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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 39 (November 1910)
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Döblin, Alfred: Konzerte
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Blass, Ernst: Berliner Abendstimmung
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Tolstoj und Heyse
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Wochen-Spielplan der Berliner Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0318

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Konzerte

Viele Dinge suchen micli daran zu hindern,
mein Vorhaben auszuführen ünd Konzerfe zu be-
suchen. Konzerte erfreuen sich ja, wie ich jetzt
erfahre, einer gewissen Beliebtheit; erstens als Ver-
sammlung von Menschcn, besionders abends. Man
hat nichts zu tun, kann sich umziehen; meist hat
man auch etwas Kopfschmerzen und imöchte sowieso
weggehen. Und dann ist Musik dabei, wird ernst-
haft vorgetragen, nicht so wie in den Cafes, die
auch ganz nett ist, aber mich wegen ihrer Schludrig-
keit oft abstößt. Es gibt so schöne, so schöne
Musik, und gelegentlich ttört man sie in einem
oder dem andern Konzert. Natürlich muß man in
viele gehen, um sie zu finden; leicht ist in der
Kunst nichts. Aber ich kann wirklich meinen festen
Entschluß, Konzerte zu besuchen, schwer ausführen.
Ich rede nicht von dem Mangel an mir sympathi-
schen Billets; schließlich ist ein Konzert wie das
andere. Ich habe vielmehr eine Beobachtung ge-
macht, auf die mich ein Oespräch mit einer Gar-
derobenfrau füh'rte, einer weltmännisch gebildeten
Dame mit abwechslungsreicher Vergangenheit. Man
trifft gewöhnlich in den Konzerten nur Mädchen,
Sonderlinge und Engländer. Die Kritiker rechne
,ich in die Kategorie der Engländer, weil ich beide
nicht verstehe. Ein einziges Mal bei den vier Kon-
zerten, die ich in meinem Leben besuchte, traf ich
ein mehr humanes iWesen; der stellte sich dann
als Bürstenbinder heraus, der, hochbetagt, hier den
Verlauf seines Mittelohrkatarrhs und Ötostkerose
kontrollierte, weil er keine Stimmgabeln kaufen
wollte und Billets gratis bekam. Es ist für jemand,
der sonst nur sich ! unter den herkömmlichen Per-
sonen aufhält, ein kompromittierendes Oefühl, solch
Eintritt in den Musiksaal. Da steht und sitzt eine
Art Gilde herum, etwas kaum Ernsthaftes, so wie
Heilsarmee. Ach Oott, soviel Mädchen. Es ist
schlimm, daß bei uns die Musik herabgesunken
ist; es geht j!ir, wie der Tanzkunst; überail im
Vordergrund diese planlose, meist unbedeutende
Abart Mensch.

Nun hörte ich am Sonnabend Chopin, besser
Herrn Ignaz Friedman. Man lese in meiner
„Kalypso“ genauer nach, wie die Beziehung des
Vorführers zum Komponisten zu fassen ist. Die
Sängerin singt, weil sie eine Stirnme hat, nicht
weil es Mozart ist. Mozart »st Stoff, Kunst muß
entmaterialisieren; Spiritismus von hinten. Chopin
tanzte auf seinen zerbrechlichen Stelzen an mir vor-
über. Herr Friedman Spielte sehr interessiert und
wohlwollend mit ihm; er setzte sich gut in Szene.
Oft sprang er entzückend an ihm vorbei, fast noch
feiner als Chopin selber. Das genießerisch Leckere,
das Leichte, Oberflächliche, beiläufig Bemerkte, ge-
lang ihm gut; wenn es aber in Chopin kochte,
schwoll der Herr odematös auf Und hätte nur
bramarbasierend Öicke Backen. Kokett lehnte er
sich nach der Anstrengung wieder zurück, schmun-
zelt affektiert, überdehnte sich im Schmachten. Qut,
gut. Und so hätte ich dieses süßen Geistes Chopin
doch einen Hauch Iverspürt.

Am letzten Abend der Woche durfte ich das
ganz andere Böhmische Streichquartett liören.

Massive Temperamente, geistvolle Musiker yis-ä-
vis ihrem Material ,das (sich wie neugeboren aus
den Noten hbb. Keine faselige Stimmungsmache,
nichts von verderbter Süße. Sie brachten neben
einem Flaydn ein Dvorak-Stück — das mir immer-
hin arm und ungehobelt ersChien —, und ein Quar-
tett von Reuß. Dieses i’st sinfonisch gedacht,
orChestral instrumentiert, äugelt mit Wagner, Strauß.
Wäre es ein Theaterstück, würde ich es ablehnen;
so demonstriert es wieder die Elasltizität der Quar-
tettform, den Klangreichtum und relative Tonstärke
dieser vier Instrumentchen, die mögliche Poly-
phonie. Mögen auch die guten, der Dramatik ab-
holden Musiker nicht versäumen, in dieses Haus
einzukehren.

