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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 5 (März 1910)
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Ihringer, Bernhard: Eduard Engel und seine Opfer
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Friedlaender, Salomo: Gute Nacht
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Eduard Engel und seine Opfer

Von Bernhard Ihringer

Vor nicht zu langer Zeit gab der Berliner
Feuilletonist, Parlamentsstenograph und Kritiker,
Professor Doktor Eduard Engel eine Literatur-
geschichte heraus. Sie wurde von der Tages-
kritik gelobt, durch Abdruck des Waschzettels
(zum Beispiel vom Hamburger Korrespondenten,
der nach diesem Faktum merkwürdigerweise noch
immer ernst genommen werden wiil). Das
Publikum kaufte pflichtschuldigst. Kaufte so gut,
dass sich der Verfasser zu Grösserem hingerissen
fühlte und unabgeschreckt durch die bitteren
Pillen, die ihm von manchen Kritikern einge-
geben wurden, zu Weihnachten 1909 den deutschen
Lesern ein dickes Buch darbot, auf dem also ge-
schrieben steht: Eduard Engel: Goethe, der
Mann und das Werk.

Aber noch bevor dieses Opus sich bei dem
deutschen Bildungsphilister „eingeheimt“ hatte —
um das genial geprägte Wort des vermeintlichen
Neutöners zu gebrauchen, — hatte besagter Autor
durch einige Aufsätze im Sonntagsblatt der Vos-
sischen Zeitung des Pudels Kern enthüllt. Er
bewährte sich als selbständiger Forscher, indem
er ,,der Stein“ die Maske vom Gesicht riss und
„die Stein“ in ihrer wahren „Minderwertigkeit“
beleuchtete. In bengalischer Beleuchtung er-
strahlte aber die gute Christiane, die bisher von
den bösen Forschern „in Bezug auf“ ihre intellek-
tuellen Fähigkeiten als quantit6 n6gligeable be-
handelt worden war. Ihr gebührte die Palme,
nicht der hochmütigen Aristokratin, die der Demo-
krat Professor Eduard Engel mit dem Hass des
Volksmanns verfolgt. Und wenn auch Goethe
ihr die schönsten Briefe schrieb, wenn er immer
zu ihr empor sah, als zu der einzigen ganz
grossen Liebe seines Lebens: Professor Engel
kennt das: „Reichere Lebenserfahrung hat ihn“
— Professor Eduard Engel — „die Möglichkeit
gelehrt, dass Männer und Frauen, selbst die
edelsten, selbst die klügsten, sich vollkommen
übereinander täuschen; dass die feinsten Reiz-
schwingungen zwischen den Geschlechtern die
Macht haben, Schleier zu breiten über tief auf-
klaffende Seelenabgründe; Einbildungen zu ver-
wandeln in wirkliche Leistungen; kluges aber
leeres Zuhören und Schvveigen verwechseln zu
lassen mit vollein Wesenseinklang.“ Das lehrt
Herr Eduard Engel Goethe.

Ist es nicht eigentlich zum Weinen lustig,
wenn ein Buch, in dem auch nicht ein tüchtiger,
selbständiger Gedanke steckt, die geschickte
Mache eines mit Zettelkastenweisheit um sich
werfenden, geschäftigen Vielschreibers in kürze-
ster Zeit vier Auflagen erlebt? Wobei noch zu
fragen wäre, wieviele Tausend Exemplare jede
Auflage umfasst. Das Wundern über die Seicht-
heit des literarischen Urteils hat man sich längst
abgewöhnt. Wenn sich aber auch noch herostra-
tische Gelüste regen? Wenn der, dessen Streben
es sonst nur war, der Menge zu gefallen, mit
ein paar Fechterkunststückchen und einigen aus
dem Zusammenhang gerissenen Zitaten die be-
gründete Ansicht fast eines Jahrhunderts auf den
Kopf stellen will? Dann ist es nötig, mit aller
kritischen Schärfe vorzugehen und einem popu-
lären Werke, das das Urteil des Volkes bestimmen
will, doppelt und dreifach schwer anzukreiden,
was man bei einer akademisch-sachlichen Unter-
suchung nicht tragisch nehmen würde.

,,Wie vieles,“ seufzt Eduard Engel ,,in
Goethes geheimsten Herzensleben bleibt uns un-
verständlich, wo er selbst zu schweigen beliebte.“
Ach hätte der Herr Profassor doch die Konse-
quenz gezogen und selbst über Manches ge-
schwiegen. Mit der Entdecknngswut des Philisters
und der Detektivpose des Literaturhistorikers stürzt
er sich auf einige Briefe Charlottens an ihren
Sohn, auf Aeusserungen, die im Scherz geschrie-
ben wurden. Er beweist aus dem Umstand, dass
.,die Stein“ ,,den kläglichen Roman Agnes von
Lilien der Karoline von Wolzogen“ mit Begeiste-
rung las, den Tiefstand ihres literarischen Ur-
teils und weiss offenbar nicht, dass die geist-
reichsten Zeitgenossen hinter dem Modebuch
Schiller selbst vermuteten. Er sucht ihr aus
ihrer Anerkennung Kotzebues einen Strick zu
drehen und weiss nicht, dass Goethe als Theater-
leiter noch ganz anderes auf der Weimarer Bühne
duldete, dass eine internationale Grösse wie
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Frau von Stael den Vielgeschmähten warm ver-
teidigte. Er verdreht ein paar offenbar mühsam
zusammengesuchte Scherzworte über intime Ver-
hältnisse des Goetheschen Haushalts, um schliess-
lich im Brustton der Ueberzeugung auszurufen:
„Fürwahr, von allen Frauen, für die Goethes Herz
geschlagen(I), war Charlotte von Stein die wert-
loseste, die einer solchen Lebensweihe unwür-
digste.“ Warum setzt er nicht noch hinzu:
Welch ein Dummkopf war eigentlich dieser Goethe,
sich so angeln zu lassen!

