Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 56 (März 1911)
DOI Artikel:
Strindberg, August: Die Drangsale des Lotsen: Ein Märchen
DOI Artikel:
Pukl, Marie: Gedichte
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [16]: Ein Volksroman
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0451

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Läufer nahm noch kein Ende, als er sich am
Eingang einer Passage mit erleuchlelen Läden befand.
Rechts stand eine Personenwage und ein Automat.
Ohne sich zu bedenken, stellte er sich auf die Wage
und steckte das Geldstück hinein. Da er wusste, dass
er achtzig Kilogramm wog, musste er lächeln, als der
Zeiger nur acht Kilo angab. Entweder zeigt die Wage
yerkehrt oder ich bin auf einen anderen Planeten ge-
kommen, der zehn Mal grösser, oder kleiner ist als
die Erde, dachte er, denn er war auf die Navigations-
schule gegangen und hatte Astronomie gelernt.

Nun wollte er wissen, was im Automat lag! Als
das Geldstück hinunter gefallen war, sprang eine
Klappe auf, aus der ein Brief in seine Hand gesteckt
v urde. In einem weissen Umschlag mit grossem roten
Siegel. Er konnte es nicht entziffern. Das war
auch einerlei, da er nicht wusste, von wem es kam.
Er erbrach indess den Brief und las zuerst die Unter-
schrift, wie man es zu tun pflegt. Da stand . . das
werden wir später erfahren. Genug, er las den Brief
dreimal und steckte ihn dann in seine Brusttasche, mit
einer sehr gedankenvollen Miene: sehr gedankenvoll!

Dann ging er weiter in die Passage hinein, hielt
sich aber gewissenhaft mitten auf dem Läufer. Da
gab es alle möglichen Arten Läden, doch nicht ein
Mensch war zu erblicken, weder hinter noch vor den
Ladentischen. Nach einer Weile blieb er vor einem
grossen Fenster stehen, hinter dem eine ganze Aus-
stellung von Schnecken zu sehen war. Die Tür stand
offen, er trat ein. Vom Boden bis zur Decke waren
Gestelle mit Schnecken aller Art aus den vielen Meeren
der Erde gesammelt. Niemand war darin, aber es hing
ein Tabakrauch wie ein Ring in der Luft und schien
eben von jemandem ausgeblasen zu sein, der sich da-
nit unterhalten hatte, Ringe zu blasen. Viktor, ein
istiger Gesell, steckte den Finger durch den Ring und
sagte: Heil jetzt bin ich mit Fräulein Tabak verlobt!
Da hörte er einen wunderlichen Laut wie von einer
Uhr, aber es war keine vorhanden. Statt dessen
merkte er, dass ein Schlüsselbund den Laut von sich
gab. Einer von den Schiüsseln schien oben in die
Kasse gesteckt zu sein, und die anderen Schliissel
baumelten hin und her mit der regelmässigen Bewegung
des Pendels. Damit verging eine Weile. Dann wurde

ganz still und man hörte ein leises Brausen, wie
'wenn der V.'ind durciis Takelwerk zieht, oder der
i.antpf durcli ein schmaiss Rohr stromt. Es waren
die Schnecken, die brausten; da sie aber verschiedene
urössen hatten, waren die Brausetöne auch von ver-
schiedener Höhe, und es klang wie ein ganzes Orchester.
Viktor, der an einem Donnerstag geboren war und
darum Vogellaute deuten konnte, spitzte seine Ohr-
muschel, um zu erfassen, was sie brausten, und nach
einer Weile -kOnnte er es verstehen.

Ich habe den schönsten Namen, sagte eine, denn
:h heisse Strombus pespelicanus.

Ich bin die schönste! sagte die Purpurschnecke, die
Murex und noch etwas sonderbares heisst.

Ich singe schön ! sagte die Tigerschnecke, die

so genannt wird, weil sie wie ein Panther aussieht.



Still, still, still, sagte die Gartenschnecke, ich werde
am meisten gekauft, denn ich liege auf der Rabatte in
den Sommerfrischen. Sie finden mich langweilig, aber
sie müssen mich doch haben. Im Winter aber liege ich
in Holzschuppen in einem Kohlfass.

Das ist doch eine schreckliche Gesellschaft, die
nur sich selbst lobt, meinte Viktor. Und um sich zu
zerstreuen, nahm er ein Buch, das aufgeschlagen auf
dem Ladentisch lag. Da er die Augen bei sich hatte,
rnerkte er gleich, dass Seite 240 aufgeschlagen war,
und dass das Kapitel 51 auf der linken Seite anfing.
Ueber dem Kapitel stand ein Motto, ein Vers aus
Coleridge; und dessen Inhalt traf ihn wie ein Blitz.
Mit Röte auf den Backen und verhaltenem Atem las
er . . ja, das werden wir später erzählen, aber es
handelte von Schnecken, soviel können wir jetzt schon
sagen.

