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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 51 (Februar 1911)
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Rittner, Tadeusz: Rettungsaktion: Aus dem Tagebuch eines sehr gewöhnlichen jungen Menschen
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Samain, Albert: Abende
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0411

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Es gab Kalbsbraten mit Salat, und dann brachte
man eine sehr schöne rosige Mehlspeise.

„Das gehört nicht zur Pension“, sagte der Kassierer,
„das ist sozusagen umsonst. . . Ich bitte, meine Herren,
greifen Sie zu! Sie können soviel nehmen als Ihnen
beliebt.“

Die Frau Kassierer benahm sich wie eine Dame,
die nur zu Besuch da ist und als ginge sie die Pension
garnichts an. Sie plauderte sogar von Pierre Lowys
Aphrodite.

„Herr Konrad,“ ersuchte sie Kohler, „reichen Sie
mir gefälligst den Gorgonzola.“

Der Kassierer war von allen am besten aufgelegt.
Er erzählte:

„Es fuhren einraal zwei Juden von Budapest nach
Temesvar. Der eine war dick und lustig und rauchte
eine Pfeife, der andere war mager, gelb und Nicht-
raucher. Auf einer Station . . . “

„Aphrodite ist herrlich,“ seufzte die Kassiererin.

Der Bucklige schnitt ein Gesicht und meinte: „Ja,
aber der Braten ist ungeniessbar.“

Dies sagte er ausnahmsweise so deutlich, dass es
alle hörten. Und dann schwieg er

Nach der Mehlspeise liess der Kassierer eine
Flasche Wein holen

„Anton!“ ermahnte ihn die Kassiererin und schaute
dann auf den Buckligen und den Grossen.

„Wir trinken nicht,“ beteuerte Kohler.

Der Kassierer machte nichts dergleichen.

Und als man den Wein gebracht hatte, tranken
alle ohne Ausnahme. Auch die Frau Kassiererin.
Uebrigens heisst sie Aurora.

Der Wein war alt und süss. Ich erlaubte mir
vier Gläser, aber dann fragte ich mich besorgt, ob
denn der Wein auch zur Pension gehört.

Es zeigte sich, dass auch der Wein umsonst ist.
Man muss Glück haben.

Nach dem Nachtmahl befreundete ich mich mit
Kohler, und wir gingen zusammen auf unsere Zimmer.

„Was fiir uneigennützige Leute,“ sagte er auf der
Treppe. „Was? Sie denken mehr an ihre Gäste, als
an ihren Profit. Was, glauben Sie, kostet so ein
Fläschchen? Mehr, als wir pro Tag für die ganze
Verpfiegung zahlen.“

Ich habe es gut getroffen.

AIs ich allein im Zimmer war, fiel es mir plötzlich
ein, dass Kohler und die Frau Kassiererin etwas mit-
einander haben. Ich mache öfter solche kleinen
Beobachtungen.

* *

*

Der Herr Kassierer ging gerade unten auf der
Strasse. Ich schaute vom Fenster aus zu. Denn das
Mädchen, das eben in meinem Zimmer aufräumte,
machte mich darauf aufmerksam.

„Da geht unser Herr . . .“

Sie zeigte mit den Finger und lachte.

Der Kassierer war klein, rotharig und der Pelz
war so wie seine Haare. Eine Gestalt, dass die
Passanten stehen blieben und sich umschauten.

„Er wackelt ein wenig,“ meinte das Mädchen.

Er ging tatsächlich etwas ur.sicher. Und es war
doch kaum acht Uhr morgens.

„Tun Sie Ihre Pflicht,“ sagte ich kalt zum Mädchen.
Darauf lachte sie mir ins Gesicht und begann nach-
lässig den Staub von meinem Schreibtisch abzuwischen.
Später sagte sie wieder:

„Ich erinnere mich ganz gut, wie man unseren
Herrn in den Arrest führte.“

Ei Ich glotzte sie an.

„Na ja,“ versicherte sie, „unser Herr war doch vor
zwei Jahren im Arrest . . . Und wissen Sie warum?“
Ich sagte, dass ich es wüsste. Aber ich wusste
es nicht.

