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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 8 (April 1910)
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Kurtz, Rudolf: E. T. A. Hoffmann
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Scheu, Robert: Leitfaden der Weltgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0064

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zittert eine wehrlose und geängstigte Seele, steigt
auf in tollen Kurven und sinkt in schauerlichen Qe-
sichten: ein vorwegnehmender Psychologe erlebt
burleske Tragödien, kuppelt Entsetzen und Hoch-
mut, Verzückung und jähen Hohn. Ein Delirant.
der seine Fieberkurve zeichnet. Die Psychologie,
das war eine Zeitkrankheit und ein Mittel materia-
listischer Bemühungen, das Qehirn als ein Räder-
werk von dürrer Selbstverständlichkeit zu zeigen,
Qrotesken und Visionen als notwendige Folgen ge-
wisser Dispositionen zu erklären: diese „historische
Reinlichkeit“ war ihm „mehr als alles zuwider.“
Er war Psychologe wie es unsere besten Zeit-
genossen sind: Analytiker mit bebenden Sinnen,
die im Echo ihrer Seele die Welt wiederfinden; be-
gierig jeden Fiebertraum nachzuerleben, ihr Da-
seinsgefühl durch alle Möglichkeiten zu steigern.
Seine Sensibilität sah die Dinge in den Schatten
ihrer Entstehung, in der schöpferischen Bewegung
ihrer Beziehungen, das Leben schien ein wunder-
volles Spiel der Motive, nur auf ein Künstlerproblem
hinausführend. Sein Gehirn war ihm bis in die ver-
borgensten Windungen zugänglich; und er ver-
senkte sich in das Wunder der Gedankenbildung,
in den Kampf der Eindrücke und den Antworten der
Seele. Die Wissenschaft dringt nur bis an die
Peripherie; die Erkenntnis wird nur der Intuition,
die die Erscheinungen von ihren Bedingungen
befreit sieht.

Und diese intuitive Seelenanalyse ist Hoff-
manns Leidenschaft; seine Berichte über dunkle
Kriminalprozesse operieren mit klinischen Hypo-
thesen, alle Raffinements der ihm zugänglichen
Mittel bietet der Psychologe auf, um sich dieses Qe-
hirns, dessen Tat er zu beschreiben hat, zu be-
mächtigen. Das steigt bis zum intellektuellen Hoch-
mut des Puppenspielers, der die Drähte führt.
Euphemia in den Elixieren des Teufels theoretisiert
dieses Qeftihl. Es ist eine Leidenschaft, die ver-
wegen mit dem eigenen Qehirn spielt. Auf einem
Ball fühlt er sich vervielfacht, die Menschen, die ihn
umgeben, sind Splitter seines Ichs, und aller Ge-
hirne sind Teile des seinen, das aller Qedanken und
Taten mitfühlen muß. Differenzierungen und
Spekulationen, die das Oehirn, sich selbst objek-
tivieren; eine endlose Kette von Spiegelungen, die
die Reflexe ffiültipiiz’eren, durcheinanderschütteln.
verwandeln, bis das Bewußtsein ein glühendes
Chaos ist, Rausch des Wahnsinns. Dieses Vor-
gefühl schwächt und reizt seine Nerven: die leiseste
Anspannung urngibt ihn mit Erscheinungen. er ver-
liert das Qefühl der Einheit, der Individualität. Und
durch das Konzert der Impressionen dringt immer
wieder das Motiv des Wahnsinns: ..Warum denke
ich schlafend und wachend so viel an den Wahn-
sinn?“ Und ein anderes Mal notiert er in sein
Tagebuch: „Alle Nerven exzitiert von dem ge-

süßten Wein. Anwandlung von Todesgedanken.
Doppelgänger.“ Er kannte die Psychologenfreude
für eine ganz fliichtige. undeutliche Stimmung ein
klares durchsichtiges Wort zu finden. nnd fast
minutiös malt er die Dämmerzustände in seinen
Werken aus. Die Momente, in denen das Qehirn ein
wüster Flammenkreis ist. beherrscht von phv-
sischen und psychischen Störungen. Zustände. die
an der Qrenze des Wahnsinns sclnvanken: das
sind seine objets d’art. In den Elixieren des
Teufels hat kein äußeres Geschehnis die Realität
und Deutlichkeit dieser geistigen Zersetzungen.
Der Psychologe ist der Visionär und die Vision die
Versenkung in die imaginäre Welt, die einzige
Realität.

