Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 24 (August 1910)
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Luftquallen: Eine Entdeckergeschichte
DOI Artikel:
Kosztolányi, Dezső: Gedichte
DOI Artikel:
Spyka, Otto: Sommerfrische
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0195

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Darauf,“ sagte er, „können Sie sicli fest ver-
iassen. Iöh lüge auch nicht. Deswegen fühle ich
mich ja sb zu Ihnen hingezogen. Wahrheitsfreunde
fühlen sich immer zueinander hingezogen. Ich ver-
spredie Ihnen 'feierlich, nur die lautere Wahrheit
zu sagen.“

Wir schüttelten uns gerührt die Hände, Dobber-
katz traten zwei dicke Tränen in die Augen —
mir nicht.

Ich wurde nun ungeduMig, und wollte nun
endlich erfahren, was dem Herrn aus Amerika
passierte, ich sagte das, und er antwortete:

„Ich will mich kurz faslsen!“

„Davon merke ich noch nichts!“ sagte ich' be-
sdieiden.

Er aber begann zu erzähten — mit leuchtenden
Augen — folgendermaßen:

„Ich stieg ganz allein in meinem Ballon auf,
uin die Gondel So wenig wie möglich zu belasten, und
so erreichte ich sehr bald eine Höhe von ungefähr
zehntausend Metern.“

„Ungefähr?“ fragte ich.

„Ja,“ sagte er, „ich hatte feider Meßapparate
nicht mitgenommen — weil ich — ja — weil ich
gar nicht die Absicht hatte, der Welt durch Er-
reichung einer besonderen Höhe zu imponieren.
Ich wollte etwas anderes; jch wollte hoch oben
neue Lebewesen entdebken!“

Die letzten Worte schrie Herr Crispin, ich aber
mdnte ganz ruhig:

„Wenn Ihnen das gelungen ist, so werde ich
sehr viel darüber schreilben. Erzählen Sie nur weiter!
Fassen Sie sich nur kurz!“

Und er faßte sich endlich kurz — also:

„Ich setzte hoch oben meinen Motor unter
meiner Gondel in Bewegung, wikelte mich fest in
tneinen Pelz, stieg mit meiner Gondel höher und
erreichte mit meinen Händen meinen Luftballon,
da die Gondel 1 ja schneller hoch stieg, als der
Ballon. Ich hielt nun den Ballon mit zwei leichten
Stöcken, die ich nur zu diesem Zwecke mit-
genommen, und stieg nun immer höher — ungefähr
zwei Stunden hindurch.“

„Wieder dieses Ungefähr!“ bemerkte ich un-
wiliig. i

Er aber sagte gelassen: „Die Zeitbestimmung
ist gänzlich gleichgültig. Denn — sehen Sie! Jetzt
Sah ich das Ungeheuerlicdiste — ich sah aquamarin-
farbige Riesenquallen.“

Er schwieg und sah mich an, und idi wollte nun
eine Beschreibung dieser Quallen haben.

„Stellen Sie sich,“ erklärte er da lebhaft, „zehn
Meter breite, fast durchsichtige Seequallen vor —
etwas hellbläulich und etwas hellgrünlidh — wie
Auquamarine sind. Aber sehr hell — fast durch-
sichtig. Diese Riesenquallen hatten vier Augen,
die sie sofort, als sie mich sahen, wie Fornrohre
vergrößerten. Die Fernrohire wurden wohl Zwanzig
Meter hoch. Das Tollste aber bemerkte ich unter
ihrem Leibe — da faltete sich etwas auseinander —
ein Propeller war’s — ein natürlich angewachsener
Propelier mit vier Flügeln. Diese Naturschraube
setzte sich in Bewegung und brachte das Tier mit
kolbsSaler Geschwindigkeit weiter. Und dann
kamen sehr bald andere ,QualIen herbei — noch
größere und auch kleinere — und alle die Quallen
hatten natürliche Motorschrauben unter ihrem Leibe.
Der Leib konnten sie in eine Kugel verwandeln.
Die Schraubenflügel machten den Eindruck von
Elfenbein, sie waren nicht größer als der Körper und
konnten in diesen so hineingepreßt werden, daß sie
ganz unsichtbar wurden. Nun starrten mich diese
ungeheuerlichen Lebenwesen, von denen viele sehr
viel größer als mein Ballon waren, unheimlich mit
ihren langen, an den Spitzen scharf smaragdgrün
funkelnden Fernrohr-Augen mit großer Neugier an.
Und ich starrte die Tiere gleichfalls an und wußte
nicht, was ich sagen sollte. Ich sdhlug mit den
Händen herum und vergaß, daß ich Stöcke in den
Händen hatte. So kam es, daß ich plötzlich mit dem
Kopf gegen den Ballon stieß und so tief in den
Ballon hineinkam, daß ich die Quallen nicht mehr
sehen konnte. Ich hielt den Motor an und da konnte
icch mich nicht gleich von dem Ballon frei machen.
Kurz und gut: ich sank, mit dem Kopf im Ballon,
in die Tiefe. Und als ich den Kopf schließlich frei
bekam, sah ich die Luftquallen nicht mehr. Und als
ich nach meiner Landung auf der Erde mein Aben-
teuer erzählte, glaubte man mir nicht; man lachte
mich einfach aus. Die Mechaniker wollten, ich
soljte meine Schulden bezahlen; sie pfändeten mir