Da'kam diej;Kassiererin ins Zimmer. Sie lächelte
freundlich. Ob ich nicht etwas brauchte. Danke nein,
danke vielmals.

Das Mädchen ging.

Die Kassiererin hat solche Augen wie die schwarz-
weissen Schönheiten vom Harem. Gesprungene Lippen
und zwei kleine Goldplomben.

Sie erzählte mir, wieviel sie mit der Wirtschaft zu
tun hätte. Sie plauderte mit mir in dem Ton, in den
man in der Dämmerung mit guten Freunden plaudert.
Ich habe sie gern.

* *

*

Ich ochse für die letzte Staatsprüfung. Es kommt
mir ungelegen, denn nebenbei bin ich verliebt.

Wir duzen uns übrigens mit dem Kassierer. Ich
machte die Beobachtung, dass er einem nie ins Ge-
sicht schaut. Er ist immer betrunken und manchmal
hat er schon nach einem Glas genug. Um sieben
Uhr in der Frühe macht er schon Witze. Vorwiegend
in der Küche; die Dienstboten wälzen sich vor Lachen.

Ich habe von ihm init dem Buckligen gesprochen.

„Fragen Sie nur seine Frau,“ murmelte er, „ob
er auch früher zu trinken pflegte.“

Natürlich werde ich nicht fragen Er hat also
früher nicht getrunken, bon; was weiter? „Fragen Sie
seine Frau.“ . . . Hm. Knopf ist wahrscheinlich ein so-
genannter Frauenhasser. Das heisst: er hat einen
Buckel.

Sie ist eine gescheite Frau, so gescheit, dass sie
und Kohler sicher nichts miteinander haben.

* *

*

Sie und Kohler haben etwas miteinander. Aber
sie ist doch eine gescheite Frau.

Nun habe ich mir vom Lebensunglück des Kassie-
rers mit allen Einzelheiten erzählen lassen.

Der Kassierer war einmal... tatsächlich Kassierer.
Bei der Bahn. Aber nach seiner Hochzeit machte er
zu grosse Ausgaben. Für seine Frau.

Sie hat ihn darum nicht gebeten ... meint Kohler.

Das ist Nebeasache. Kurz und gut, er borgte
sich eine Kleinigkeit aus der ihm anvertrauten Kasse.
Und die Frau bekam von ihm entzückende Brillanten.

Diese Brillanten hat sie noch heute. Ein anderer
Mensch wäre nach Abbüssung seiner Strafe zugrunde
gegangen. Aber der Kassierer erhielt wieder eine An-
stellung und lebt.

Denn er hat eine gescheite Frau — meint Kohler.

Und noch etwas: ein anderer Mensch verliert nach
dem Getängnis gewöhnlich die gute Laune. Und der
Kassierer macht schon um sieben Uhr Witze Vor-
wiegend in der Küche; die Dienstboten wälzen sich
vor Lachen.

» *

*

Es hat etwas gegeben. Die Kassiererin und
Kohler ....

Ich kann nicht behaupten, der Kassierer wäre heute
nicht in guter Laune. Aber gestern nachmittag ist er
unerwartet etwas früher nach Hause gekommen Ich
hörte ganz deutlich seine Stimme. AIs ob er sehr
schrill und laut gelacht hätte. Aber wahrscheinlich
hatte er nichts zu lachen.

Kohler ist in mein Zimmer gestürzt, ganz bleich
und zitternd. Und obwohl er so tat, als wollte er
mich nur um eine Zigarre bitten, erriet ich dennoch,
dass etwas geschehen war.

Die Kassiererin hatte verweinte Augen und ging
auf den Zehen.

. Und um drei Uhr nachts wachte ich

auf, und hörte wie eine Droschke vorfuhr und wie man
den singenden Kassierer hinaufschleppte.

Und die wütende Stimme des Buckligen:

„Zum Teufel, kann man in diesem vermaledeiten
Hause nicht einmal in der Nacht seine Ruhe habenl“

Wenn Knopf nur will, spricht er auch deutlich.

