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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 38 (November 1910)
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Scheerbart, Paul: Die Kühnsten: Eine Emanzipations-Novellette
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Friedlaender, Salomo: Das interessante Gespräch: Eine gehaltvolle Inhaltlosigkeit
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Walden, Herwarth: Wieder eine Woche
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Adler, Joseph: Aus den Zeitungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0309

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haben Sie ja eingesehen. Wenn wir nun aber den
Stern Erde betrachten und dahinter kommen möch-
ten, wie er denkt und was er denkt, wenn er
immerzu sich drehend unsre fabelhafte unverständ-
liche Sonne umkreist, so stehen wir doch vor so
großen Rätseln, daß wir eigcntlich nur ehrfurchts-
voll schweigen müßten.“

Nach diesen Worten wurde es ganz still im
Frühstückszimmer der Seestrand-Villa. Man hörte
nur leise das Wogen der Wellen im Atlantischen
Ozean.

Und Fräulein Hedwig Bohl sagte leise nach
einer guten Weile: „Ich dachte schon, auch auf
der Erde würde man jetzt daran denken, sich von
unsrer großen unverständlichen Sonne zu emanzi-
pieren. Aber ich glaube, man darf es gar nicht
wagen, so etwas zu denken.“

„Nun“, sagte Herr Bohl, „wenn es unsre Erde
mal selber möchte.“

„Jedenfalls“, bemerkte Herr Misankollo, „ist
es ganz ausgeschlossen, idaß unsre Erde augen-
blicklich schläft — die wacht ganz bestimmt und
hat sehr lebhafte Gedanken.“

„Wie kommen Sie darauf, das zu behaupten?“
fragte Fräulein Hedwig.

„Ich habe“, sagte Herr Misankollo, „doch Kopf-
organe mit denen ich noch mehr wahrnehme, als
Sie mit Augen und Ohren. Und da glaube ich, daß
ich auch ein Empfinden für das Denken und Wollen
der Erde habe — eben durch diese meine muschel-
artigen Kopforgane. Es schwingt in diesen etw'as
mit — aber ich kanns noch nicht in Worte kleiden.
Vielleicht läßt sich das Feinste, was wir emp-
finlden, niemals mit Worten sagen.“

Da schwiegen die Drei wieder und blickten
still in das große blaue Meer, auf dem die Strahlen
der großen Sonne funkelten wie Sonnenflecken-
augen.

Das interessante Gespräch

Eine gehaltvolle Inhaltlosigkeit

Von Mynona

„Und Sie behaupten, daß Pauline, die so ein
unschuldiges Tauentzienstraßenlächeln verschenkt,
sich tatsächlich dem biderben Weinbergsbesitzer
Martin Hab.“

„Pschscht! keine Namen! Sehen Sie, Pauline

war erst so; dann aber.!“

„Wie meinen Sie das? Martin kann doch ohne
weiteres —“

„Ja, ja, ja! Nur Pauline macht Umstände.“
„Gesegnete —?“

„Hui, wie witzig! Als Pauline noch rote wollene
trug, fragte ich sie einmal: pb Martin ihr nicht
Seide und so weiter; na — er liebe gerade die
Schlichtheit der ganzen Erscheinung. Wissen Sie,
lassen wir doCh das Thema fallen. Was macht
die kleine Polin?“

„Sie fährt Fahrstuhl im „K. d. W.“, rauf und
runter, ohne abzusetzen.“

■???“

)y • • *

„Na, sie verfolgte Lotharn und mich. Halloh,
wir brachten sie ins K. d. W., schuppsten sie in
einen Lift und gingen wo anders hin. Es ist die
gentilste Art der Entwicklung.“

„Niedlich. Sagen Sie, so Mädchen von der
Straße, zum Beispiel jLydia von der Joachims-
thaler, lösen doch die Frauenfrage besser als
Frl. Dr. X.?“

„Mann, mit fhren Blasphemien sind Sie so
mordsmäßig langweilig wie Mynona im Sturm.“
„Was? Wer ist diese stürmische Mynona?“
„Vermutlich ein Unterrock: Pseudonym für
irgend ein verunglücktes altes Mannsbild. „Sturm“
sieht aus wie eine Zeitung, ist aber mehr eine
Art, auf intelligente Weise heiser zu sein.“

» So?<< • • ,

„Glauben Sie mir, der Mensch ist entweder
altklug, wenn er jung ist; oder jungklug, wenn er

_ ich habe vergessen, was ich sagen wollte.

