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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 14 (Juni 1910)
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Mann, Heinrich: Alt
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [5]: Roman
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Heymann, Walter: Der Fliederstrauch
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Rubiner, Ludwig: Dichter der Unwirklichkeit: Anmerkungen zu Büchern des Max Brod
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0111

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sterbe an dem Trank. Jeder Schluck brannte ihm
ungeheure Wonnen ins Fleisch. Bei dem letzten
stürzte er. Noch sah er sie erschreckt seinem
I Körper ausweichen. Er sah noch, wie sie, im Be-
Sriff zu entfliehen, ihre großen Augen über ihn hin-
schickte, ganz unschuldig und in einer Haltung, als
: °b es sie fröre.

Daniel Jesus

Homan

^on Paul Leppin Vlerte Fortsetzung

Marta Bianka hatte die Geschichte der armen
^aleska dennoch gehört. Keiner wußte, daß sie
'äutlos und starr in der halbgeöffneten Tür des
; ^ebenzimmers gestanden hatte und daß die Worte
vom Munde Daniels wie große, blühende Tropfen in
*hre wunde Sehnsucht gefallen waren.

Seit dieser Stunde ging seine Erzählung nicht
yon ihr. Lag sie auf ihrer Seele und spann sie in
ein dichtes, schimmerndes Netz ein und ließ sie nicht
1 qs. Es war ihr mitunter, daß jenes Geschehnis groß
ynd unbestimmt sie bedrückte und sie mitnahm auf
langen Irrfahrten und Träumen der Liebe, von denen
'hr niemand gesprochen hatte, die sie aber trotzdem
hcll und deutlich kannte, wie die Geschichte einer
vision.

Marta Bianka war eine Phantastin. In der
; scheuen Stille ihrer Kinderjahre, die ihre Mutter um
'hr Leben legte wie ein Kleid, war langsam und
sonderbar ein roter Rauch in ihrer Seele aufge-
stiegen, in dem sie wunderliche Gestalten und Dinge
sah. Und wenn sie am Spätnachmittag in dem
hunkeln Salon saß und die Gräfin in einem Buche
Jas, dann sah sie zu den großen Fensterscheiben
hin, die die müde Sonne klar und glühend brannte
und hinter denen die kalte Gasse und ihre Abenteuer
* agen. Da spann sich allmählich ein fremdes Dasein
vor ihr weiter, das ihr neu war und dem sie zusah.
^it hundert Begebenheiten und Wünschen, die in-
Gnander griffen und sich vollendeten wie in einem
Koman. Leute, mit denen sie schon einmal irgend-
^o zusammengekommen war, tauchten wieder
anf, aber sie hatten andre Gesichter, wenn sie näher
hinschaute. Sie waren alt geworden unterdessen,
°der es lag etwas in ihrem Wesen, das überraschte
Ufid staunen machte. Eine herrische und wilde Art,
la Plötzlichen Gebärden Reue und Haß, Liebe und
halschheit zu zeigen. Dann kam es wohl auch zu-
^eilen vor, daß Marta Bianka ihr Leben und ihre
^utter und das einsame Zimmer vergaß, in dem sie
^ohnte, und in die Welt ging mit einem von den
^enschen, die sie vor sich sah und die mit ernsten
ünd drohenden Händen in die rote Luft redeten, als
°b noch jemand hinter ihr stände. Oder daß sie
^lber einer dieser Leute wurde und mit drängendem
hlerzen irgend ein Schicksal erlebte, das jemand
hstig oder gewaltsam schuf und in dem sie ging
ünd tat wie in einem Spiel.

So war auch die Geschichte des Daniel Jesus
ln ihr Herz wie ein funkelndes Messer gedrungen
ünd hatte ihr eignes Erleben und alle seine Reflexe
ln einem wirren Traume getötet, in dem sie auf ein-

von Marta Bianka hinweg und stumm und hilf-
os auf einem Wege lief, der hinter Steinen und
b'utigen Schatten in den Tod Valeskas führte.

Die dumpfen trostlosen Stunden der Entsagung
ünd der Angst wuchsen in ihr zu einer Kraft der
b’Ohnsucht und der Erlösung, die sie hineinreifen ließ
ln die Liebe, wie einen Baum, in dem der Atem
^ottes schlief. Diese Liebe verwirrte ihr Gedächt-
üls und trug sie hinüber bis über das Ende und die
raurigkeit der Geschichte Daniels. Sie wußte noch
e'se und schmerzlich erschrocken, daß Valeska ge-
storben war, aber ihre Augen bohrten ungläubig in
jj en sammtnen Vorhang der Nächte, und ihre Seele
^°nnte nicht schweigen. Jene große, kostbare
^unde stand vor ihr, wo Daniel Jesus zwischen
* ränen und Glück ihren weinenden Mund geküßt
üatte. In der alles offenbar wurde und das Wunder
lü ihr Leben gekommen war, zum ersten Male seit
Jahren.

