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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 54 (März 1911)
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Hiller, Kurt: Calé und Impressionismus
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Döblin, Alfred: Die falsche Tür
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0435

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ins Elysium singen, zu jenem Cale. Er wirft den Im-
pressionisten vor, sie seien minderwertig, weil sie der
Faulheit Vorschub leisten; „wo ein Künstler sich vor
irgend einem Tun drückt, kann auch nur weniger wert-
volles herauskommen.“ Klingt schefflerisch, aber mag
wahr sein. Indessen: was heisst denn „sich drücken“?
Der doch nur „drückt sich“ vor einem Tun, der es
unterlässt, obwohl er es als notwendig empfindet. Nun
empfindet der impressionistische Dichter (und Litteratus)
nichts als so notwendig wie : Zusammendrängung. In
dieser Zeit einer grenzenlosen Geschäftigkeit und einer
dennoch hypertrophischen Bildung sieht er sich ge-
zwungen, das was er zu sagen hat, so kurz, so knapp,
so komprimiert wie möglich zu sagen; ganze Kom-
plexe von Gefühlen, von Gedanken in ein Wort zu
pferchen; formulatim zu schaffen; Pillen zu drehen.
(Nichts Göttlicheres gibt es heute in der Kunst der
Worte: als Formeln und Pillen.) Mit wenig Aufwand
viel erreichen „un minimum d’effort pour un maximum
d’effet“ — das will der Impressionist; das ist sein
Postulat; das ist das artistische Ethos, das er stünd-
lich erlebt. „Drücken“ würde er sich also nur, wenn
er, diesem inneren Soll zum Trotz, anstatt nach Kräften
zu kondensieren, es sich bequem machte, wenn er
sich behaglich verbreitete, sich in teutscher Schlaffheit
behäbig ausquatschte.

. . Beliebt einer schon die moralische Allüre, so er
ästhetisch judizieren will, dann versehe er sich wenigstens
zuvor mit einer hinreichenden Dosis moralischer Ein-
sicht. Das rate ich weniger Cale im Elysium, als
denen, die nach ihm kamen.

Kurt Hiller

Die falsche Tür

Von Alfred Döblin

Um vier Uhr morgens stellte der Wachtposten
sein Gewehr gegen die hohe Mauer des Kasernenhofes,
zog die Löschkette der letzten Gaslaterne herab, mur-
melte, den Fez ins Gesicht gedrückt, die Stirne nach
Mekka gewandt, das kurze Morgengebet. Durch die
grauen. Alleen trabten die Gemüsewagen, die Esels-
gespanne mit Milch nach der schlafenden Stadt. Die
niedrigen Fenster des Offizierkasinos werfen noch im-
mer einen breiten Lichtschein über die Strasse weg
bis an die Baumreihe der anderen Seite In den
langgestreckten Speisesaal und den Spielzimmern drang
kein Zug des eben anhebenden scharfen Morgen-
windes, im dicken Qualm bewegten sich die erhitzten
Herren; sie lagen in lockeren Uniformjacken in Klub-
sesseln. Sie drängten sich zu dreien und vieren um
einen grünen runden Tisch, schleuderten mit wilden
Blicken ihre Karten schräg über den Tisch, um nach
einigen Minuten atemloser Stille in ein lautes Geschrei
auszubrechen, sich bei den Schultern zu fassen, im
Zimmer herumzutanzen. Am Kopfende des völlig ver-
wüsteten Speisetisches sassen hinter ihren Ehrenpokalen
noch immer die beiden Brüder Kyrias, denen der
Abend gegolten hatte, sassen in einem trinkfesten
Kreise und schwelgten in Erinnerungen aus einer
Mittelmeerfahrt. Der jüngere Kyrias, Nick geheissen,
schwarzäugig wie sein Bruder, aber feurig, vollwangig,
mit kurzgeschorenem starren Haar, einem kleinen
Schnurbärtchen über den wuistigen roten Lippen,
sprudelte über und schwatzte unaufhörlich Dinge, denen
keiner zuhörte, mit seiner hohen weichen Stimme.
Ab und zu liess sich der ältere Kyrias, ein vollbärtiger
Hypochonder, von ihm fortreissen, erzählte in feier-
lich stockender Art weiter, erschrack aber, sobald er
an eine Pointe kam, nahm unsicher ein Streichholz
zwischen zwei Finger, stand auf, lächelte und Nick
musste beenden. Nick erzählte von den riesigen Sum-
men, die sie beide in Monte Carlo drangesetzt hätten,
von den Kniffen, die man beim Spiel anwenden musste.
Er hatte seinen Talisman ständig in der Hand gehalten,
hatte sich ein andermal die Stiefel heimlich unter dem
Tisch ausgezogen und in blossen Strümpfen gespielt,
hatte, als dies und vieles andere nichts nutzte, zum
Trotz eine alte hässliche Frau das Spielgeld an einem
Freitag Morgen von der Bank abholen lassen. Das
Spitzglas fiel ihm aus der fleischigen Hand und der
Wein perlte über sein faltiges Vorhemd. Er begann
eben zu erzählen, wie er klug geworden war. AIs