Warum machen Sie so ein frohes Gesicht?“

„Ich bin immer wie erlöst, wenn ein Bonmot
mißglückt. Unser Witz verengert die Welt.“
„Quatsch! Und außerdem riecht es auch nach
Bonmot.“

„Sie haben nicht Unrecht. Um auf Pauline
zurückzukommen — hat sie nicht Plattfüße?“

„Sie ist aber sonst sehr brauchbar; übrigens
ist Martin auch nicht auf den Kopf gefallen. Kennen
Sie Anselm?“

„Anselm ?“

„Anselm!“

„Nein.“

„Schaun Sie an! Der Anselm, ein alter Freund
von Pauline, hat einen sonderbaren Kunstgriff aus-
gedacht, Martin bei ihr auszustechen.“

„Ja?“

„Er kleidet sich genau wie Martin, aber kost-
barer!“

„Gar nicht schlecht.“

„Na, Pauline hat neulich beide bei sich gehabt
und die Anzüge vertauscht; auch nicht schlecht!“
„Was doch die Weiber, wenn sie in Liebe sind,
produktiv in jeder Hinsicht werden! Eine Verliebte
kriegt immer Junge — in welcher Gestalt immer.“
„Hören Sie, man hat das Weib und die ganze
Welt mit Philosophie yerstänkert: keine Philo-
sophie ist die alierbeste.“

„Bequem, bequem.“

„Der alte Kaiser W....“

„Sein Sie still, ein Schutzmann koinmt.“
„Wotan.“

„Verkneifen Sie sich Ihre W’s geschickter.
Wollen wir ins Cafe?“

„Sitzt Pauline drin mit Martin?“

„Ich weiß kaum, weswegen Sie an den Be-
gattungen anderer ein so ausgiebiges Interesse neh-
men. Weininger würde sagen —“

„Pfui, nu noch Weininger — kann sich denn
kein anständiger Mensch mehr töten, ohne vorher
zu bedauern, daß er Jude war?“

„Entweihen Sie keineswegs —“

„Ach, ach, ach, ach, ach 1, ach —“
„keineswegs das Andenken eines Geistes der
die Mannheit jm Menschen“,

„Essen Sie gern Tomaten?“

„Peter Baum —“

„Wenn Sie wenigstens Hille gesagt hätteii —
ißt Peter Baum gern Tomaten?“

„Ich wollte sagen: Peter Baums Sprache oder
Sprecben ist im Einldang mit seiner Somatik.“
„Wissen Sie, bitte, lassen wir doch diese ehren-
werten Intellektualismen. Eine rechte Sau zu sein,
ist heute der Gipfel der Ehrlichkeit! Kennen Sie
die kleine Polin näher?“

„Lift, lift, Clavigo?“

„Ja, die nämliche!“

„Teils näher, teils noeh näher.“

„Nun?“

„Fragen Sie Bruno — es ist eine wahre Erotik-
tak tiktak tiktak — eine Uhr der Liebe, die mecha-
nischste Venus des ganzen W. W.“

„Nebbich.“

„Tatatatatatata — —!“

„Nanu, wollen Sie Brausepulver?“

„Nein, da kommt sie ja, die Kleine mit ihrer
blauen Kapotte; ich —“

„Ja, ja, präzisieren Sie sie, machen Sie sie
nocli mechanischer: endlich ejnmal“ —

„Endlich einmal?“

„Wird es eine antike Uhr werden, eine alt-
modische, eine dicke, sehr dicke Uhr, eine wahre
Zwiebel. Gute Verrichtung!“

Wieder eine Woche

Der Meisterepigone

Der Lokalanzeiger ist entzückt: Paul Heyse
soll den Literaturpreis der Nobelstiftung erhalten.
Die Herren ziehen den alten Schweden Strindberg
vor. Hoffentlich naturalisieren sie ihn gleich samt
seinen Werken. Trotzdem der Lokalanzeiger $ich
nicht fassen kann:

An Adel der Gesinnung und der Form, an Anmut
und Schönheit der Verse übertriftt diesen Epigonen
der Klassiker kaum ein anderer der lebenden
Vertreter des deutschen Schrifttums. Als der Natura-
lismus in Blüte war, galt es seinen Jüngern eine Art
von Sport, ihre Pfeile gegen Paul Heyse als Vertreter
der abgelebten Kunstrichtung zu senden. Heute ist
der Naturalismus überlebt, und Heyses reife Kunst wird
nach wie vor Von den Kennern geschätzt und bewundert.
Er selbst hat sich auch literarisch mit seinen Wider-
sachern auseinandergesetzt, doch nicht gerade mit
Glück.

Sie mögen sich mit ihrem Dichter freuen, Üie
Kenner des „überlebten Naturalismus“ und der „ab-

gelebten Kunstrichtung“. Gott erhälte ihnen (den
Frohsinn, die Ahnungslosigkeit und den Epigonen
der Klassiker.