Der Ort gefiel ihm übrigens, und er setzte sich
nieder, jedoch nicht der Kasse zu nahe, denn das

ist eine gefährliche Nachbarschaft. Und er begann
über all diese wunderlichen Tiere nachzudenken, die
auf See gingen, wie er; warm hatten sie es nicht auf
dem Seegrunde, aber sie schwitzten, und wenn sie
Kalk schwitzten, so wurde es gleich zu einem neuen
Wams. Und sie wanden sich wie Würmer; einige

nach rechts und andere nach links; doch das war

klar, denn sie mussten sich nach irgend einer Richtung
winden, und alle konnl.n nicht gleich sein.

Da hörte er eine Stimme von innen aus der

Ladenkammer durch die grüne Gardine:

Ja, das wissen wir, aber was wir nicht wissen, ist,
dass die Schnecke des Ohrs eine Heiix ist, und dass
die kleinen Knochen am Trommelfell aufs Haar dem
Tiere in Limnaeus stagnalis gleichen, denn das steht
im Buch.

Viktor, der sofort verstand, dass er es mit einem
Gedankenleser zu tun hatte, antwortete freundlich aber
brutal und ohne irgendwie Erstaunen zu verraten durch
die Gardine:

Das wissen wir, aber warum wir eine Helix im
Ohr haben, das weiss das Buch ebenso wenig, wie es
der Schneckenhändler sagen kann . . .

Ich bin kein Schneckenhändler, brüllte der Unsicht-
bare aus der Kammer.

Was seid Ihr denn, brüllte Viktor zurück.

Ich bin . . ein Troll!

Im selben Augenblick wurden die Gardinen ein
wenig geöffnet, und ein Kopf guckte heraus, so ent-
setzlich anzusehen, dass jeder andere als Viktor die
Beine in die Hand genommen hätte. Er aber, der
wusste, wie man einen Troll behandeln muss, schaute
zuerst den rotglühenden Pfeifenkopf an, denn so sah
der Troll aus, wie er dastand und Ringe durch die
Gardinenspalte blies. Als ein Rauch näher kam, nahm
Viktor ihn auf den Finger und warf ihn zurück

Du kannst Ringe werfen, du, sagte der Troll
höhnisch.

Ja, etwas, antwortete Viktor.

Und bange bist du auch nichtl

Das darf ein Seemann nicht sein, dann mag ihn
kein Mädchen leiden.

Hör mal, wenn du nicht bange bist, so geh etwas
weiter in die Passage hinein, dann werden wir sehen,
ob du nicht bange wirst.

Viktor, der von den Schnecken genug bekommen
hatte, benutzte die Gelegenheit, sich zu entfernen,
ohne dass es aussah, als ob er fliehe, und ging aus
dem Laden heraus, aber rückwärts. Denn er wusste,
dass man nie den Rücken zeigen muss, weil der emp-
findlicher ist, als die Brust je werden kann.

Und er ging weiter dem blauweissen Läufer nach.
Die Passage lief in Krümmungen, so dass man nie
das F.nde sah. UnH immer gah es neue Läden, aber
keine Leute. Doch Viktor, der aus Erfahrung gelernt
hatte, wusste, dass sie in den Ladenkammern waren.

Als er an einen Parfumladen kam, der nach allen
Blumen der Wiese und des Waldes duftete, dachte er:
ich gehe hinein und kaufe eine Flasche Eau de Cologne
für meine Braut. Der Laden war dem Schneckenladen
sehr ähnlich, aber der Geruch so stark, dass er Kopf-
schmerzen bekam und sich auf einen Stuhl setzen
musste. Besonders ein Bittermandelduft verursachte
Ohrensausen, hinterliess aber einen feinen Geschmack
im Munde wie Kirschwein. Viktor, niemals ratlos,
nahm seine Messingdose mit dem Spiegel, und schob
eine Prise in den Mund, was das Gehirn klar machte und
die Kopfschmerzen fortnahm. Dann klopfte er auf
den Ladentisch und hallote:

Hallo, ist niemand da?