Zum Vergleich Engels Urteil über eine andere
Goethe nahestehende Frau. Ich meine Bettina,
das „Kind Goethes“, sie, der wir eigentlich das
schönsteund innigste Goethebuch, „Goethes Brief-
wechsel mit einem Kinde“ verdanken. Man höre
die profunde Weisheit, die auf Seite 412 zu lesen
ist: „Näher als Clemens trat ihm dessen Schwester
Bettina (1785—1859) die Gattin des märkischen
Dichterjunkers Arnim. Sie drängte sich Goethen
mit einem Gemisch aus echter Bewunderung und
krankhafter Anbetung auf und wurde ihm schliess-
lich lästig. Als sie mit neununddreissig Jahren
Goethen gegenüber den verliebten Backfisch
spielen wollte, schaffte er sich die Anempfinderin,
die obendrein gegen Christiane Roheiten beging,
vom Halse . . .“. Wenn man dieses verständ-
nislose Gesalbader liest, hat man von' Herrn
Eduard Engel definitiv genug. Zunächst: Der
Bruch mit Goethe erfolgte 1811, also Bettina war
damals sechsundzwanzig und nicht neunund-
dreissig Jahre alt. Aus den Engelschen Phrasen
wird ferner mit keinem Wort ersichtlich, wie viel
Bettina für Goethe lange Zeit bedeutete, dass er
i h r a 11 e i n in jener Zeit vertraute Briefe schrieb
und sie in Wahrheit als ein Kind seines Geistes
stets anerkannte. Wenn es dann bei Engel
weiter heisst: „Nach Goethes Tod hat sie aus
einigen wirklichen Briefen Goethes und Brief-
stellen der Frau Rath einen durch frei erfundene
Zusätze erweiterten Roman gemacht: Goethes
Briefwechsel mit einem Kinde (1835). Darin be-
zog sie Gedichte Goethes, die unzweifelhaft an
Minna Herzlieb gerichtet waren, wider besseres
Wissen auf sich“ — so ist da eigentlich jedes
Wort eine Entstellung. Engel, dem seine aus-
gedehnte Beteiligung auf allen Gebieten zu gründ-
lichen Studien wohl keine Zeit lässt, weiss na-
türlich nicht, welche Wandlung das Urteil über
Bettinas Briefsammlung seit der Ausgabe des
Berner Privatdozenten Jonas Fränkel erfahren hat.
Vielteicht ergänzt er seine Zettelsammlung einmal
nach dieser Richtung, um bei künftigen ähnlichen
Arbeiten nicht abermals mit solcher „Sachkenntnis“
zu glänzen. Den Ausdruck „märkischer Dichter-
junker“ muss man Engel zu gut halten. Er hatte
eben vergessen, dass er an einer Goethebiographie
und nicht an einer Volksversammlungsrede ar-
beitete.

Mag nun das arme Opfer Charlotte von Stein,
Bettina Brentano oder irgend-sonstwie heissen:
es wird gerädert, wenn es nicht in Engels Zungen
redet. Denn eine andere Sprache darf es nicht
geben.

Gute Nacht

Von Mynona

Ein Essigwarenfabrikant mit humanen An-
schauungen glotzte eines Tages seinen Diencr
Wilhelm so bärbeißig an, daß dieser gekränkt um
seine Verabschiedung cinkam.

„Herr,“ seufzte er, „es war freilich nur ein
Blick, aber ein essigsaurer — hätten Sie mich doch
lieber angeschnauzt!“

A tempo ward Wilhelm entlassen, weil der Fa-
brikant sein Ehrgefühl just im Essig sitzen hatte,
weil in des Dieners Wilhelm Urteil das als Tadel
geschätzt war, was der Fabrikant, als solcher, als
das höchste Lob anzusehen gewohnt war. Denn
der Essigmann denkt natürlich iiber Iionig anders
als der Bienenzüchter.

„Gute Nacht, Herr,“ sagte Wilhelm, als er
ging, und ging. Auf jenen Blick war dies der Ton.
Das soll heißen, jener Fertigkeit des Herrn, einen
Diener so anzublicken, daß er ging, entsprach eine
Virtuosität des Dieners, seinen Herrn so anzu-
tönen, daß er — doch hier, düstre Natur,, laß den
Zauber deiner Unbegreiflichkeiten spielen; diesen

Zauber, der einen Blick, einen Ton zum Verhängnis
ganzer Lebensläufe machen kann!

