuancenfähiges, nichts durch Besonderheiten
Entwicklungsbegabtes. Die Stetigkeit seines Vor-
handenseins kommt uns sehr oft zur Bewußtheit.
Wir wagen es manchmal, uns ein Theater zu
denken, auf dessen Bühne eine Bühne steht, und
auf ihr wieder eine Bühne, und so fort bis zu dem
gleieh schrecklichen wie lächerlichen Qefühl „Un-
endlichkeit“. Und warum ist unsere Vorstellung
von Qott, (kein Denkprozeß) mit der Gewißheit
„riesengroß“ verknüpft? — da uns das Wort „un-
endlich“ hier nur als schnelle und allzu bequeme
Erledigung eines bestimmten Raumgefühls durch
eine bloße Definition erscheinen würde. Wir er-
kennen das himmlische Jerusalem hoch entrückt
über den steinernen Schatten unserer steinernen
Stadt. Vielleicht erinnern wir uns an die Opferung
eines Suchers: Baudelaires, der die Raumgefühle
späterer und ihm noch fremder Zeiten in die dämo-
nische Starrheit der reinen Betrachtung sammeln
mußte. Ueber dem stinkenden Unrat der Straßen
lag ihm das große Himmels-Paris, in dem Notre-
Dame gigantischer, fratzenhafter und berliozhafter
ist als auf Erden, und wo die sanften Farben-
brechungen einer fauligen Hundeleiche zu dem ele-
mentaren Trompetenschillern neuer Qrundfarben
— in der „Charogne“ — werden. Zwischen den
unsichtbar sausenden Kreisen der Empfindungs-
gegensätze zweier Zeiten wurde er zermahlen.
Und fünfzig Jahre darauf sind seine Werke schon
ein Katalog sublimer Verse über nichtvorhandene
Qedichte.

*

Die Dichtung hat mit der vorläufigen Vernich-
tung des Wirklichkeitswertes kein Ende erreicht,
sondern die Perspektiven neuer Ebenen des Be-
wußtseins gefunden. Brod hat das Glück, in einer
Zeit zu leben, die den Sinn für die Bedeutung des
Wirklichkeitsbewußtseins durch eine außerordent-
liche Konzentration auf die Form schärft. Die
Dichtung Brods kann daher aller Versuche entbeh-
ren, die nur einen höchst privaten Sinn hätten:
heftiges Ueberspringen von jenen Grenzmauern der
Form, die durch die Bedürfnisse nach den Wirkun-
gen allgemein-menschlicher Grundgefühle in jedem
Kunstwerk stehen; durch sichtbar gemachtes Zer-
brechen dieser Kunstformen, oder Niederlassungen
auf verschleiernden Zwischengebieten eines „Qe-
samtkunstwerkes“. Wir alle haben schon längst
geahnt, daß ein Kunstwerk möglich sein muß ganz
aus dem Empfinden der Form heraus. Szenen, die
geschrieben werden, weil sie ein Kontrapunkt in
der Polyphonie der Dichtung sind. Für Brod sind
die Empfindungserlebnisse, die während des Schaf-
fens bei der starken Vorstellung der Form erschei-
nen, zu den Richtlinien eines neuen Raums inner-
halb des produktiven Bewußtseins geworden. In
seinem Roman „Schloß Nornepygge“ schafft er Qe-
stalten, die eine Funktion der Form sind. Es
könnte noch bloße Technik sein. Nun aber wird
das Dichtung, wenn die Form als eine Wirklichkeit
genommen ist, und Brod sieht diese neue Wirk-
lichkeit des Lebens als eine riesenhafte und uner-
schöpfliche Raumsphäre mit neuen Straßen und
ihren neuen Abenteuern vor sich. Er schildert
in der Novelle „Das tschechische Dienst-
mädchen“ jenes Bewußtwerden der Trans-
substantation von scheinbar abstrakten Dingen zu
räumlichen: „. . . Begriffe . . . diese herrlichen un-
irdischen Formen . . . die sich eben aus der Welt
gebildet haben, und jetzt frei wie leuchtende klin-
gende Schalen vor einer reinen seidenen Luft auf
und nieder schweben.“