Keine Antwort erfolgte. Er dachte: ich gehe in
die Kammer hinein und erledige mein Geschäft. Er
legte die rechte Hand auf den Ladentisch, nahm einen
Anlauf und war mit einem Satze auf der anderen
Seite. Er schob die Gardinen fort und guckte in die
Kammer hinein. Da hatte er einen Anblick, der ihn
vollständig blendete. Auf einem langen Tische mit
persischer Decke stand ein Orangenbaum mit Blüten
und Früchten Das blanke Laub glich dem der
Kamelie. In Reihen waren geschliffene Kristallgläser
aufgestellt mit ailen wohlriechenden Blumen der Erde,
von Jasmin über Tuberose, Veilchen, Maiblume, Rose
hinunter bis zum Lavendel. An dem einen Ende des
Tisches, zur Hälfte von der Orange verborgen, be-
schäftigten sich zwei kleine weisse Hände unter auf-
gekrämpelten Aermeln mit einem kleinen Destillations-
apparat aus Silber. Aber das Gesicht der Dame sah
er nicht, und sie bemerkte ihn auch nicht. Als er
aber wahrnahm, dass ihr Kleid gelb und grün war,
wusste er, dass er eine Zauberin vor sich hatte.
Denn gelb und grün ist die Larve des Sphinxschmetter-
Iings, die auch das Auge blenden kann. Was bei ihr
hinten ist, sieht aus als wäre es vorn; sie hat ein
Horn wie das Einhorn, so dass sie ihre Feinde mit
dem falschen Gesicht erschreckt, während sie mit dem
isst, das wie das Hinterteil aussieht.

Viktor dachte: hier werden wir handgemein werden,
doch fang Du an! Sehr richtig, denn will man Leute
zum Sprechen bringen, so muss man nur schweigen.

Sind Sie der Herr, der die Sommerfrische sucht ?
fragte die Dame und trat vor.

Das bin ich, entgegnete Viktor, um nicht die
Antwort schuldig zu bleiben. Er hatte nie an eine
Sommerfrische im Winter gedacht.

Die Dame wurde verlegen. Sie war schön wie
die Sünde und warf dem Lotsen einen verzaubernden
Blick zu.

Es lohnt nicht, dass Du mich zu verzaubern
suchst, denn ich bin mit einem guten Mädchen ver-
lobt! sagte der Lotse und sah ihr zwischen Ring-
und Mittel-Finger, wie es Hexen tun, wenn sie den
Richter bestechen wolien.

Die Dame war oben jung und schön, aber nach
unten von der Mitte an sehr alt. Sie schien aus
zwei Stgcken zusammengeflickt zu sein.

Nun, lass mich die Sommerfrische ansehen, sagte
der Lotse.

Bitte, antwortete die Dame und öffnete eine Tür
im Hintergrund.

Sie gingen hinaus und befanden sich in einem
Eichenwald.

Nur durch den Wald, so sind wir da! sagte die
Dame und bat den Lotsen, voran zu gehen, denn sie
wollte ihm natürlich nicht den Rücken zukehren.

Hier wird wohl der Stier sein, ich verstehe, sagte
der Lotse, der die Gedanken beisammen hatte.

Du hast doch nicht vor dem Stier Furcht?

Wir werden sehen!

Schluss folgt

Qedichte

Von Marie Pukl
Erlebnis

lch könnte sammtene Falten

um Deine hohe Schlankheit schmiegen.

Es sollte meine tastheisse Hand

verloren in Deinem Wirrhaar liegen —

Die volle Rose biete mir,

die um das feuchtweisse Biinken blüht

Was weisst Du?

Soli ich Dich locken?

Sol! ich Dich nehmen
ehe die Sehnsucht
im eigenen Purpur verglüht ?

Frühlingstag in der Fabrik

Sausend läuft der Riemen
und die Eisenwellen wirbeln,
wirbeln im Gesause schwerer Wogen,
die im Ohre herrisch branden —

Im Fensterrahmen: Blauseligkeit,
der Himmel, Sonne und Luft.

Eisenkalte Formen
wollen Kribbelzitterstösse
tief in meinen Körper tauchen,
und ein heller Faden rinnt
endlos weiss durchs Augenfeld.

lm Fensterrahmen: ein Vogelhusch
schwarzschattend in goldblauer Luft.

Unbewusste Intervalle
formt der Linke Hebelheben
im Gesetze der Bewegung,
doch die Rechte füllt sie aus
mit bedachten Fingergriffen . . .

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

LXI

Die Sprache der Natur

Der Herr Bartmann hatte auch in heftigsten Aus-
drücken erklärt, dass die bunte Krankheit ebenfalls

445
 
Annotationen