A1 fred Döblin

Tolstoj und Heyse

Man zweifelt, ob es heute große Männer mit
großen Beispielen gebe. Diieser Zweifel wird be-
seitigt durch die eimnütige Erregung, in der Jour-
nalisten des niedrigsten Niveaus über Tolstojs ein-
fache und bewundernswert konsequente Handlungs-
weise das Maul verzieihen.

In der „B. Z. am Mittag“ unternimmt es Ferdi-
nand Runkel, den Ullsteins naCh epochemachender
Wirksamkeit in der europäischen Hauptstadt
Rostock nach Berlin geholt haben, unternimmt es
F. R., die Leser seines Blattes zu beruhigen. Nie-
mand solle glauben, daß Tolstojs Flucht in die Ein-
samkeit ernst zu nehmen sei. Das europäische Fa-
milienieben solle sich nur nicht stören lassen. Die
ganze Sache beruht ja nur auf allgemeiner Qreisen-
taprigkeit, dementia senilis. Kein Leser der B. Z.
solle sich an dergleichen kehren, womöglich fiuch
Familie, Börse und Lektüre der „B. Z. am Mittag“
aufgeben. (Die besondere Infamie dieser Ullstein-
sChen PhilosOphie des Bauchesi besteht im Ver-
schweigen der Tatsache, daß Toistoj von Seiner
Frau auf die niedrigste Weise ausgebeutet wurde
— was wenigstens den Lesern Öer B. Z. die An-
gelegenheit ernster ;und verständlich'er gezeigt hätte.)

Qanz anders spiegelt siCh die Sache immerhin
im Kopfe des Herrn Karl Schneidt, eines Journa-
listen, der minder gebildete Leser durch seine
Exkrementalphantasie anzulocken versucht:

In seiner „Tribüne“, jenetn Blatt, das haupt-
säChlich von Arbeitern gelesen wird, unter-
steht er sich' zu schreibcn:

Ich persönlich habe mit nicht geringem Vergnügen
Notiz genommen von der soeben bekannt gewordenen
Tatsache, dass der ehrwürdige Papa Tolstoj auf seine
alten Tage seiner Gattin durchgegangen ist. Dass er
sich obendrein Vor den Freuden des häuslichen Herdes
in ein Nonnenkloster geflüchtet hat, finde ich wohl
begreiflich. Ich Würde an seiner Stelle ganz ebenso
gehandelt haben. Vorausgesetzt natürlich, dass man
mich in ein solches Kloster aufgenommen hätte. Für
Nonnen habe ich als ehemaliger Katholik noch heutigen
Tages eine kleine Schwäche. Das mag daher kommen,
dass ich als kleiner Junge das süsse Gebäck, welches

bei uns im Volksmund.(Das Wort ist nicht

Wiederzugeben. Die Redaktion.) heisst, für mein
Leben gerne ass Noch heute läuft mir das Wasser
im Munde zusammen, Wenn ich solcher Schmauserei

gedenke. Im Nonnenkloster aber Würde es mir doch
Wohl kaum an dieser ineiner Leib- und Magenspeise
fehlen. Hauptsächlich aus diesem Grund beneide
ich den alten Leo Tolstoj um dieses sein neuestes
Eriebnis . . .

Schneidt hat sich oft mit gleichsam umgekehr-
ten Byzantismus aufs servälste um die Ounst der
Arbeiterkreise bemüht. Jeder vveiß, daßi der Ar-
beiter sich eine Zeitung, die ihm Genossen emp-
fehlen, nicht zum Spaß kauft, sondern um sich
zu bilden. Die grenzenlose Qewissenlosigkeit
dieses Fäkalienjournalisten, der seinem Publikum
den Fall Tolstoj aus der Unterleibsperspektive be-
schreibt, soll nicht unbemerkt vorübergegangen
sein!