Dieser Weltanschauung korrespondiert die
kunstphilosophische Hoffmanns: die Imagination ist
die svmbolische Erkenntnis des inneren Lebens. Er
ist der begeisterte Apologet des Qeistigen und sein
Rigorismus behauptet. daß der Körper nur als
Möglichkeit des Geistes Berechtigung habe. Doch
diese Mißachtung des Körperlichen entspringt noch
einer anderen Ouelle: der Inkongruenz des inneren
Lebens und der äußeren Erscheinung. Dem Pathos
der berauschten Seele war zur Auswirkung ein un-
scheinbarer Körper gegeben. und diese Qewißheit
prägte der Seele Hoffmanns ihr Mal auf. Er. dessen
inneres Leben strömender Qesang war. mußte un-
fehlbar lächerlich werden, wenn er seinem Tem-
perament folgte. Wie eine stechende Flamme ver-
brennt das die Teichtbeschwingten Qefühle. Ein-
gestellt auf die Beobachtung jeder Nervenfaser, sah
er immer sein Spiegelbild neben sich und fühlte mit
bitterem Haß den Kontrast des begeisterten
Musikers mit dem häßlichen Menschen, dessen
groteske Beweglichkeit ein seltsames Qegenspiel zu
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den feierlichen Worten seiner Kunst bildete. Dieses
Qefühl ist heimisch unter den europäischen
Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts, und die Er-
scheinung Stendhals wäre ein Rätsel ohne Beachtung
dieser Motive. Um sich vor der eigenen Ver-
achtung zu retten, bleibt die einzige Möglichkeit das
Körperliche durch überlegene Qeistigkeit zu paraly-
sieren, sich durch Ironie über den schmerzhaften
Kontrast hinwegzusetzen. Hoffmann hat diese Er-
kenntnis von Jugend an begleitet. Wie schwer sie
war, mögen die Worte bezeugen, die eine frühe,
schamhafte Liebe begleiten: „Da ich sie einmal
nicht durch ein angenehmes Aeußere interessieren
kann, so wollte ich, daß ich ein Ausbund von
Häßlichkeit wäre, damit ich ihr auffiele, und sie niich
wenigstens ansehe.“ In den Tagebüchern, die No-
tizen über seine Bamberger Zeit und seine Liebe zu
Juliabringen, knistern tollelronieen über blufige Ge-
fühle; man spürt die Scham des alternden Mannes,
der ein junges Mädchen anschwärmt und' die
Lächerlichkeit dieser Situation in allen Nuancen
spürt. Er spricht sich Mut zu, dieses Leben zu er-
tragen und spielt den Schwerpunkt auf das Qeistige
hinaus, seine Unfähigkeit scheu umgehend in der
reflexlosen Sinnlichkeit des naiven Menschen zu
leben, die ihm roher Stoff scheint, Erscheinungsform
für ein Qeistiges, das nur durch die Imagination, den
Traum, erschaut werden kann.

Der geistige Mensch haßt das Anekdotische des
Lebens, also im eigentlichen Sinne alle erhebenden
Ereignisse des bürgerlichen Daseins, vor allem die
Brennpunkte des normalen Vegetierens: die lauten
Qefühle. Sie verletzen seine Scham und reizen
seinen Intellekt, sie durch Ironieen aufzuheben.
Zur Zeit der stärksten Gefühlsanspannung notiert er:
„Göttliche Ironie, herrliches Mittel, Verriicktheiten
zu bemänteln, stehe mir bei!“ Und wie uner-
träglich der Druck der Sehnsucht war. deutet die
Fortsetzung an: „Jetzt ist es Zeit in literis zu
arbeiten.“ Qeistige Ausleerungen waren fiir ihu
eine körperliche Befreiung: das Ringelspiel der
Leiden zerrann in herrlichen Träumen, imaginären
Heldenfabrten.