Vielleicht auch in sein Leben — dachte Valeska.
joit bunten Schlacken hatte er gespielt und mit dem
ackernden Zauber seines Herzens. Er war nicht
^Jucklich dabei geworden. Aber er mußte es
' Verden. Sie mußte ihm die Liebe bringen, die ihm
^ehörte, heute noch. Sie war nicht gestorben, wer
,°£ das nur? Sie hatte einen bösen Traum ge-
abt, und der war jetzt vorüber.

Es stieg eine hohe und leuchtende Nacht, gerade
so wie jene, von der Daniel Jesus erzählt hatte. Der
Mond hatte über den Boden ihres Schlafgemachs
einen wundervollen, sehnsüchtigen Teppich gerollt,
und nur noch ihr Bett stand im Dunkeln. Sie erhob
sich und sprang im Hemde in die Stube. Ihre
schönen, weißen Füße standen im Licht, und ihr
bernsteingelbes Haar verdeckte zur Hälfte ihr Ge-
sicht, das bleich und regungslos auf jemanden
wartete. Da ging sie zögernd mit kleinen kindischen
Schritten zu der alten Rokokotruhe und nahm einen
schimmernden, weichen Mantel heraus, eine ruhige,
träumende Seide, und ihre Füße flohn vor dem
Mond in zwei tiefblaue, winzige Pantoffel. Dann
schlug sie den Mantel um ihr Hemd und drückte die
Tür auf. Unhörbar schlich sie durchs Haus und
tappte die Stiegen hinunter und öffnete mit dem
schweren, eisernen Schlüssel das Haustor.

Durch die weiße, glänzende Gasse flog der
Wind. Es war warm und wollüstig, und der Früh-
ling goß einen rieselnden Schauer auf die Kirchen
und Dächer der Stadt, und der Spätmärz rief mit-
unter laut und vernehmbar irgend ein Wort aus der
Ferne. Und oben auf dem Rücken des schauernden
Windes schwamm der Mond wie eine Braut, die auf
die Hochzeit harrt.

Marta Bianka lief. Sie wußte nicht, wohin, und
sie dachte nur dunkel und unbestimmt an ein helles,
schlankes Haus, das sie einmal gesehn hatte, als sie
mit ihrer Mutter im Wagen vorüberfuhr und
die Gräfin etwas sagte, das sie vergessen hatte.
Und dann — das war sie ja gar nicht, jenes Mädchen
im Wagen. — Wer war das nur? — War das
nicht Marta Bianka? — Marta Bianka — natürlich.
Sie hatte sie einmal sehr lieb gehabt, es war eine
stille Träumerin, aber sie war noch jung, viel zu
jung für die Liebe.

Wohin ging sie denn eigentlich? Sie war doch
Valeska und mußte die Liebe zu jemandem bringen,
heute nacht. Er wußte noch gar nicht, was sie ihm
brachte.

Sie lächelte.

Er wird staunen, dachte sie und merkte es gar
nicht, daß die Straße ihre beiden kostbaren Pantoffel
mit den traurigen Perlen gestohlen hatte und daß sie
jetzt mit bloßen Füßen über die Steine lief.

Er wird glücklich sein und wird sie küssen.
Und sie wird niemals mehr fortgehen und sich den
Kopf zerschmettern wie in jener Nacht. Sie wird
bei ihm bleiben und nicht von ihm gehn. Er war
gut und hatte Augen wie ein Kind, er wiirde den
Weg zum Frieden finden.

Er — ja, wer war es nur? — Ein Windstoß blies
sie an, und eisiger Frost durchrann sie. Großer
Gott, das hatte sie ganz vergessen! Sie war so ver-
wirrt und irr durch die Liebe. Und die Tränen
stiegen in ihre Kehle. Sie suchte hastig und angst-
voll in ihren Träumen und weinte. Ietzt stand sie
draußen auf der Straße barfuß und in Hemd und
Mantel und wußte nicht, zu wem sie ging.

War sie denn nicht Valeska? Und da mußte sie
doch zu Daniel Jesus gehn —. Sie erinnerte
sich jetzt ganz genau. Der hatte es ja ihrer Mutter
erzählt, und sie stand in der Tür und hörte zu.

Ihre Füße wurden müde und schleppend wie die
einer Kranken.

Zu Daniel Jesus also — dachte sie. Aber wie
war das nur? Das konnte gar nicht sein. Den
Iiebte sie gar nicht. Der, den sie liebte, war
anders. Er war jung und schön und hatte einen
sehnsüchtigen Mund. Manchmal, da ging ein Fie-
ber über sein Gesicht, und seine Augen blieben
stehn wie im Traum.