Das Berliner ‘Tageblatt gibt Aeußerungen des
Nobelgreises Paul Heyse über Tolstojs Flucht
Wieder:

Ein Mitarbeiter des Triester „Piccolo“ hatte in
München eine Unterredung mit Paul Heise, während
der auch iiber die Flucht Tolstois gesprochen wurde.
Heyse erklärte, Wie das italienische Blatt meldet,
wörtlich: „Tolstoi ist ein Komödiant. Es sind
Komödiantentricks. Wenn man achtzig Jahre im
Reichtum gelebt hat, kann man wohl sehr gut auch
die wenigen Jahre, die noch bleiben, im Reichtum
leben. Wenn Tolstoi nicht durch Familiengründe
bestimmt wurde, hat er diese Flucht er.tweder unter
Wirkung des Greisenalters oder aus Eitelkeitvolibracht.“

Dieser Jubelonkel hat’s nötig! Natür-
lich ist jhtn Tolstoj unangeneh'm, natürlich. Der
olle ehrliche Heyse hat aber auch gleich sein hoch-
stes Kriterium ;in die Debatte geworfen: Die Be-
hagiichkeit! Da häben w|ir’s, die Behaglichkeit.
Heyse hät ja seine iLebtage immer nur aus der
Familie und für die Familie gedichtet. Und nun
geht da so ein genialer Kerl äus Rußland im hohen
Alter von seiner Familie Wjeg? I, da muß ja die
ganze Heysesdhe Plüsdh'möbelkultur knacken! Der
gute Heyse wlird freilidh nidht so bald aus seiner
Behagiichkeit hervorkriechen.

K. M.

fieriiner Abendstimmung

Stumm wurden llängst die Polizeifanfaren',

Die hier am Tage den Verkehr geregelt.

In süßen Nebel liegen hingeflegelt

Die Lichter, die am Tag geschäftlich waren.

An Häusern sind sehr kitsdhige Figuren.

Wir treffen mandhe Herren von der Presse
Und viele von den aufgebausdhten Huren,
Sadistenzüge um die feine Fresse.

O komm! o konün, Geliebte! In Öer Bar
Verrät der Mixer den gehieimsten Tip,

Und überirdisch, himmlisch steht dein Haar
Zur Rötlidhkeit des Cherry-Brandy Flip.

Erns't Blass

Verantwortlich für die Schriftleitung:

HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
I. V.: Oskar Kokoschka

Wochen- Spielplan der Berllner Theater

November

Dienstag

22.

Mittwoch

23.

Donnerstag

24.

Freitag

25.

Sonnabend

26.

Sonntag

27.

Montag

28.

Theater mit gleiclibleibendem Spielplan:

Deutschea Theater

Schumannstrasse 13 a

Don Carlos

Faust

Hamlet

Judith

Herr und Diener

Herr und Diener

Sommernachts-

traum

Kleines Theater Dienst., Freitag u. Montag
Unter den Llnden 44 Joachim v. Brandt. An and.

Tag. Verfl. Frauenz./I.Kl:

Kammerspiele

Schumannstrasse 14

Komödie der
Irrungen / Heirat
wider Willen

Der verwundete
Vogel

Gawän

Komödie der
Irrungen / Heirat
wider Willen

Der verwundete
Vogel

Der verwundete
Vogel

Gawän

Modernes Theater n n_,_.

Köniffgrätzerstr. 57| 58 Der Doppelmensch

Leasingtheater

Friedrich Karlufer 1

Das zweite
Leben

Ibsenzyklus:
Eosmersholm

Wenn der junge
Wein blüht

Unbestimmt

Unbestimmt

Unbestimmt

Unbestimmt

Nnnes Theater Dlensta» : Kean- Mittw..-

Sch iffbauerdamm 4a|5 J^Soilnabenf Ä

KSÄÄ. D“ B» h™‘

Tosca

Tiefland

Die Bohfeme

Premiere

Abbe Mouret

Die Bohime

Zigeunerliebe

Residenztheater D Unterpräfekt

Blumenstr. 9a

Opernhaus

Am F ranz Joseph-Platz

Bajazzi

Cavalieria

rusticana

Walkiire

Barbier
von Sevilla

Meistersinger
von Nilrnberg

Liebestraum

Ai'da

Carmen

Trianontheater Der heilige H j

Pr. Friedr. Karlstr. 7 B

Neues

Schauspielhaus

Nollendorfstrasse 11112

Weh dem, der
lügt

Sternenhochzeit

Jungfrau von
Orleans

Wann kommst
Du wieder?

Premiere

Genoveva

Genoveva

Wann kommst
Du wieder?

Neues

Operettentheater Der Graf von Luxemburg
Schiffoauerdamm 25

Berliner Theater

Charlottenstr. 93

Der scharfe
Junker

Der scharfe
Junker

Der scharfe
Junker

Der neue
Kompagnon

Der scharfe
Junker

Der nene
Kompagnon

Der neue
Kompagnon

Theater des Die schönste Frau

Westens Freitag: Geschlossen.

Kantstrasse 12 Sonnab.: Das Puppenmädel

Königliches

Schauapielhaua

Gcnsdarmefimarkt

|üer Familientag

Der Krampus

Die Ränber

Wallensteins

Lager

Die Piccolomini

W allensteins
Tod

Der Krampus

Der Familientag


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