In aller Unauffälligkeit liegen da Voraus-
setzungen beschlossen, die weit mehr sind als Denk-
prinzipien eines bloß privaten Kopfes. Von hier
gehen die Wege durch die Länder des Absoluten:
man kommt zu einer Kunst, die Werte kennt, und
den Stoff zu schätzen versteht. Doch wären dies
noch Angelegenheiten der Technik. Es ist aber zu
bemerken, daß jetzt Qott unmöglich mehr eine bloße
Relation ist. Die Zweifellosigkeit am absoluten
und persönlichen Wesen Qottes zersplittert das
nuancenfarbene Wogen des Relativismus zur
dumpfen Erinnerung an den letzten bunten Wieder-
schein einer Hölle brutaler Erlebnisse, die irgend-
einmal auf der Haut gebrannt hat. Entwicklung
erscheint nur noch als Jongleurspiel eines Welt-

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varietes. Uebrigens ist die Welt garnicht so alt,
denn die Jahrtausende erscheinen zusammen-
gedrängt um die wenigen großen Fakta, die die
Grundgefühle des ganzen menschlichen Lebens
bilden, und die sich nie verändern. Es koinmt
darauf an, die Formen der Qefühle abzuwandern,
und die Variationen, die menschliche Leben bei
ihrem Zusammenprall erfahren.

Es bestätigt sich auch bei Brod, daß das große
Mittlere aller Ebenen des Lebendigen die Erotik
ist, diese wilde dunkle Höhle der Fremdheit und
Verwandschaft, der Ort für die Peripherien aller
gemeinsamen Lebensexistenzen. Erotik als La-

boratorium der Erkenntnis. Ein Raum für sich. —

*

Im Leben der Gestalten solcher Kunstwerke,
die aus dieser Verwirklichung des Qeistigen er-
stehen, muß das Notwendige und Unbedingte ganz
anders sein als unter den Figuren der Realität. Die
Stellung, die jede Gestalt in der Welt der Kunst-
form einnimmt, wird Voraussetzung und selbstver-
ständliche Bedingung für ihr Geschick, und darum
auch — für ihr Benehmen. Die Psychologie steht
nicht im Werk, sondern bleibt beim Leser. Alles
ruht auf der Deutung des Lesers von der Qeste
der Gestalten. Daher ist die Darstellung dieses
Raumes des Unrealen mit seinem Qewimmel eines
neuen Lebens, nicht nur als Denkvorgang des Autors
sondern auch als der des Lesers von außerordent-
lichster Allgemeingültigkeit. Abstrakte Dinge
wurden hier. S'timmungen. Stimmungen gehen als
Personen umher, Qedanken wachsen körperhaft auf
wie wuchernde Urwälder. Doch könnte dies nicht
noch System sein, Manier und bloße Originalität?
Aber Brod schreitet auf dem Kreise, den die Idee der
Form um die Realität des Lebens zieht als auf einem
maßlos großen Wege, von dem man stets beide
Länder überschaut, die Qebiete der Realität und die
Reiche der Abstraktion. Er weiß immer alles, was
sich in der Wirklichkeit begibt, aber er ersieht sofort
das neue und ganz andere, eigene Leben, das sich
neben den Tatsachen des Realen in den Ländern der
Idee entwickelt. Darum ist er ganz raffiniert und
ganz einfach. Sein Stil erscheint oft wie eine
Essenz aus unzähligen Büchern, aber ebenso oft hat
er merkwürdig simple Wendungen, wie man sie bei
den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens in aller
Eile gebraucht, die Klischees der Not, die alle
Menschen aussprechen, und deren Wahl nicht mehr
freizustehen scheint.