Die Sphäre seiner Erlebnisse war das Außer-
ordentliche; und das ist seine Kunst, daß er es nicht
in der Anekdote, sondern in jedem elementaren
Lebensvorgang sah. Er scbaute an: so definiertc
er sich. Schaute so rein und unbefangen an wip
Qoethe: nur wies sein Spiegel eine besondere
Krfimmung auf. Schopenhauer bezeichnet dieses
als die philosophische Stimmung, daß die Dinge
ihre absolute Starrheit verlieren; Hoffmatm hätte
den Moment des Schauens so bezeichnet. Ein Qe-
lehrter, der die Leiter auf und ab steigt. um Bücher
zu suchen, wird ihm leicht zum Magier, der in
einer ungeheuren Bibliothek von Sprosse zu Sprosse
springt; das Beängstigende dieses Auf und Ab und
der zahllosen Folianten wird ihm zum Erlebnis. Er
empfindet das Grauen an den Dingen, wie Knut
Hamsun oder Arthur Rimbaud, der aus dem Erleb-
nis eines kleinen verärgerten Schreibers eine
grauenvolle Vision formt: Les assis.

Die Angst an den Dingen, das ist Hoffmanns
Erlebnis. Nicht das physische Erschrecken des
Feigen, sondern das Erahnen einer unsichtbaren
Welt, deren Erscheinungen die Dinge sind. mit denen
wir leben müssen, ohne ihr Wesen und ihre Bedeu-
tung zu kennen. Die Doppelheit der Erscheinung
wird sinnfällig in den mechanischen Apparaten.
Diese besonders erregten Hoffmanns Einbildungs-
kraft bis zu Orgien des Grauens und der Grausam-
keit. Er spürt, daß das Schöpferische dieser toten
Dinge die höchste Potenz des Artifiziellen ist. Der
Automat ist ungefährlich. ein spielendes Räder-
werk: er war ein Freund der Automaten. Aber so
einfache Dinge wie Brillen, Ferngläser, Spiegel: in
diesem scheinbar Primitiven ist das Entsetzen. Das
Erlebnis seiner Menschen ist die Furcht vor den
grauenvollen Ueberraschungen des Lebens. „Etwas
Entsetzliches ist in mein Leben getreten. Dunkle
Ahnungen eines gräßlichen mir drohenden Qe-
schickes breiten sich wie schwarze Wolkenschat-
ten über mich aus. undurchdringlich jedem freund-
lichen Sonnenstrahl.“ Im Oespräch erblickt er
Visionen, er zittert vor Aufregung und Angst und
spielt in allen Ironieen, um sich vor der Verzweif-
lung zu schützen. Wie jeder Kiinstler empfindet er
seine Reizbarkeit als Vorzug. glorifiziert sein Lei-
den, denn „solcher Kopfschmerz gebärt das Exoti-
sche.“ Der Künstler ist die Blüte der Möglichkeiten.
und diese Qewißheit stilisiert seine Qebärde. Es ist
in ihm die entmaterialisierte Entzückung Wacken-
roders und die überzeugte Kunstsentimentalität des

Sternbald, den es das wahre Künstlerbuch nennt.
Er empfindet stärker als die Zeitgenossen dic
Besonderheit der künstlerischen Tat, nur Kunst und
nichts anderes zu sein. „Alles soll noch außer dem,
was es ist, was anderes bedeuten, alles soll zu eineffi
außerhalb liegenden Zweck führen, den man gleich
vor Augen hat, ja selbst jede Lust soll zu etwas
anderem werden als zur Lust, und so noch irgend
einem anderen leiblichen oder moralischen Nutzen
dienen, damit nach der alten Küchenregel immer das
Angenehme mit dem Nützlichen verbunden bleibe.“
Kunst ist Moral, weil es außer ihr nichts gibt, sie
ist die wahre Metaphysik des Lebens, und mehr
hat Nietzsche damit nicht gemeint, als dieses Wort
Hoffmanns es sagt: „Der Musiker sieht die ganzc
Welt im Widerschein seiner Kunst.“

