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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 6 (April 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Zirkuspferde
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Döblin, Alfred: Christentum mit Posaunen
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Bimini: Faule Ostereier
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Fortschritt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0049

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Zirkuspferde

'ch

Der Tempel der Pferde ist der Zirkus,
tneine, jedes Pferd will spielen und das
e lßt auf die Sprache des Wieherns, beten; alle Tiere
g°Hen spieien, aber welche Tieraugen brennen vor
e^ e>steru ng so tief wie die des Rappen; die Schim-
e* sind fromme Pilger oder Heilige; Päpstinnen,
V; le Santa Anna, Leo ritt auf ihren unbefleckten,
' e|ßen Rücken zwischen fromme Hecken seiner
aPstlichen Gärten. Ich gehe jeden Monat in den
j/oßen Zirkustempel Busch, zu jedem Feiertag der
j, erde, zu ihrem Galadienst. Am liebsten sind mir
(i re Feier ohne vielerlei Aeußerlichkeiten, wenn sie
'>gesattelt ohne Reiter oder Reiterinnen sich
n nzcnd im Kreise bewegen, ihr eigenes Blut feiern
fj ach Herzenslust. Gefallen lasse ich mir die drei
jr eSchwister Fillis im Zirkus Busch, des berühmten,
p anzösischen Reiters Reitlinge. Die stören den
nVtus des Pferdespiels nicht; ihre Gestalten sind
.. °st schlankgeweiht dem Ritt. Mademoiselle Filis,

' e Schwester der beiden jungen Chevaliers ist ver-
achsen, wie ihre Brüder, mit dem Rücken ihres
,J ehernden Priesters. — Mein Vater und meine
jPtter ritten durch die Akazienchausseen meiner
^'iriat; meiner Mutter Edelstute wallfahrtet oft
p Urch meine Erinnerung und trägt mir dichterische
ledanken zu und meines Vaters Hengst setzt über
j, e>» Blut und läßt es aufschäumen. Ich liebe euch,
i r Pferde mit den langen Seidenschweifen, Atlas
j, 1 eure Haut und feuerfarbener Samt eure Augen.

' n>che Schönheit ist die Frömmigkeit der Pferde,
e?dchtet, spielfähig und buntgebenedeit. Ich
,1 ußte keine andere Stätte, die den Namen Tempel
jJ r Pferde verdiente. wie den Zirkus. Etwa der
^»nstall? Prostituiertes Pferdepriestertum.
^peten“ heißt „Spielen“ der Pferde und gibt es
^‘ nen Iustigeren, weihevolleren Sandtempel, als der
' lrkus. — Hochmütig ihrer Zucht bewußt, schütteln
ci e Herrenpferde ihre Mähnen, kehren verächtlich
e. frn Liebesäugeln einer dreisten Lastpferdin oder
c, lne>‘ brünstigen Dickschenkelin ihres Pferdevolkes
^ en Riicken Sie gehen kcine Mesalliance ein.
^ J|ücklich macht mich der Anblick eines Reiters,
er sich dem Denken seines Trägers an.

•y. le denkt sein Pferd, sein wohlgepflegtes Pferd?
rabweise, sprungweise, gallopierend, immer in
j Jedanken, treu seiner Bewegung. Und das
Pcrträgt sich dem Kavalier und seiner Dame,
albpriester der da oben, Halbpriesterin, die auf des
j er(fes Rücken. Voll Spiellust sind die Füllen;
den Morgen wartete ungeduldig so ein Nimmer-
. U(fes auf mich und meine Schulkameradin. Uebcr
v en Zaun auf seine Wiese sprangen wir schul-
^ erftessend — wer von uns Drei wohl am liebsten
jJ ck spielte! Darum empfinde ich schmerzlich jede
j,. lßfiandlung der Karrenpferde. Bang wie Regen
^ eßen die dunklen Lider über ihre trüben Augen.