*

Das wichtigste Problem unserer Zeit, das einzig
wichtige in unserem geistigen Leben, ist das von den
Beziehungen der Außenwelt zu uns. Nur daher rührt
alle Beunruhigung in unseren Köpfen, und hier liegt
die Culmination eines ganz ungeheuren Komplexes
von untergeordneten Fragen, die das Qeistesleben
unserer Zeit alle für wichtig hielt. Alle Angelegen-
heiten der Kunst ordnen sich um das Erklingenlassen
dieser Dominante, die: Beziehung der Außenwelt zum
Ich heißt. Im Kunstwerk steckt der Koefficient dieses
Verhältnisses, und gibt ihm jene größere oder ge-
ringere metaphysische Schwingung, die uns das
Werk als mehr oder weniger bedeutend erscheinen
läßt. — Aber in den erzählenden Werken Brods er-
scheint dieses Problem nicht mehr wie bisher als
Hintergrund der Willensstimmung, sondern es ist
zum eigentlichen Stoff der Dichtung selbst ge-
worden. Alles Ringen ist die Reibung dieser beiden
Welten. Der Roman des „Nornepygge“ ist ein
phantastischer Riesenmonolog, in dem alle Ent-
ladungen aus den Kämpfen des Ichraumes mit den
Fremdheiten der Außenwelt zur Willensmusik fabel-
hafter Qeschehnisse zusammenblitzen. Das Un-
wirkliche ist zum Leben seiner Bilder erweckt. Der
Raum des Realen baut keine Mauer mehr vor die
weiten Landschaften in den Räumen des Innern.
Und ein Dichter gestattet seiner Zeit. zu erkennen,
daß die Abenteuer der Wirklichkeit und die Aben-
teuer der Seele nicht verschiedene Werte haben,
sondern nur Unterschiede in der Struktur ihrer
Formen.

Der Roman „Schloss Nornepygge“ und die Erzählung ,,Das tschechische
Dienstmädchen“ von Max Brod sind im Verlage Axeljuncker zu Berlin
erschienen

Qespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin Fortsetzung

M u s i k e r :

Du bewegst mich nicht, rührst mich nicht von
meinem Dreifuß; unbeweglich sitze ich und spreche

ohne Qualm: die Musik kann nur tönen. Nicht ic)
verteidige und begreife die, welche sehnsüchtig nac)
dem Leben haschen, dem harten, vielgeformten, dit
Musik zu einer Bettlerin zu machen. Was solche
nachahmende verlangende Musik tut, heiße ich zwal
„tönen“, aber nicht Kunst. Ich glaube wie Du an die
Unvergleichbarkeit und die strotzende Wertfülle def
Töne. Aber daß sie eine geistige Kunst, keine blöd
tönende ist, sagt schon dies: Musik macht nicht eiHt
I'on, noch viele Töne; sondern sie liegt in den Be'|
ziehungen von Ton zu Ton, hängt brückenarti^
zwischen ihnen. Wenn, wie Du fandest, der Toü!
aufflattert zwischen den bewegten Dingen, scj
geistet die Musik zwischen den bewegten Tönenj
Und nun mußt Du, ja Du, o Kalypso, schoüj
Deinen Platz verlassen, — denn nachdem Du diesl
selbst gestanden hast, bist Du entwurzelt. Auf ein
Mehr oder Weniger kommt es dann nicht an. Dk'
Musik ist von Qeistes Qnaden, und als Menschenj
kunst von Menschengeistes Gnaden. Dann tratl
der Mensch und sein Geist vor die Töne, undj
mit ihm alle Wirklichkeit, die sein ist; dann kanflj
auch die „Tiefe“ das Qrauen bezeichnen, und allesj
muß geschehen, was Du kennst. Wie Du, sage ichi
die Musik bleibt begrenzt auf die Töne, — manch4
tnal dachte ich freilich, — zu Unrecht, — es tättl
nicht Not, dies erst zu sagen, — und sage und fraget
weiter, wie der Menschengeist sich der Töne be-|
dient in den Qrenzen und anerkennend die eigen-l
tümliche Bestimmtheit der Töne; wie es so zuij
Kunst der Musik kommt.