der Oberleutnant Irfen aus der Spielzimmertür auf sie
zu kam und sich schweigend Nick gegenüber auf
etnen Rohrstuhl aufpflanzte. Nick hatte dadurch ge-
lernt, dass er zunächst bei kleinen Einsätzen etwa drei
Stunden lang den Verlauf des Spieles beobachtete,
dass er dann von einer augenblicklichen beliebigen
Kombination ausging und nun eine kleine Wahrschein-
lickeitsrechnung machte. Die Chancen seines Spiels
stiegen jetzt um etwa achtzig Prozent. Er nahm von
dem Schreibpulte am Fenster eine weisse Lösch-
unterlage und malt mit einem Kohlestift eine Tabelle
auf.

Rittlings auf seinem Rohretuhle sitzend sah der
lange Oberleutnant ihn starr an. Das ungemein
scharf geschnittene Gesicht war glatt rasiert, die Ober-
lippe hing stark über und zuckte viel. Der Schädel
kahl. Das Haar an Schläfe und Hinterhaupt pfeffer-
grau und abstechend; in scharfem Winkel zogen die
Augenbrauen an der Nasenwurzel zusammen. Nur
die Trunkenheit verlieh seinen sonst schweifenden
Augen den starren Blick und liess durch das fahle
Grau der Wangen eine fleckige Rötung leuchten. Irfen
war selten gesehen in diesem Kasino. Er trieb sich
— das wussten seine Vorgesetzten so gut wie der
jüngste Rekrut — in den niedrigsten Spelunken der
Stadt herum, musste oft morgens in den schlimmsten
Schenken von seinen Burschen gesucht werden. Aber
ein ungewöhnlicher Scharfsinn, ein eiserner Fleiss
machte ihn unnahbar für strenge Disziplinierung. Er
war durch ein sonderbares Vorkommnis vor rund drei
Jahren aus der Hauptstadt in diese Provinzgarnison
versetzt worden. Als bei den damaligen Frühjahrs-
manövern ein grosses Avancement stattfinden sollte,
war Irfen für eine bevorzugte Stelle in dem Stabe
seines Korps vorgeschlagen. In der wundervollen März-
nacht, Tags vor dem Ausrücken seiner Abteilung jagte
er über die Dörfer, trank sich in einer Bauernschenke
fest, beendete die Nacht bei einer verrufenen Dorfhexe,
deren Fenster er vorher einschlug. Morgens setzte er
kurz vor der Inspektion auf dem Uebungsplatze mit
einem Schimmel an, von dem er später selbst nicht
wusste, wem er abgetrieben war. Der Kommandeur
ritt an dem Offizier vorüber, der kerzengrade auf dem
Gaul sass, aber Stroh im Haar hatte und dessen
Iinker Aermel weit bis in die Achsel aufgeschlitzt war,
riss noch einmal sein Pferd um und sah nun erst ver-
blüfft, dann ironisch lächend den Offizier an. In der
Nacht darauf hatte Irfen sein eigenes edles Pferd er-
schossen, war in den Stall des Kommandeurs gedrungen,
hatte auch dessen zwei kostbaren Pferde erschossen,
nachdem er vorher den Stallburschen in widerlicher
Weise gemisshandelt hatte.