> e denkt so ein Pferd? Kummer bedrückt sein
tr erz und beugt seinen verhärmten Kopf. Manchmal
j. n^fet der Braune den Schwarzen oder der Apfel-
jr n>inmel die müde Apfelschimmelin. — Wie futter-
eudig hingegen an ihren fetten Trog denken die
. arkjgen Erntepferde; an den Seiten des
£°Pfes tragen sie den blanken Messingschmuck.
d. We>, vier Kinderhände, vom reichen Schulzen
J e Buben, halten sich an den Strähnen der
n a^»e des schnaubenden vierbeinigcn Bauern fest
Gnige Plumssäcke liegen auf dem Hinterviertel
e lnes stampfenden, drallen Pferdeweibs. Ich liebe
q ch alle ihr Pferde, auch die Zwergpferdchen aus
Ußivers Zwerglande im Zirkus Busch.

Else Lasker-Schüler

Dompteure Eisbären haben tanzen lassen, treiben
heute Pastoren ihre Lämmer zu Paaren. Aber als er-
freulichen Fortschritt bemerkt der Christ, dass man
jetzt Volksbewegungen mit faulen Witzen einleitet.
Besonders die Wendung: man werde in Deutsch-
land ob seines Christentums verhöhnt und verfolgt,
erregte allseitige — religiöse Begeisterung. Wir
wissen ja zu gut, daß Heiden, Juden und ähnliche
Sozialdemokraten die leitenden Stellen in Heer,
Marine und Regierung innehaben, daß das christ-
iiche Glaubensbekenntnis den Zutritt auch zur
bloßen Reserveoffizierstelle versperrt, daß man in
Berlin oft dreißig bis fünfunddreißig Schritt gehen
muß, ehe man eine Kirche trifft. Eine Großmutter
soll sterbend gesagt haben, sie habe in den letzten
zehn Jahren von ihrem Fenster aus keine einzige
Kirchenglocke in Berlin gehört; — sie soll allerdings
seit zehn Jahren taub gewesen sein. Die religiöse
Not unserer Tage ist groß, aber diese Zustände sind
himmelschreiend. Ich möchte bei der Gelegenheit
die Blicke der Gläubigen auf die Kamelkämpfe in
Kairuan im südlichen Tunis hinlenken. Ganz Afrika
wandert dorthin, die Luft ist frischer als im Zirkus
Busch, das Amüsement groß. Besonders die Stadt-
mission wird dort auf ihre Kosten kommen. Denn
die Kamele fressen mit Vorliebe die trockenen
Schrippen, welche die Mission in Berlin nicht los
wird, und sie verschont dann Berlin mit ihren auf-
geweichten Redensarten.

Alfred Döblin

^hristentum mit Posaunen

j.j.. Zirkus Busch fand am Charfreitag eine reli-
^pse Versammlung statt, welche die Berliner Stadt-
pJ ssion einberufen hatte. Zwei Pfarrer und ein
rstmeister sprachen; unter Posaunenschal!
^ nSen alle fromme Lieder. Es ist gegen die Ver-
j^ et>dung von Posaunen zur Einleitung religiöser
fjg^gungen nichts zu bemerken; ich habe gehört,
j.. üie Botokuden be» ähnlichen Gelegenheiten
^ r»|e Hölzchen in die Nase stecken und durch ab-
I, ecnSeIndes Zuhalten und Oeffnen der Nasenlöcher
^ Ceutende Effekte erzielen. Und schwerlich wird
?e an ^ eu Zirkus bemängeln dürfen; er bietet Platz
n n»5t für seelische Erhebungen im luftleeren
jj Urrie' für Uebungen im Augenverdrehen (sechzig
mdrehungen in einer Minutel); und wo gestern

Faule Ostereier

Wenn der Berliner Lokalanzeiger seine lite-
rarische Osterkollekte veranstaltet, lassen sich jene
nicht lumpen, die sich im Geiste dieses Blattes für
berühmt lialten diirfen. Von Oscar Blumenthal über
Otto Sommerstorff, den Erholungspoeten meines
Friseurs, bis zu Robert Steidl. Eine liebliche Ver-
sammlung! Die führenden Geister der deutschen
Nation! Der Weltgeist bleibt intakt, weii niemand
im Lokalanzeiger Ostersprüche von Heinrich Mann
oder Alfred Mombert suchen wird, oder von anderen
Männern, die der Kunst oder der Kultur gedient
haben. Aber der deutsche Menschenverstand ist
wieder mal durch die Lieblinge des Volkes blamiert
worden.

