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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 32 (Oktober 1910)
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Prokop: Flaubert
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Lasker-Schüler, Else: Der Sohn der Lîlame
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Altenberg, Peter: Djellah
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Fortschritt: Niederungen der Bedürftigkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0260

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Geistigc umgesctzte Don-Quichotterie. Aber balti
gleitet Flauberts Satire aus der Persönlichkeit jns
AHgemeine. Seine Helden sind Dilettanten, und
deshalb mißlingt ihnen vieles, vieles aber aucb,
vveif die Wissenschaft selbst, die sie gerade durch-
nehmen, ein Dilettantismus ist. Nun wird das Buch
eine Verhöhnung der Wissenschaft, von der Agri-
kuftur, über Chemie, Medizin und hundert andere
Etappen bis zur Philösophie, Religion herauf. Alles
ist widersprechend, teichtsinnig, ja hirnverbrannt.
Ein Dossier der menschlichen Dummheiten entrollt
sich, ein Bachanaf der Skepsis... Die künstlerische
Neuheit des Werks fiegt aber nicht etwa in dieser
heftigen Satire, wie Flaubert selbst in manChen Brief-
stellen und zahlreiche Kritiker meinen, sondern
darin, daß Flaubert als' erster die Schönheit des
trockensten Stoffes beschwört, die Poesie des
wisSenschaftlichen Dunstkreises. Er beschreibt hier
Biicher wie Landschaften, Systeme wie Kata-
strophen. Mit drei Worten wird ins Herz
einer Geistesrichtung getroffen. Seine ungeheure
Kraft zeigt sich in der zwanglos mitlaufenden Er-
zählung, in der Verbindung der Teile. Wie die
Freunde, von der Hygiene enttäuscht, zu einer tüch-
tigen Mahlzeit zurücksChnellen und dann gesättigt
(selbstverständlich) die Sterne betrachten, ein biir-
gerlicheS Gespräch iiber Astronomie loslassen. Wie
sie, miide des politischen Lebens, sich in der Liebe
üben ... Und unfehlbar gibt Flaubert alle Gemein-
pfätze, die man iiber ein Thema sägen kann. Das
Gerede Pelferins in der „Education“ war nur ein
kfeines 1 Vorspiel. Hier schwillt das Stupide, das
Unzufängliche in gigantisChe Maßstäbe. Die fünf-
zehnhundert Bücher, die Ffaubert Vorarbeitend
durchgelesen hat, wirken schließlich wie ein er-
habeneS 1 Denkmal, ohne dadurch ihre Lächerlich-
keit zu verlieren. DieS' alles zwisChen zwei bejahrte
Männer gelfegt, ihre rührende FreundsChaft, ihr un-
ermüdlicher Eifer, ihr sympathisches Pech: ein neuer
Typ des Grotesken ist gebildet, selbständig und
isofiert wie alles, was der Große berührt hät. Der
fünfte Roman: die fünfte Einsämkeit.

Esi wird gut sein, wenn man statt in biographi-
sChen und Weltanschauungs-Zusammenhängen die
Bedeutung Flauberts in dieser fünffachen Ori-
ginafität erkennt.

Die Werke Fläuberts, Romane, Novellen, Briefe,
liegen nun in deutscher Gesamtausgabe vor. Durch
das Erscheinen des nachgelassenen Romans „Bou-
vard und PeCuchet“ ist sie in diesen Tagen voll-
ständig geworden. Alles Lob dem kulturbewußten
Verfag I. C. C. Bruns, dem gelehrten Heraus-
geber D r. F i s c h e r, etwas weniger ihm als Ueber-
setzer. Die Dramen und Jugendwerke Ffauberts
werden vielleicht später noch angefügt. . . . Doch
steht zu erw rarten, daß schon in dieser Form die
Ausgabe, riChtig erfaßt, eine starke Umwälzung
des deutschen Schrifttums und der literarischen An-
sichten hervorbringen wird.

Der Sobn der Lllame

- i\. Ä*.