Ueber den Tisch langend, nahm er dem jungen Nick
den Kohlestift und den Löschbogen aus den Händen,
sagte:

„Pass auf, Kamerad, wie deine Rechnung Iganz
richtig wird,“ schloss die Augen und fuhr mit dem
breitgelegten Kohlestift nach allen Richtungen über die
Tafel, wobei er den Rand der roden Unterlage be-
schmierte. Auf die erstaunte, etwas verwirte Frage
des jungen Nick, der sofort aufgesprungen war, brach
er in ein hartes meckerndes Lachen aus. Nick fuhr
ihn, aufrechtstehend, lärmend an, aber er setzte allen
Aufforderungen, sich näher zu erklären, nur ein höh-
nisches „Kismet; es gibt nur das Fatum“ entgegen,
so dass die Unterhaltung einen peinlichen Ernst an-
nahm und man in den Nebenzimmern aufmerkte. Der
graue Oberleutnant aber wandte plötzlich sehr bedacht-
sam seinen Stuhl um, machte mit beiden Armen aen
Tisch vor sich frei, setzte sich hin und legte sich
breit, den Kopf auf den Armen, über den Tisch hin.
Das linke Auge kniff er zu, den linken Mundwinkel
zog er herunter, sein Gesicht bekam einen gesparmten
Ausdruck; er schlug mit dem linken Arm wiegend
auf die Tischpiatte: „Sag was du willst, Nick, tu was
du wiilst. Ich versichere: hast du das Glück, so kannst
du deine Abteilung rückwärts marschieren lassen über
ein Stoppelfeld, und keiner stürzt dir hin. Andernfalis:
tue was du willst, quäle dich auf einer Pritsche ab,
zerarbeite dich: es nutzt nichts. Es kommt nicht zu
dir, das Glück. Es hat nicht den Schlüssel zu deiner
Tür. Daran liegts. Lass deine Hände weg davon; es
tritt nicht über deine Schwelle, niemals, wenn du auch
mit einem Strick an seinem Hals ziehst.“ Der andere
höhnte auf eine krampfhafte Art. Er redete ruhig
weiter. „Ich werde dir etwas sagen. Hole mir noch
eine Kanne griechischen Wein. Wcnn ich mich heute
schlafen lege, so werde ich es einmal versuchen.
Wieder einmal. Aber im Schlafe. Ich werde im
Schlafe fragen, verstehst du mich, was ich wissen will
oder nicht wissen will; ich weiss nicht was und werde

mit der Antwort aufwachen. Sieh her —“ er hatte
sich, den Kopf auf den linken Arm, mit dem Ober-
körper ganz gespannt über die Tischplatte gelegt, griff
mit der offenen Hand in die Luft — „so wie ich hier
bin, werde ich schlafen, werde Kismet sagen und die
Zukunft befragen, die wird mir meine Frage beant-
worten“. Sein Faustschlag dröhnte auf dem Tisch; er
sprach mit absoluter Bestimmtheit. Es war kaum eine
halbe Stunde später, als er über den Tisch gesunken,
einschlief.

Mittags gegen zwei wachte er auf. Als er schwei-
gend durch den Saal ging, neckte ihn der junge Nick.
Irfen besann sich, er hatte nichts im Schlaf gefragt
und ihm war nichts eingefallen. Er ging in die Stadt,
kam um acht Uhr wieder, um sich sich mit finsterer
Miene wieder znm Trinken hinzusetzen.

Ein Pokulieren im kleinen Kreise begann; in dem
beginnenden Lärm sass er versunken da. Bis er mit
einmal, gegen zehn Uhr, aufstand, krachend sein
Glas auf den Tisch schmetterte und schweigend, den
Blick zum Fenster hinaus in die Flamme der Gas-
laterne gerichtet, steif stehen blieb.