In dem Wetteifer der großen dramatischen
Nationalkitscher Blumenthal und Fulda, ihre ge-
sammelten Primitivitäten zu -unterbieten, bleibt
dieses.Mal Fulda Sieger.

Ostern — Auferstehungstag
Dessen, was erstorben Iag.

Künstler, statt nach Ruhm zu haschen
Durch erk'ügelt Ueberraschen,

Lern’ 1m Buch des Frühlings lesen,

Der sich selber ewig treu,

Alles ist schon dagewesen,

Aber dennoch wieder neu.

Dienstboten und Hausdiener Deutschlands! Ihr,.
an deren Adresse diese Anstrengung gerichtet ist
schöpft Trost aus dieser Trostlosigkeit.

Kassenboten und Aufwaschfrauen Deutschlands.
verzichtet auf die Verse Georg Engels, denn er hat
noch schlechtere Stücke geschrieben als Fulda.
Vergeudet nicht Eure Andacht an den Strophen
Anna Ritters, die Eure Brotherrn ihren Gattinnen
auf den Weihnachtstisch legen. Erbaut Euch lieber
an dem, was BrunoWille zu Ostern einge-
f&llen ist.

Gestorbene gibt’s mit atmendem Leibe,

Sie suchen das Leben im Zeitvertreibe.

Doch hilft nicht Theater, nicht Ostseebad,

Der Sekt wird schal, zum Ekel der Skat.

Sie schleifen mit sich ihr Leichentuch.

O Hei'and, löse den Hexenfluch!

Wo steckt die Hexe? In Dir, in Dir!

Du tötest Dich selber, Gewohnheitstier.

Philister! Wärest Du jung geblieben!

Versuche mal kindlich zu staunen, zu lieben!

Und die grämliche Welt — nur aufgeschaut! —

Ist zauberhaft neu, eine junge Braut.

Nur aufgeschaut, all ihr grämlichen Logen-
schließer, ihr Oberschweizer und Kuhmägde. Zu
Euch spricht der Poet des Lokalanzeigers, Euch
tröstet der Gütige, an Euch denkt Paul Meyerheim,
wenn er sagt:

Ich woüte, dass die deutsche Kunst
Auch wieder käme hoch in Gunst,

Dass der Geschmack, der arg verhunzt,

Nicht länger schwel’ in blauem Dunst.

Ja, ja, ja, ja, ja! Leset nicht die letzJe Zeile
dieses geharnischten Gelalles, letzte aller Prosti-
tuierten, Iest sie nicht! Befleckt nicht Euer Scham-
gefühl: hier ward die deutsche Sprache von einem
Senilen genotzüchtigt. Aber sonst hat er Recht, der
aime alte Mann —, der Geschmack scheint wirklich
arg verhunzt zu sein. Schade, daß der Dichter
selbst außer der Malkunst nun auch die Dichtkunst
darin stört, in Gunst zu kommen.

Am heiligen Ostersonntag, bei Morgenkaffee
und Sandtorte liest der Berliner Normalfamilienvater
den Seinigen die Ostereiersprüche des Lokal-
anzeigers vor: Weisheiten und Wahrheiten derer,
die nie begreifen werden, daß die deutsche Sprache
kein Freiwild und die Kunst keine Hure ist. Und iti
den dünnen Duft des Familienkaffees mischt sich

der erstickende Atem verfaulter Ostersymbole.

B i m i n i

Fortschritt!