* *

*

Es interessiert mich ein Mensch, der immer in
guter Laune ist. Da wir uns mit dem Kassierer duzten,
so musste ich doch endlicn einmal sein Inneres kennen
lernen. Ich suchte ihm also heute wie zufällig zu
begegnen, um mit ihm einmal freundschaftlich zu
sprechen und über die gestrigen Vorgänge etwas zu
erfahren.

Ich fragte, ob ich ihn begleiten dürfte.

„Komm, junger Tagedieb!“ erwiderte er höflich und
pfiff dann seinem Hund, der auch rothaarig ist.

„Gestern bist du sehr spät nach Hause gekommen...“

Er lachte.

„Freilich, freilich .... Ich speiste im Yokeyclub
mit dem Prinzen von Wales.“

Ich blickte ihm scharf in die Maske. Denn er
hat kein Gesicht. Nur eine Maske mit roten Haaren
und gläsernen Augen I

„Dir fehlt etwas“, sagte ich ernst.

Eine Sekunde lang schaute er mich entsetzt an.
Und dann begann er ruhig vor sich hinstarrend:

„„Zwei Ungarn wetteten einmal mit einander, wer
von beiden höher springen konnte. Eines schönen
Tages gehen sie über eine Brücke und . . .

* *

*

Schluss folgt

Abende

Von Albert Samain

l

Der Flussdamm ist verlassen, die Kähne ent-

schlummern,

die blaue Dämmerung endet die Unrast des Tags
und dämpft mit weicher Hand die brennenden Gluten,
die der Fluss wie Erz hinwälzte in seinen Fluten.

In fiebriger Werkstatt kommt Schraubstock und

Spindel zur Ruhe,

Bleichwangige Mädchen eilen mit fliegendem Haar
zum erleuchteten Laden voll Silber und Gold und

Kristall,

und zerpressen die arme Begier nach schnödem Metall.

Hoch über der dunkelnden Stadt, wo das Volk

sich tummelt,

webt, herbstlich gedämpft, die Helle des Abendhimmels,

wie Perlen- und Türkisenglänze zu sehn:

es ist als wollte der Himmel in Schönheit vergehn.

Die Stunde wandelt vorüber, verhüllt wie ein Weib;
die Düsternis wächst, der erste Stern erblinkt:
verlangend öffnet das Herz sich mir und trinkt,
was da an Traum von ihm herniedersinkt.

2

Ein Seraph streift die Blumen zur Abendzeit.

Der Himmel weidet sich an Farbentönen,
die den erlauchten Tod des Tags verschönen.

Im Dom zur Orgel singt die Traumfee heut.

Ein Seraph streift die Herzen zur Abendzeit . .
Jungfraun, die auf Balkonen versonnen stehn,
wie Liebe die Lüfte schlürfend, die sie umwehn,
sind von holdseliger Blässe wie beschneit.

Im Garten jede Rose hat Ruhe gefunden.

Es ist, als irre Schumanns Seele im Raum
und lisple von Leiden, die unheilbar sind . . .

Es ist, als stürbe wo ein süsses Kind . .

O Herz, ein Zeichen lege ins Buch der Stunden:
Der Engel fängt auf die Tränen aus deinem Trauml

3

Der Himmel, ein blassgoldner See, verdämmert,

— versinkt wie in Gedanken. Und hinaus
ins Luftall, das sich ohne Grenzen dehnt
in Schweigen und Leere, hat sich die Nacht gelehnt
und schüttet das schwermutvolle Herz ihm aus.

Schon schimmert hier und da ein mattes Licht.

Die Rinder kommen parrweis vom Feld herein.

Und hier und da vor seiner Hütte sitzt

ein alter Mann, das Kinn in die Hand gestützt,

und atmet still den Frieden des Abends ein.

Wehmütig-schlicht wie ein Bild der alten Maler
mit seinem Guten Hirten und Lamm, das springt,
ist diese Landschaft.. Horch! ein Glöcklein klingt.
Und jetzt, in schwärzlicher Himmelsfinsternis,
beginnt das Schneegeglitzer der tausend Sterne;
uud drüben, reglos am Hügelrand der Ferne,
träumt eines Schäfers antiker Schattenriss.

Deutsch von Friedrich Kurt Benndorf

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