„Gute Nacht!“ Zunächst ein Mal legtej
Wilhelm in diese paar Silben so viel Wehmut wiej
die ganze Lyrik Lenaus sie nicht nur nicht enthält — j
Lenau wiirde sich frivol dagegen ausnehmen. Das|
Ohr des Fabrikanten, auf Essig und Humanität ab-
gestimmt, mußte durch und durch erschüttert
werden — aller Essig wurde einfach ausgeschaltet.
das Ohr, gänzlich human geworden, würde, wenn j
es ein Auge gewesen wäre, sofort getränt haben;]
aber es' gibt ja für Ohren etwas Aehnliches. Beim |
Fabrikanten, dem so meuchlings durch eiuen Ton
der Essig entzogen wurde, der, also wehrlos ge-
worden — es gibt nichts Ungesunderes — bloß noch
human reagierte. brach keine kleine Gemütskrank-
heit aus: akute Melancholie, zwei Sekunden Irren-I
haus. Wäre Wilhelms Ton blos wehmütig ge-
wesen, so hätte der zermatschte Humanerich ihm :
reuig eine neue Livree anmesscn lassen — basta.
Jedoch, Wilhelm legte in diese Wehmut noch j
etwas, eine unbestimmte, aber unendliche, ge- i
ladezu geisterhafte Angst einflößendes. eine ge-
heimnisvolle Drohung. Das Ohr. weich gebuttert. j
war für diese Drohung dermaßen durchdringlich |
geworden, daß irgend ein kalter Dolchstoß hin-1
durchzugehen schien. Der Essigsaure erschrak. I
war entsetzt, entfärbte sich und jappte nach Luft. ;
Aber nun war da noch etwas im Ton. vielieicht das
Allerwirksamste von allem: Sowohl in der Weh-
mut als in der Drohung lag und lauerte eine tiefe
und inbrünstige Moralität; so etwa: „Ich, Wil- !
helm, ungerecht verletzt, weiß. daß Dich den I
Essignen das Gericht ereilen muß!“ Damit erst
war der Ton sanktioniert: von aller dienerhaften
Impertinenz völlig staubfrei gemacht, schien er
ätherisch und schleuderte aus himmlischer Höhe- j
den Wehmütiggeschundenen in den eigenen bren-
nendsten Essig hinein, hinunter. Schließlich —
aber das war Wilhelm’s Triumph — bezauberte
der Ton durch das mächtigste. saftvollste Glücks-
angebot: Was Lenau! Was Unrecht, Rache, Zer-
matschtheit! Was bloßer Humanitätsdusel! Nein
es gilt etwas Heroisches — noch, noch. noch ist es
möglieh, nur noch eine Sekunde: Ich Wilhelm
krtnnte — vergeben. ich will es aber nicht, nie, nie,
niemals — gute Nacht — es ist aus. zu spät —
vorbei — gute Nacht! —

Wilhelm ging, aber der Ton hallte nach wic
Donnerton in Gebirgsschluchten, wic das Röcheln
gemordeter Engel, hallte nach, wollte sich nicht
aus dem Ohr verlieren, suchte sich ewig seinen
Weg zu Hirn und Herzen des Essigmenschen. Es
ist so Ieicht verständlich, daß der Sentimentale die
Sentimentalität verträgt; hingegen der Stoiker, der
Charakterfels, vom leisesten Haucli der Rührung
angewdht, stürzt wie vom Blitz getroffen in sich
zusammen. _

Es sind auch nicht etwa die eigentlich Gemüt-
losen, welche.diesen Zusammenbruch zu besorgen
haben: sondern die Kalten, die mit dem Feuer der
Menschenliebe nur humanitätsduselig spielen; sic
häufen so viel Werg und Zunder um ihr dürres
Herz, daß schließlich ein Funke, eine zündende
Silbe, ein elektrisches „Gute Nacht“ zur Flamme
und Asche macht, was im Grunde danach gierte.
Diener Wilhelm’s „Gute Nacht“ warf den Essig-
verfertiger iiber den Haufen: ihm war nicht mehr
zu helfen. Gegen diese flagrante Mclancholie,
diesen galoppierenden Verfolgungswahn half kein
Sanatorium der Mitwelt. Der Essigne goß Essig
in seine Badewanne, schindete sich mit einem
Reibeisen die Haut wund, sprang in die Wanne.
raste mit tosenden Schmerzensrufen heraus: und,
um Auskunft gefragt. starb er rnit dem Höllen-
schrei: „Gute Nacht!“

Berichtigung

In dem Beitrag ,,StiI“ von Karl Kraus (Nummer 4)
sind in der zweiten Spalte, 28. Zeile von unten, die'Worte:
unterm Weidemond in Anführungszeichen zu
lesen; in der 10. Zeile von unten statt: Lenzmismus
Lenzmimus; in derdritten Spalte,I3.Zeile von oben statt:
daß das; in der 28. Zeile von oben statt: Zeugnissen
zeugnissen.

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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