Wie sich der Fortschritt kleidet

Die Zeitschrift „Frauen - Fortschritt“ ver-
öffentlichte folgende Briefkastennotiz:

An mehrere Einsenderinnen. Sie beschweren
sich darüber, daß der „Frauen-Fortschritt“ in seinem
Inseratenteil eine Korsettanzeiee bringt. Auch
wir sind ganz der Ansicht, daß der Fortschritt der
Frau eine gesundheitlich und künstlerisch ein-
wandfreie Kleidung bringen muß, wir werden in
unserm Text stets nur unter hygienischen und
ästhetischen Gesichtspunkten die Mode beleuchten.
Uebrigens sind schon viele erste Korsettfirmen mit
Erfolg dazu übergegangen, die Fabrikation von
wirklich gutem Korsettersatz zu betreiben, der
Wille des kaufenden Publikums kann, wenn es sich
stark genug Bahn bricht, allmählich die gesamte
Industrie in dieser Richtung beeinflussen. Eine
Möglichkeit, unsern prinzipiellen Standpunkt
im Inseratenteil des Blattes zum Ausdruck zu
bringen, steht uns leider nicht zu.

Korsettersatz, Kaffee-Ersatz. — Ersatz,

.— Ersatz usw. Nicht weniger interessant

wirkt aber in derselben Zeitschrift folgendes
Inserat:

Lebensgefährtin ins Ausland gesucht.

Suche gesunde Dame, furchtlos, entschlossen, eeistig und wirt-
schaftlich selbständig und unabhängig. Entwickelte Persönlich-
kelt mit Verständnis für Menschen, Natur-, Kunst- nnd Sprachfn-
kenntnissen.J

Wir haben hier offenbar eine der bekannten
Mädchenhändler-Anzeigen, an der nur erstaunlich
ist, dassihrseinAutorersichtlich auch unterdenAn-
hängern des „Korsett-Ersatzes“ passende Ware für
die Häuser von Marseille oder Rio de Janeiro

vermutet.

Im Dienste der Wissenschaft

Das angeblich „wissenschaftliche Institut“ der
Urania zu Berlin behauptet durch seinen Titel in
dem Dienste irgendeiner „Wissenschaft“ zu stehen.
Welcher, war von jeher unklar. Das Institut wurde
von dem bekannten Unfugs-Astronomen Wilhelm
M. Meyer gegründet, der in seinen Büchern mehr
Popular-Unsinn quatscht, als ein ganzes Schock
wirklicher Gelehrter je träumen kann. Die Urania
fiihrte Iange Jahre unter der Marke „Wissenschaft“
nette Wandelbilder vor, die vor Jahren einmal ganz
gut in die Mode der Zeit paßten. AIs das nicht mehr
zog, kamen die epochemachenden „wissenschaft-
lichen“ Vorträge mit — kolorierten! — Lichtbildern
heran, wie zum Beispiel „Rügen,“ oder gar „Rom
und die Campagna.“ Neben dem wissenschaft-
lichen Theater“ liegen die „Demonstrations-Säle“,
das heißt Räume, die vollgestopft sind mit Modellen
von physikalischen Apparaten, welche detn
Wissenden garnichts Neues, dem Laien aber auch
nicht die Spur von theoretischer Erkenntnis
bringen, sondern nur den plumpsten Spieltrieb be-
friedigen. In diesem Hause nun lässt ein Oberlehrer
Dr. Driesen einen Vortrag „Der Kinematograph im
Dienste der Wissenschaft“ halten. Es soll gezeigt
werden, wie das Programm verheißt, was der Kine-
matograph in der Wissenschaft und Kunst leisten
kann. Unter dem Begriff „Wissenschaft“ müssen
Bilder rangieren, wie Baumwoll-Ernte, Shackletons
Südpolarexpedition: Aufnahmen in dem seit Jahren
bekannten Kientopp-Stil. Dann eine Operation, bei
der gerade nur das amüsante Beiwerk aufge-
nommen ist, und die offenbar nur der Eitelkeit des
betreffenden Operateurs dienen soll. Der Kine-
matograph „im Dienste der Kunst“ aber zeigt —
man sollte es doch nicht für möglich halten — jene

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