Von Else Lasker-Sehüler

Als Lflam'e, Üie Getnählin des Großveziers, noCh
in ihrem Schöß Üen kleinen Mehmed trug, ge-
schah es, daß unter ihrem Fenster eine Gaukler-
bande mit hellblauen Flachsperücken ihre Späße
trieben. Und als Mehmed auf die Welt kam,
ringelten sich mitten auf seinem Kahlköpfchen zwei
ganz kfeine hellblaue Wollhärchen. Seine Mutter
Liläme soll schwermütig darüber geworden sein,
und sein Vater, der Großvezier, ließ alle Friseure
des Landes in den Palast rufen, aber die standen
ratlös um den hellblau keimenden Haarboden seines
Sohnes. Und Mehmed wurde der Welt böse, als
er zum erstenmal mit seinem GouVerneur durch die
Straßen Von Konstantinopel spazierte. Die reichen
und die armen Leute hielten sich die fetten und
die hageren Bäuche Vör Lachen. Und einige von
ihnen wurden sogar händgreiflich und zupften an
den Spitzen seiner hellblauen Locken. Aber äls
Mehmed älter wurde, gewährte es ihm einen un-
erkfärlichen Reiz durch die lachende Volksmenge
zu schreiten. Seiner Locken Bläu hob sich grell
ab von der Zitronenfarbe seines Turbans. Und in
jedem Jahre einmaf kam der Tag des großen
Köpfens. An dem wurden afle, die sich des Lachens
b'ei seinem Anbllck nicht enthalten konnten, in den

