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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 38 (November 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [6]
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Scheerbart, Paul: Die Kühnsten: Eine Emanzipations-Novellette
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0308

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schwistert weiß, und nicht meh'r Iediglich mensch-
seits ängstlich auftastet mit dürftigem Lämplein
in Dunkel und Schlüpfrigkeit.

Da redet in feurigen Zungen die Sprache des
einen Lichtes, der einen Gottheit.

Hinweg nun die blöde Furcht des Leibes, hin-
weg die Enge dürftigen Stammesgeistes. Aus zagen
Jüngern werden Sendboten heiligen Eifers: Jünger
knieten nieder, und Apostel erhoben sich. Der
Stämme bunte Zunge ward eins, aus dem Babel
der Ohnmacht, dem Menschenwerk der Zwietracht
die göttliche Einheit der Kraft. Aus dem Angst-
schweiß der Erde gebar sich der staunenden Welt
der Menschen die Religion aller Geister.

Die Kirche des Göttlichen erstand und wuchs
immer heller und strahlender empor, und jmmer
heller und strahlender wird sie wachsen, und alle
Dinge werden ihr zum Besten gereichen.

Je freier und heiterer der Menschensinn |sich
gestaltet, je bewußter und königlicher herrschend
über Um- und Innen-Welt, die Kräfte und Geheim-
nisse darin, um so verklärter glüht auch auf die
Kirche des Geistes, sie, die Allweihende, sie, die
unvergängilch ist und dereinst alles umfassen wird.

Nach außen Entwicklung, nach innen die
Kirche: das ist die Menschheit.

Eine Kirche aber, die nicht gleichen Schritt
hält mit der Menschheit, ist die rechte nicht.

Steigerung und geistiges Wachstum, das am
ehesten wirft den alten Adam heraus, das bedeutet
eine gründliche Entfremdung gegen die Willens-
jämmerlichkeiten von eh: als Geseufz und Gestön,
als taube Reu und leere Buße.

So erscheint, wächst und hellt sich jauf die
Kirche.

Die Bücher der Lehpe

Das frische Wort der Verkündung aber ward alt
tmd sammelte sich in der Schrift.

Nur Umrisse redet genau befolgende Beschei-
denheit.

Wesentlich, lauter, unentstellt, der eigene Ehr-
geiz zerschmolz im Göttlichen zu Geständnis.

Jeder hatte auf Besonderes geachtet und
brachte es.

Ehrfurcht vor der Wahrheit aber hinderte jdie
Vergleichung.

So ruht es nebeneinander: eins, verschieden,
menschlich dem Göttlichen zu.

Die Kühnsten

Eine Emanzipations-Novellette

Von Paul Scheepbart

Herr Andreas Bohl saß in seiner Seestrand-
villa bei Bordeaux und trank seine Morgen-
schokolade und aß seine chemischen Delikatessen
dazu.

Da kam — es war grade im Jahr 3800 nach
Christi Geburt — Bohls Tochter Hedwig ins Früh-
stückszimmer und wehte mit der Europäischen Mor-
genzeitung in der Luft herum, als wäre die Zeitung
eine Fahne.

„Papa“, rief Hedwig, „die große Emanzipation
dst da. Wie ich mich freue!“

„Wo ist sie denn ?“ fragte der Papa.

„In der vierten Sphäre hinter dem Neptun!“
erwiderte Fräulein Hedwig Bohl.

„Etwas weit ab“, sagte der Papa, „gute zwei
Milliarden deutscher Meilen. Wovon will man sich
denn da so weit draußen emanzipieren ?“

„Von unserem Sonnensystem“, sagte Hedwig.
„Ja“, versetzte Herr Bohl, „das finde ich be-
greiflich, wenn man so weit von unsrer Sonne
entfernt ist, daß man sie nur als kleinen Stern sieht,
der kaum so groß ist, wie uns die Venus erscheint!“
„Gestattest du, lieber Papa“, fragte nun Fräu-
lein Hedwig, „daß ich dir die Geschichte vorlese?
Sie ist wirklich außerordentlich wichtig und dürfte
doch ganz seltsame Folgeerscheinungen zeitigen.“
„Drück dich nur nicht immer so furchtbar ge-
bildet aus“, sagte schmunzelnd der alte Herr Bohl.
„Du weißt doch, daß es heutzutage nicht mehr
modern ist, menschliches Wissen und menschliche
Art als etwas Bewunderungswürdiges hinzustellen.
Unsere Worte müssen so klingen, als wären sie
immer wieder nur eine Entschuldigung, daß mit
ihnen nichts Wichtigeres gesagt werden konnte.“

„Bescheidenheitstuerei!“ versetzte Fräulein

Hedwig --dann aber las sie aus der europä-

ischen Morgenzeitung vom dritten Mai des Jahres
3800 folgendes vor:

„Bahnveränderung

Mit den neuen Instrumenten der MontblanC-
Sternwarte ist in den letzten fünf Jahren ein kleiner
Stern in der vierten Sphäre hinter der Neptunsbahn
fast ununterbrochen beobachtet wörden. Und es
hat sich jetzt eine sehr interessante Tatsache her-
ausgestellt. Die Bewohner dieses Sterns, der von
unseren Astronomen jetzt Rabando genannt wird
(vordem 718. k. b.) haben es einfach fertig be-
kommen, die Bahn ihres Sterns zu verändern und
mit ihm in den Weltenraum hinauszufahren. Der
Rabando entfernt sich immer schneller von tin-
serem Sonnensystem. Schon vor fünf Jahren be-
merkten die Astronomen große flügelartige Aus-
strahlungen an dem Stern, und diese Flügel haben
sich seitdem derartig vermehrt, daß die Bahn des
Sterns gänzlich verändert werden konnte. Mit den
neuen Instrumenten der Montblanc-Sternwarte ist
es uns auch gelungen, die Lebewesen auf dem
Rabando näher kennen zu lernen; diese sind mit
außerordentlich starken stahlartigen Gliedmaßen
versehen, mit denen sie die schwersten Mecha-
nikerarbeiten bewältigen können. Die Rabando-
Bewohner bauten zunächst turmartige Stahlröhren
in den Stern. Es wurde dann beobachtet, daß die
Rabando-Bewöhner ,auf diesen wohl über hundert
Meilen langen Röhren mit größter Schnelligkeit
herauf und herunter gleiten konnten. Danach sah
man, daß kolossale Segel an diesen Turmröhren
befestigt wurden. Und diese Segel, die in immer
größerer Zahl angebracht wurden, setzten sich vor
zwei Monaten in schwingende Bewegung. Und
gestern wurde konstatiert, daß der Stern endgültig
seine Bahn veränderte und mit zunehmender Ge-
schwindigkeit davonraste. Es ist dieses das größte
Ereignis in unserem Sonnensystem; es beweist, daß
es in diesem Stern Rindenbewohner gibt, die stärker
sind, als der Stern, auf dem sie leben.“

Herr Bohl hätte aufmerksam zugehört, seine
Tochter sah ihn jetzt gespannt an und war sehr
neugierig zu erfahren, was jetzt der Vater sagen
würde; dieser war zehn Jahre lang Leiter einer
isländischen Sternwarte gewesen und hatte sich
infolge eines Augenleidens zurückziehen pnüssen.

„Liebe Hedwig“, sagte er nun, „die Emanzi-
pationsgeschichte kommt mir nicht so unerwartet,
wie du denkst. Ich wundere mich nur über die
etwas unverständliche Art der Berichterstattung;
die Europäische Morgenzeitung hätte doch be-
merken können, daß diese Bahnveränderung pller
Wahrscheinlichkeit nach von dem Stern selber ge-
wollt sein dürfte. Es ist doch ganz unsinnig, zu
behaupten, daß ein Stern auf seiner Oberfläche
Rindenbewohner dulden wird, die etwas anderes
wollen und durchsetzen können als er selbst.
Nicht bin ich der Meinung, daß alle Rinden-
bewohner im festen Zusammenhange mit ihrem
Stern stehen; es ist sehr wohl möglich, daß Vege-
tation und Lebewesen durch Meteorwesen auf
einen Stern verpflanzt werden, ohne daß der Stern
eine Ahnung von der Entwicklung dieser Fremd-
körper bekommt. Daß diese Fremdkörper aber
mächtiger werden könnten als der Stern, auf clem
sie sich festgenistet haben, scheint mir ganz aus-
geschlossen — so entwiicklungsfähig sind Rinden-
bewohner nach meiner Ueberzeugung jn keinem
Falle.“

Nach diesen Worten des Herrn Bohl wurde ein
Herr mit Namen Misankollo gemeldet.

Dieser Herr kam ins Frühstückszimmer.

Und — es war dieser Herr gar kein Mensch.

„Seien Sie gegrüßt, Herr Misankollo“, rief
Fräulein Hedwig und ließ dabei gleich ein großes
Netzwerk von der Decke herunter.

Herr Misankollo gehörte zu jenen roren
Drachenwesen, die anno 3300 — also vor fünf-
hundert Jahren — mit den Spaltbildungen des neuen
nordasiatischen Hochplateaus herauskamen — aus
dem Innern der Erde herauskamen.

Der kurze zinnoberrote Rumpf des Herrn
Misankollo stak in einem dicken weißen Pelz, die
langen schlangenartigen Beine und Arme mit ihren
vielen beweglichen Astgliedern waren unverhüllt.
Auf der Rückseite des Körpers befanden sich die
vielen roten Blasenbildungen, die zu Ballongröße
von den Lungen aus aufgcpustet werden konnten

und dann den Körper soweit in die Höhe hoben,
daß dieser durch das leiseste Aufstoßen der langen
Schlangenbeine mit Leichtigkeit vorwärts bewegt
werden konnte.