„Halt, halt,“ schrie er.

Dabei liessen seine Augen nicht von der Gaslaterne
los. Die flackerte garnicht.

„Nummer sechs, Nummer sechs.“

„Deibel, was hat er?“

„Ich sage, Nummer sechs.“

„Das Fatum“, flüsterte Nick seinem erschrockenen
Bruder zu.

„Weche Strasse, Irfen?“ schrie eincr vom Ende
des Tisches.

„Nummer sechs ist es “

„Halloh, Perastrasse,“ brüllte derselbe, „da wohnt
sie I“

Irfen blieb schweigend stehen. Er flüsterte etwas.

„Perastrasse,“ wiederholte er automatisch sehr
leise, er setzte sich plötzlicn hin, sehr ruhig, trank
sein Glas in einem Zuge aus und blickte sich um.
Einen Augenblick hielt die Verblüffung im Kasino an,
dann lachte einer, schliesslich alle brüllend auf. Nick
sprang auf: „Das Falum hat gesprochen, Kameraden.
Räuchert unsere Pythia aus“. Sie drangen auf den
Oberleutnant ein, schlugen wie er auf den Tisch:
„Bravo, Prophete!“

Sie drängten ihn, zu sagen, was er gefragt hatte.
Er fuhr sich über den kahlen Schädel, brummte; er
konnte sich nicht besinnen. Das Gelächter nahm kein
Ende.

Er sagte gleichmütig, indem er sich aus einem
Kruge vom schwersten Griechenwein einschänkte, „in
einer Stunde wolle er hingehen, das Fatum habe ge-
sprochen; er könne es nur entgegennehmen; sie
sollten lieber einen Zeugen auswählen; lachte zu-
frieden, als Nick sich selbst vorschlug und gewählt
wurde, und als die jungen Leute wilde Allotria zu
treiben anfingen. Sie vermummten sich in Frauen-
kleidung, erschienen vor ihm als Damen des Hauses
Nummer sechs, schnitten, als sie den schamhaften
Schleier hoben, die entsetzlichsten Grimassen, brüllten
lockend und pathetisch: „Kismet, Kismetl“ Die Kasino-
burschen legten ihm und Nick kurz vor elf die Mäntel
um, schnallten ihnen Degen und Revolver um, gaben
ihm den Fez in die Hand. Durch das Spalier der
zurückbleibenden, die beschlossen hatten, bis zur Rück-
kehr der beiden zu warten, gingen sie aus der Tür
hinaus; Irfen voran, völlig kalten Blicks, als verliesse
er wie sonst das Kasino; hinter ihn prahlerisch, etwas
betrunken und hoch vergnügt Nick. Sie taten die
ersten Schritte in die frische Nachtluft hinein. Nick
schwatzte stolpernd über das Pflaster; Irfen gab keine
Antwort. Dann sprach auch Nick kein Wort mehr. Als er
an der ersten Strassenecke Irfen mit einer Handbe-
wegung über die Richtung orientieren wollte, bemerkte
er, dass Irfen den Kopf auf die Brust hatte sinken
lassen, so dass sein Fez fast herunterfiel und der
Büschel vorüberhing. An einer Strassenlaterne kam
es ihm vor, als ob der Oberleutnant mit festgeschlos-
senen Augen ging, und als ob eine tiefe Spannung seine
Mundwinkel herunterzog und wieder die unbeirrbare
Sicherheit auf seinem Gesicht erschien.

Den schon bestüizten jungen Mann befiei eine
Angst, die seine Glieder lähmte. Als er noch einmal
scharf den steinernen Ernst und die Verbissenheit
fixierte, die neben ihm schritt, fuhren seine Hände
entsetzt zusammen: „er versündigt sich“ schoss ihm
durch den Kopf; es überkam ihn die Lust, stehen zu
bleiben, wegzulaufen, jemandem mitzuteilen, was hie

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