Schluss folgt in Nummer 9

Leitfaden der Weltgeschichte

Von Robert Scheu

Bei Erschaffung der Welt herrschten geradezu
vorsintflutliche Zustände. Zum Glück begann da- j
mals erst die prähistorische Zeit, die merkwürdig
rasch verging. Die Ichthyosaurier. Mammute et
cetera übersiedelten meistens nach Sibirien, wo
sie im Interesse der Wissenschaft einfroren.
Streng nach Darwin entwickelten sich die Lebe-
wesen, und mit affenartiger Qeschwindigkeit ent-
standen aus dem Urschlamm unsere Stammväter.
die Schimpanse. welche sich durch starken Haar-
ausfall und zunehmende Arroganz immer mehr
dem Menschentypus näherten, bis sie endlich als
Adam und Eva die Welt betraten.

Die Sintflut war leider für die Katz. Es |
wurde sehr bald der status quo wieder hergestellt.
Infolge einer eigentümlichen Qewohnheit der ge- |
schichtlichen Ereignisse beginnen diese gewöhnlich j
in der Umgebung von Aegypten. Dortselbst war j
eine starke Ueberproduktion an Pyramiden. Es
blieben daher sehr viele unverkäuflich und sind
noch jetzt zu sehen. Die größte Arbeit an den
Pyramiden verursachte der untere Teil, während
ganz oben immer weniger zu tun blieb und die
Kosten an der Spitze sehr gering waren. Es ging
daher das Bestreben der ägyptischen Kaiser dahin,
möglichst rasch die Pyramiden auf die Spitze zu ;
treiben. Infolgedessen bekam ganz Aegypten ein
gespitztes Aussehen. Man driickte sich damals
gerne in Hieroglyphen aus, was den Vorteil
brachte, daß man an einem Brief oft tagelang zu
lesen hatte, da die Schrift ungemein schwer zu
entziffern war. Kein Wunder, daß sich die ägyp-
tische Augenkrankheit daher immer mehr ausbrei-
tete. Nach ihrem Tode hatten die meisten Aegyp-
ter etwas Mumienhaftes; sie zogen sich in die
Pyramiden zurtick, deren Volumen und Fiächen-
inhalt vorher sorgfältig ausgerechnet wurde.

Auch Babylonien und Assyrieo macheu sich
in der vorderen Partie der Weltgeschichte bemerk-
bar. Sehr rasch verfiel auch die zu diesem Zwecke
von Nebukadnezar gegründete Dynastie.

Leider zeigten die Juden schon damals eine
gewisse Vordringlichkeit und drängten sich so
schnell als möglich in die Weltgesehichte. Sie
nisteten sich von da an fest ein und sind noch heute
in der Wiener Leopoldstadt zu treffen. Auch das
lydische Reich ging zu Grunde, ein Verlust, deii
wir unendlich bedauern. Die Inder waren sehr
gutmütig, es war die höchste Zeit, daß Buddha
auftrat und alles reformierte. Unter den Perser-
königen war Kambyses sehr jähzornig; der Magier
Gaumata gleichfalls, weshalb es ihm ein Leichtcs
war, sich für Kambyses auszugeben. Er wurde
aber gestürzt, da ihm die Ohren abgeschnitten
waren und er sie daher nicht rechtzeitig spitzen
konnte.

Unter den Qriechen fiel Herakles durch seinen
krankhaften Reinlichkeitssinn auf, der ihn veran-
laßte, den Augiasstall aufs gründlichste zu säu-
bern. Oedipus war so gewissenhaft, streng
nach der Anordnung des Orakels seinen Vater
zu töten und seine Mutter zu heiraten. Diese
Heirat stellte sich später als Uebereilung heraus.
und er giftete sich zu Tode. Furchtbar zog
sich der trojanische Krieg in die Länge. Er
dauerte vierdunzwanzig Qesänge und spielte sich
größtenteils in Hexametern ab. Einen recht
hölzernen Eindruck machte das Pferd, durch
das Odysseus in das Innere der Stadt eindrang. In
Sparta gab es eine Verfassung, bei der sich insbe-
 
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