Die neue Generation

Herr Julius Bab ist wieder einmal verpriigelt
worden. Sehr gründlich von A1 f r e d K e r r. Herr
Bab findet Kerr Zu „subjektiv“, möchte gern klagen
und bittet ergebenst :um faßbare Peleidigungen.
Da er schon Kunst nicht fassen kann. Hinter ihm
steht eine neue Generation, die den Kerr lächerlich
findet. So verkündet er zornig. Auch ist er gegen
Witze und für den Ernst. Diese „neue Generation“
soll sich bemerkbar machen. Damit man sie Mann
fiir Mann abschlachte. Aber nicht — ich bitte darum
— in schlechten Dramen und anmutigen Versen.
Lieber läßt man die Leute leben, ehe man solche
Langeweile erträgt. Nur die Nainen! Wir wollen
ihren Ernst im Witz ersäufen. Dann sind wir „sub-
jektiv“. Wie Alfred Kerr.

Theaterausstellung

Ich war der einzige Gast in der Berliner Thc-
aterausstellung. Dort gibt es zu sehen: Korsetts,
Parfüms, Theaterzettel, einen alten Rock der
Schröter und unheimlich viele schlechte Bilder und
Gipsbüsten. Auch Vacuumreiniger und Pianinos.
Teppiche. Alte Jahrgänge schlechter Theater-Zeit-
sChriften. Zahllose Beamte bewachen die Scherze.
Wer die Veranstalter kennt, wird sich nicht weiter
wundern. Der eine tut es nicht unter Bühne und
Welt, der andere, der Doktor Landsberg, hat sicli
von Hauptmann „losgesagt“ und weiß in der Kö-
niglichen Bibliothek Bescheid. Schließlich: inan
braucht ja nicht hinzugehen. Liebhaber von Kor-
setts seien auf (die Schaufensterauslagen der be-
treffenden Firmen verwiesen.

Der neue Compagnon

Diesmal zischten die Fuldaianer im Berliner
Theater. Glücklicher Ausgang und doppelte Ver-
lobung. Herr Richard Skowronnek (Förster, pst-
preußen, Wald, Moor) schrieb einen Schwank ge-
gen die „Lustspieldichter“. Etwas mehr fiel ihm
sogar lein. Aber Idie „Kollegen“ sind jetzt für
Psychologie. Ich glaube, Skowronnek gehört nicht
zum Lothar-Syndikat m. b. H. Wenn er sich nur
noch ein wenig zurückschraubt, kann er es aber
erreichen!

Lebensfreude

Ich versuche es iinmer wieder, hinter die
Mysterien der Lustgefühle hiesiger Einwohnerschaft
zu kommen. Ich kann mir nicht helfen: ineine
Unlust siegt immer wieder. Die Bedürfnislosig-
keit der Bourgeoisie und der Aristokratie ist rührend.
Das Publikum mit Geld geht ins Chat Noir, das
Publikum ohne Geld ins Walhälla-Theater. Was
hilft es, daß hier Fräulein Alberti, dort Frau Hell-
way-Bibo das Niveau überragt. In solchen Niede-
rungen. Das Cabaret scheint mir geeignet, die
Aufnahmefähigkeit des Publikums an sogenannten
höheren Werten festzustellen. Nie und nirgends
habe ich eine derartig angespannte Aufmerksam-
keit erlebt. Also diese schäbigen Witze und blöden
Sentimentalitäten können mit Gottes Hilfe gerade
noch verstanden werden. Die von dem Dichter
Rudolf Lothar bezwungene „mondaine“ Welt klappt
mit dem Lachen stets zwölf Minuten zu spät nach.
Unerhörteste Geistesarbeit mußte getan werden, um
die Witzlosigkeit der Lieblinge des deutschen Kron-
prinzen „einzufangen“. Dieses süße Publikum ver-
gißt sogar den Zweck seiner Anwesenheit: die
Lebensfreude. Und wo es sich vergißt und nach-
träglich lacht, sorgt ein Diener des Hauses mit
Cäsarenwahnsinn dafür, daß alles mit Feierruhe
abgeht. Aber die Unternehmer haben Recht: Jedes
Publikum erhält das Vergnügen, das es verdient
Und das Budikern Oeld bringt.

Trust

Aus den Zeitungen

Mystik der Kritlk

Als äch ! von dem Lustspiel „Sternenhochzeit“
zum ersten Mal hörte, vermutete ich hinter dem
Titel mystische, sternenhimmelstürmende Vorgänge.

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