2S4

weiten Vorhof seines Pafastes geladen. Der Sohn
des Großveziers saß dort auf einem steinernen Stuhl
und zwang seine Opfer, sich noch einmaf so un-
gebührlich zu gebärden, wie sie siChs vor ihm auf
den Straßen Konstantinopels hatten zusdhulden
komtnen lässen. Aber die Leute zitterten Vor
Nöten, und namentlich die Kinder heulten, denn
auf einer Wetzbank fagen krummgebogene SChlacht-
messer wie bfitzende Mondsicheln, in jeder Größe
für jeden Hafe passend. Aber es ist nodh nie eines
von ihnen blutig geworden, denn Mehrned erlöste
die Quaf der Schuldigen, indem er sie vor ihrer
Hinrichtung wieder in ihre Wohnungen schickte.
Und man betrachtete den Sohn des Großveziers
bäld mit scheuen Blicken. Die Lachlustigen ver-
bargen ihre Gesichter, wenn sie ihn von ferne
herannahen sahen. Und die aften Weiber auf
den Pfätzen, die Spezereien und Kräuter
feilböten, tuschelten sogar vön der Wunder-
kraft seiner heiligen, hellblauen Haare. Aber
Mehmed war der Welt böse. Doc'h weil er sie so
liebte, begann er seine außergewöhnlidhen Haare
mit flüssigem Kalk zu verkleistern. Und als ich
ihn eines Abends also tun sah, trat idh in den Garten
zu ihm, er saß am Rand des Spiegefeees, und sein
Haupt war wie ein Stückchen Himmef, was in das
kfeine Wasser gefallen War. „Was beginnt Mehmed,
mein lieber Vetter?“ Und ich wehrte ihn, sein
Vorhäben weiter auszuführen, denn ich empfand
jedesmal eine Propbezeiung beim Leuchten seiner
helblauen Haare. „Mehmed, du bist ein Weiser
und bist ein Narr, da du es nicht weißt. Und wenn
du auch die sdhwarzen Haare deines Vaters oder
die braunen Lodken Lifames, deiner Mutter, trügest,
dich hätte das gleichc Geschick ereilt.“ Ich zeigte
in den See. „Deine Stirne ist mit Gofd besdhrieben,
wie sollten die Unwissenden ihre Spradhe deuten
können, und deine Augen blicken in eine andere
Wel't.“ Und wir stellten nodh am selben Abend
eine Probe an, er Verbarg seine heflblauen Haare
tief im Tutbän, und idh säh redht deutlich durch
meinen Sdhfeier, wie sich die Vorüberschreitenden
neugierig anstießen und ihre Lachlust ihm galt.
Aber Mehined wandelt steitdeim' nur nodh ! vOr mei-
nem Gitterfcnster des Harems auf und ab, bis ich
zu ihm in den Garten trete: Seine hel'lblauen Locken
läßt er sich nicht mehr nach Landessitte beschhei-
den, sie haben sdhon die Länge seines Rückens
erreidht; und eines Abends am Spiegefeee oTfen-
barte er mir, ihn beseefe die tiefe Erkenntnis, er
sei tat&ächfich ein Weiser und größer alsi alle seine
Nebenmenschen, afe Mond und Sterne. Und er
könnte seine unumstößl'iche Erleuchtung nur damit
begründen, daß er ein Zwifling Allahs! sei. Audh
würde er ferner nidht mehr über die Straßen Kon-
stantinopefe sdlireiten und die winzigen Mensöhen-
haufen zertreten, das Vertrüge sidh nidht mit seiner
Weisheit. Aus versdhiedenen Ländern läßt er
Geometer kommen, wefehe die Höhe der Granit-
säufen feststellen sollen, auf denen das Dadh seines
Pafastes ruht. Er geht Wetten ein, natürlidh gewinnt
er immer. Er ist ja beträdhtlich größer als die
steinernen Träger. Und die Pyramide jenseits des
Ufers hat er sefbst mit den Klötzen auS den Bau-
kästen der Haremskinder aufgebaut. Und die mädh-
tige Mosdheekuppel ist ein Punkt gegen seinen
Kopf. Und sein Vater, der Großvezier, erbaut sich
an der heiteren Laune seines sonst so sch’wer-
brütenden Sohnes; übersteigen seine Späße dodh
die Sprünge der Gaukfer Vor detn Palast. Aber
ich werde tägfiöh Schwermütiger, wie Lilam'e 1, seine
Mutter. Und es wär in aller Frühe, die Priester
hätten nodh nicht die Gebete verrichtet, afe ich
Mehmeds Stimme VOr meinem Fenster höre. Er
schwenkte eine Zeitung triumphierend wie eine
Siegesfahne durch die Luft. Und er ließ mir kaum
Zeit, die große Neuigkeit zu fesen. Es handelte
sidh um ein Efefantenriesenmönstrum aus Ost-
Indien. AugenbliCklich weilte es in der Kaiserstadt
der Deutschen, im Abendland. Fünfundzwanzig
sdhwarze Mehmed - Diener müssen sich zur
Reise bereit halten und außerdem die Hoch-
gestelltesten im Palaste, und ich, seine Base,
die idh’ seine Weisheit zuerst erkannt habe.
Auf der Fahrt übter die Gewässer vterhielt sicb
Mehmed auffallend schweigend, nur münchrnal
steigt ein Siegesfädheln jäh wie auf Meileneile über
sein Antfitz und verklärt seine hellblauen Haare.
— Umzäumt von drei Eisengittern gewahrten wir
GoIiathOfoles, das Riesenmonstrum, und in den
Nebenkäfigen die anderen Efefanten, die ihn kopf-
schüttelnd begaffen. Er war gerade im Begriff,

zwei Kessel Wasser auszusdhlürfen. Auf eine Ein-
gabe hat die Hauptstadt die Kessel der Gasanstalt
dem hohen Gaste zur Vetfügung gestellt — und
der Westen war ohne Befeudhtung. Goliathofoles
war so groß — um gewissenhaft zu beridhten:
auf seinem Kopf läg Sdhnee. Aber nichtsdesto-
weniger Verstand er mit seinem Rüsstel die Orgel
zu drehen und namentlich die Trommel zu schla-
gen. Heute aber weigerte er sich entsChieden, seine
Kunststücke dem Publikum vorzutragen. Trotz der
viefen Zudkerhüte, die für ihh zur Belohnung in
BereitsChaft standen. Mehmeds sChmäChtige Glie-
der krampften sidh vor Ungeduld und die
fiinfundzwanzig Diener seiner Haut spannten
ilire Vofle Kraft an, utn das Vorhaben ihres
Herrn zu verhindern, in den Käfig einzudringen.
Mit zugespitzten Lippen, girrende Töne
flötend, versuchte er das unfolgsahie Riesen-
tier zu ermutigen. Bisquitkrümel warf er in sein
höhfenaufgesperrtes Mäulchen. Er duckte sich
immer kleiner, damit Goliathöfoles auch den auf-
munternden Trommelwirbel seiner Hände auf dem
Gesäß eines seiner Diener vernehmen könne.
„Gutes Kiehnd, gutes Kiehnd....!“ Einen so köst-
lichen Prinzen hat das Publikum in seiner Haupt-
städt nodh nicht empfangen. Mir aber rannen
schmerzende Tränen über das Herz.