Marta Bianka sah auf. Vor ihr stand hell und
schlank mit silbernen Fenstern ein Haus. Sie
drückte das Schloß, und die Tür sprang auf. Sie
wunderte sich, daß sie nicht verriegelt war, und
mußte dann wieder daran denken, daß es nicht
anders hätte sein können, und daß ihr Leben em
Zauber war.

Diese Nacht und ihre Liebe mußten so sein.
Und leise stieg sie die Treppe hinauf und trat ein.

Zu wem geh ich eigentlich? — dachte sie ver-
grämt und schloß die Türe hinter sich zu.

Dann stand sie schön und schweigend in Jem
weißen Zimmer und sah dem Baron von Sterben in
die großen Augen, in denen vor kurzem noch ein
wilder und banger Traum geglüht hatte.

Sie stand auf dem Eisbärenfell vor seinem Bctt,
und ihr nackter Fuß zertrat das Blut von Hag^rs
Munde, das unter den Küssen des Barons aus
den »zerrissnen Lippen getaumelt war. Ihr wei-
cher, zärtlicher Mantel tat sich auf, und Baron Ster-

ben sah, daß sie mit bloßen Füßen im Hemde zu
ihm gekommen war. Ihr gelbes Haar verdeckte
ihre Augen, und sie sagte:

Das Tor von der Straße stand offen, und > h
ging hinauf. Aber wie kommt es, daß Du Deine
Tür nicht verschließest, wenn Du schläfst?

Da ging ein Lachen durch die Seele des
Barons.

Marta Bianka — rief er.

Marta Bianka — ich hab sie seit J ahren of* 11
gelassen — für das Glück.

Der Fliederstrauch

Von Walther Heymann

Noch ein Mal sucht

Jugend Dich mit blütetrunknem Hauche.

Jeden Frühling

wächst so her der Duft vom Fliederstrauche.
Immer wieder

wehen werden alle Seufzer süße,

Sehnsucht

reizt mit Ueberschüttung Deine Rührung.

Und Verführung

streift vorüber von Verhüllung zu Zerrüttung.
Frühe Liebe

spendet leuchtend bunte Grüße.

Viel zu müde

macht den Mut uns Honig stummer Tränen.

Doch nun lehnen
zitternd wir in Sonnenhaar
und greifen schon

— umfassen Wölkchen uns, die streifend zärtlich

'assen.

So erheben

Wedeldolden sich, die quellend spriihen:
hingegeben,

die von Düften überschwellen
und mit allen Winden blühen,

Himmelsröte webend uns umglühen.

So vergehen, so zertauchen

lila sie vom grünen Berg, vom Strauche:

— heiße Wölkchen, Liebeshauche,

die ins Gold des fernen Lichtes wehen,
auch, wie Du, Raub raschen Traumes —
roter Sternenstaub ins Blau des Raumes.

Dichter

der Unwirklichkeit

Anmerkungen zu Büchern des Max Brod

Von Ludwig Rubiner

Alle paar Jahrhunderte einmal sind die großen
Entdeckungsreisen auf dieser Erdkugel zu Ende,
und die Wirklichkeit ist abgesucht. Große und
unterscheidenden Dinge der Greifbarkeit und Sicht-
barkeit sind gefunden und beschrieben, und es gilt,
wahrzunehmen, daß von neuem die Jahre einer
großen Epoche abgelaufen sind, die das Wirkliche
zu Geist machen will. In Heinrich Manns Wer-
ken verdampfte die deutsche Sprache noch einmal
die Erfahrungen dieser Augenwelt zu Gefühls-
symbolen von einer enthusiastischen Sachlichkeit.
Und da die Vokabularien der Mode schnell
wechseln, so weiß heute jeder, wie lächerlich man
sich macht, wenn man aus dem Lehrbuch solcher
Wissenschaft zitierte: Naturalismus, Impressionis-
mus, Neuklassizismus!' Eine Variation von Tech-
niken, die stets nur über dasselbe Stoffgebiet ge-
spannt wurden, die Wirklichkeit.

Wer wagte an die Ebene der Wirklichkeit zu
stoßen? In unseren guten Dichtbüchern stecken
die vollkommenen Perspektiverf hingebungsvoll
illusionierender Bühnendekorationen. Auf diesem
Stoff der Wirklichkeit kann nur die wechselnde
Beleuchtung neu und ungewöhnlich wirken, und
die Psychologie ist der Scheinwerfer.

*

Unser Leben wird in jedefn Sinne von Rauni-
fragen erfüllt. Der Raum, den wir verdrängen,
stürzt sich wieder auf uns mit der Wucht von Fa-
brikshämmern, und die Schläge, mit denen die Kör-
perwirklichkeit uns auf den Schädel trommelt,

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