Sitzen konnten die roten Drachenleute der
Rückenblasen wegen nur in elastischem Netzwerk,
das sich in jedem Hause, in dem Drachenleute
verkehrten, an der Decke befand.

Der Kopf des Herrn Misankollo war ebenfalls
ganz rot und ähnelte einem Krokodilskopf. Ein
derartiger Drachenkopf wäre nun zweifellos für
Menschen sehr abstoßend gewesen, wenn nicht die
Nasenbildung zwischen den Augen eine menschen-
ähnliche gewesen wäre. Und dann waren die
großen Augen auch menschlich und dunkelbraun,
und so milde, daß das Gesicht der Drachenleute
durchaus nicht abstieß, man sah die Unterirdischen
iiberall sehr gern. Sie sprachen fließend die meisten
menschlichen Sprachen. Die Augen waren auch
nicht seitwärts stehend, sondern so wie bei den
Menschen. Die im unteren Teile sehr breite, weit
vorgeschobene Drachennase wirkte natürlich sehr
eigentümlich.

Alle DraChenleute besaßen eine reiche Bildung
und wußten außerdem noch viel mehr, als die Men-
schen. Die Drachenleute hatten neben den kleinen
spitzen Ohren noch Kopforgane, die die Menschen
nicht besaßen. Und mit diesen Kopforganen konn-
ten die DraChenleute Dinge wahrnehmen, die den
Menschen schlechterdings nicht wahrnehmbar zu
machen waren.

In den fünfhündert Jahren hatte es niemals
einen Streit zwischen den Menschen und Drachen-
leuten gegeben; diese waren den Menschen gleich
in vieler Hinsicht so außerordentlich nützlich ge-
worden, daß gar keine Ursache zu Zwistigkeiten
geboten wurde.

Die Drachenleute nährten sich zudem nur von
Flüssigkeiten — und zwar genügte ihnen fast jede
Flüssigkeit, auch das Meerwasser — so daß die
Magenfrage für sie nicht so akut werden konnte,
wie bei den Menschen.

Wunderlich war es, daß sich die Unterirdischen
von Zeit zu Zeit einen großen Backzahn ausziehen
ließen. Diesen Backzahn setzten sie in eine Flüssig-
keit, die sie aus der Tiefe des Erdinnern mitgebracht
hatten, und aus diesem Backzahn bildete sich nach
zwei Jahrhunderten ein neuer Drachenmann.

Dahinter kamen die Menschen erst sehr spät.
Und als sie dahinter kamen, fanden alle die Ge-
schichte sehr lustig.

Fräulein Hedwig lenkte nun, als Herr Misan-
kollo in seinem Netzwerk Platz genommen hatte,
sogleich das Gespräch auf den emanzipierten Stern
in der vierten Sphäre hinter der Neptunsbahn.

Herr Misankollo sagte lebhaft, während die
füinfzig Finger an seinen fünf Armen überall mit
blitzender Geschwindigkeit in der Luft herum-
flirrten:

„Diese Bewöhüer des Sterns Rabando sind ganz
verflixte Kerle. Das sind die Kühnsten in unserem
ganzen Sonnensystem. Nein — ich weiß noch nicht,
ob es ganz sicher ist, daß diese Leute ihre Emanzi-
pation vom Sonnensystem im Einverständnis mit
dem Geiste des Sterns Rabando bewerkstelligten.
Wenn ich nicht sehr irre, gibt es auch Sterne, die
.wohl einmal gelebt haben, denen aber schließlich
alles Leben geschwunden ist, während doch auf
ihrer Haut noch lebende Rindenbewohner da sind.“

„Herr Misankollo“, rief nun Herr Bohl heftig,
„Sie bringen eine ganz neue Hypothese! Sie
sprechen von toten Sternen, auf deren Haut noch
Lebendiges da ist. Das ist denn doch nicht so
leicht begreiflich. Tote Steme! Daran hab jch
noch nie gedacht, daß auch Sterne sterben könnten.“

„Man könnte doch“, sagte Herr Misankollo,
„auch annehmen, daß Sterne lange Zeit hindurch
das tun, was wir „schlafen“ nennen. Wir sind
doch grade bei Beurteihmg der Sternseelen nur auf
ganz kühne Vermutungen angewiesen. Jedenfalls
ist in einem Stern doch alles ganz anders, als wir
es uns vorstellen. Sie haben Jahrtausende hin-
durch geglaubt, daß im Innern des Sterns Erde
intelligente Lebewesen nicht existieren könnten.
Und da sind wir denn durch Zufall plötzlich aus
dem Innern der Erde herausgetrieben und Ihnen
sichtbar geworden. Wie viele Lebewesen mögen
außer uns jetzt noch im Innern der Erde leben!
Weil es der Tiefe zu immer wärmer wird — des-
wegen ist es in größeren Tiefen noch lange nicht
so heiß, daß da alles Leben unmöglich wird. Das

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