Djellah

Von Peter Altenberg

Stets bctrachtete ich diesen speziellen Typus
von adeligster schlankster brauner Frauenschönheit
afe meine geliebten vergötterten Kinddhen. Ich
meine iin diesern Falle die malerische Tänzerin
Djellali. Nicht was sie kann, was sie ist, ist ihr
Besonderes! Ihr Sinn, die Form ihrer Glieder, der
Ausdruck ihrer Augen, die Modellierung von Stirn
und Nase, die Farbe -ihrer Haut, die Zartheit ihres
Wesens ist ihr Besonderes. Man würde sie ebensö
verehren, wenn sie fangsam durch Lianenwälder
stihritte oder in einem kfeinen Rindenboote säße
oder in einem Dorfe vor einer niederen Hütte
kauerte —. Sie repräsentiert eine andere Welt, eine
stihlänke, biegsame, braune W-elt, erfüllt mit natür-
licher Anmut und sanfter Bewegungsfreudigkeit.
Die unbeschreibliche Schönheit ihrer gelbbraunen
Beine zu sChilüern wäre geschmacklos. Vor Idealen
Verstummt man, falls inan n’iclit ein ganzes
Feuilleton darüber zu sdhreiben den ehrenden Auf-
trag erhalten hätte. Da freiliüh muß män loslegen,
doute que öoute. Djeilah ist in der Richtung der
herrliChen Ruth St. Denis; nur leidenschaftsloser,
weniger prunkvoll, selbstverständlicher, ohne Cobra-
Gift-Dekoration. Um so edfer und wertvolfer. Bei
uns kümmert man sidh feider noch immer viel zu
Vief um das „Können“ v-on Mensdhen als aus-
schließlich um ihr „Sein“. Das Erlernbäre ist „er-
lernbär“, aber Vor dem „Unerlernbaren“ irt jeg-
lidher Ritihtung, da müssen wir „Habt Acht!“
stehen und ehrfurdhtsvoll salutieren. Heil Djellah!
Können, erfernen ist gar nitihts; abdr es Von Stihick-
safe Gnaden mitbekommen haben, Glieder, Hände,
Füße, Gefenke, Teint, das ist das wirklitih Beson-
dere auf Erden.

Bei Gclegenheit ihres Auftietens in Wien

Fortschritt!

Niederungen der Bedürftigkeit

Der Königsberger Naturforsdhertag hatte das
Berliner Tageblatt so aufgeregt, Üaß es be-
stihlbß, seinem Leserkre-is autih einmäl wissen-
schaftlich zu kommen. Zu diesem durchaus p-äda-
gogistihen Zief wurde ein unglücklicher Presse-Greis
abkommandiert, der sich äber mit Händen und
Füßen gegen seine Aufgabe gewehrt zu haben
scheint. Dieser Bedauernswerte ging offenbar von
der Absidht aus, dem Publikum des B. T. das
GeheimnisVolle aller Wissenschaft schon durch
scinen Stil zu weisen. Der Verfasser — J. Kastan,
möge sein Natne überliefert sein — macht schön
Öurtih den Titel seines Artikels auf die Schwierig-
keiten des naturwissenstihaftlichen Studiums auf-
merksarn:
 
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