Widerstrebe mir einmal nicht, folge mir. Ictij
will Dir weisen, wie dies geschieht. Sieh:j
Mit dem Menschengeist tritt alle Wirklichkeit.j
die er erlebt, vor die Töne. Er vergleicht dasj
Kunstwerk mit mancher Wirklichkeit, findetl
das Kunstwerk arm, wie Du klagtest; ja, da[
derselbe Mensch lebt und musiziert, so findet er diel
Kunst bettelhaft. Alles im Menschen wächst ja.
wächst ineinander, dient sich, stützt sich, zerstörk
sich. Alle Kunst ist Stückwerk, gegen die Wirk-j
lichkeit ist sie Stückwerk. Einiges von der Weltj
kann sie bringen, vieles, einen Nachhall und ein Ent-j
zücken. Aber das meiste bleibt ihr versagt; siej
bleibt hierin trümmerhaft, verkrüppelt. Sieht maflj
es so an, so geschieht auch Peinliches und Ekcl-I
haftes in den Werkstätten der Künstler; es ist, als ■
ob ein Armloser in der Jahrmarktsbude mit defl j
Zehen malt und sich dessen rühmt. Die Musik kanfl j
nur tönen; wohl, aber dann sind die Künste Miß-
geburten, von denen man fortblicken sollte, denfl;
auf diesem Zwange, mit dem Fuß zu malen, wächst:
jede Kunst. Sie geben einen Henkel in die Hand;
und verlangen, man solle sich die Vase mit derfl i
Flieder hinzudenken; sie können nur den Henkelj
geben und müssen doch den Flieder meinen. Aber ]
maßlos, Qrenzzerstörer müssen sie sein, Selbst-
verächter, da sie früher oder später vergebens den>
Reichtum des Lebens gerecht werden wollen; maß' i
los, — ohne Kunst ist die Kunst. Was braucht es j
orphische Musik, damit sich die Säulen bewegen;]
die Quadern sich zu Toren schließen? Jede Musik!
will die Säulen anrufen, hebt die Steine in ihrerflj
Takt, bringt Blumen zum Duften, die Sonne zurfl ]
Leuchten. Ich verstehe Dich; ohnmächtiger und;
vermessener ist kein Mensch als der Künstler. Und ;
die Himnrtischen lachen und schlagen sich die
Schenkel. — Doch faß ich schwer, daß gerade Dü
die Musik höhnst, weil sie den Dingen nichts raubefl
könne, nicht ihre Härte, nicht ihre Form, daß gerade
Du schmerzlich die Krüppelhaftigkeit der Kunst er-
kennst, Du, die sich auf einer Meerfahrt mühte utfl
die Dinge und Töne, aufs innigste ihre Brüderun£
und jede Verflochtenheit empfandest: es will sich j
nichts vereinsamen lassen. — Qerade Du wirst j
wissen, wie viel aus sich die Musik kann, die danfl j
nicht „nur“ tönt. (Kalypso lächelt.) Willst Dfl j
etwas?

K a 1 y p s o :

Sprich nur, sprich nur zu. — Bist mir ein schlechtef j
Menschenkenner, mein gutes Musikantchen. Dfl
widerlegst mich; Oder bist im Begriff es zu tufl- j
Ich brauch’ mir nicht Recht geben lassen vofl j
Qründen. — Wollen wir heimfahren?

M u s i k e r :

Qern, Kaiypso, wie Du inagst.

K a I y p s o :

Er hat das Herz voll und grollt mir, weil ich ihfl’
Recht gebe. „Qern“: Qesteh’, Du möchtest liebei'
Unrecht haben?

M u s i k e r :

Was willst Du von mir?
 
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