Gondel, Ballon, Mofor, Pelz und alles Uebrige, so
daß mir nur so viel übrig blieb, um nach Europai
zu Ihnen zu reisen. Ich möchte nochmals mit
meinem Höhenlüftballon aufsteigen. Wenn Sie eine
Gesehichte über das, was ich Ihnen erzählte,
schreiben, so werden sicherlich einige Luftschiffer
aufmerksam auf mich werden. Die Luftquallen
inüssen ja auch von anderen Leuten zu entdecken
sein. Ich möchte, daß auch andere diese Luft-
ungetüme entdecken. Sie blicken mit ihren Fern-
rohr-Augen offenbar immerzu in die Sternenwelt
hinein. Vielleicht ist es möglich, diese Lebewesen
zu uns hinunterzubringen. Jedenfalls müssen Sie
eine Geschichte darüber schreiben, damit die
Menschen erfahren, daß ich diese Luftquallen zuerst
entdeckt habe. Diese Entdeckung ist docli inehr
wert, alS die Entdeckung des Nord- und Südpols.“

„Ist das alles wahr?“ fragte ich nun.

Da versicherte er mir nochmalS, daß alles, was
er erzählt habe, wahr sei.

Und da kann ich nun nur so berichten, wie ich’s
mit dem Vorstehenden getan habe.

Ich weiß, daß Herr Dobberkatz ein Ehrenmann
ist, dem ich eine Lüge nicht zutrauen kann.

Wenn Kapitalisten Hcrrn Dobberkatz unter-
stützen wollen, bin ich gern bereit, seine Adresse
anzugeben.

Geüichte

Von Desider Kosztolänyi

Die sechste Stunde

Die Uhr ist stehn geblieben und der Zeiger
Blickt totenstarr die sechste Stunde an.

Und immer, immer ist die sechste Stunde . . .
Was du auch tust, der Pendel regt sich nicht;
Unter des Glases feingeschliffner Scheibe
Ruht er so wortlbs wie ein stiller Toter,

Den durch des Sarges Fenster du betrachtest.

Es steht die Uhr. Und die Sekunde fl'ieht,

Die Tage schwinden, es vergehn die Jahre —
Jahrhunderte, Jahrtausende . . Es steht die Uhr.
Der Herzschläg all der leichtbeschwingten Zeit
Durchbebt in Schauern das Verhängte Zimmer,
Doch keine Regung weckt das tote Schweigen.

So grauenhaft sdhweigt nicht die Mitternacht.

Es harrt das Rad. Und aus dem morschen Werke,
Dem Kerker reglosen Beharrens weht
Der ruhige Hauch der Ewigkeit dich an.

Die U h r steht still. Es ist die sechste Stunde.

Kranke Kiisse

Wie fieberkrank ein Kind mit wirren Mienen,

In schwüle Pfühle tastend sich verwühlt.

Am Gläs der sChweren braunen Medizinen
Die trockenheißen müden Finger kühtt —
Wehleidig dann, mit widriger Grimasse,

Halb abgewandt nach einem Löffel greift

Und von dem bittern-süßen Nasse

Auf die verdorrten Schtaffen Lippen träuft:

So glüht in diesen Sommersonnenbränden
Das heiße Weh auf meiner Seele Grund, —

So lange ich nach deinen lauen Händen
So küss ich deinen feuchten, sanften Mund.

Nachdichtungen von Heinrich Horvät

Sommerfriscbe

Von Otto Spyka

Dort, wo Wälder, Berge bder Seen den Vor-
wand dafür abgeben, entsteht allsommerlich die
Kolbnie der Städter. Fern von den Stätten des ge-
wohnten Nervenreizes, von Theatern, Kunstsalons
und Kaffeehäusern, setzen sie sich hier ganz schutz-
los, gemeinsam dem Einfluß der Langeweile aus.
Das nennt man Sominerfrische.

Unter den mannigfachen Kuren, die den moder-
nen Menschen Zeit und NerVosität vertreiben helfen,
ist die durdh LangeweilC yiel zu wenig gewürdigt.

Die Langeweile ist derjenige Vorzug, den der Pro-
spekt der Kurorte konsequent verschweigt. Wälder,
Sonne, Quellen und Ozon werden verheißen, nirgends
steht das Lob der Langeweile, die über dem allen
sChwebt, und ihre unausbleibliche Wirkung üben
wird. Sie wird den Gast vom Moment der Ankunft
an umhütlen, wird ihn spielend, im GeplätsCher
ihres Einerlei, seinen Gewohnheiten und täglichen
Verpflichtungen entführen, wird ihn wieder auf-
nahmefähig und bedürftig fiir Eindrücke und
Menschen machen. Sie erscheint alsdann als der
gemeinsanie Feind, vor dem sie fliehen; in Wirklich-
keit wird sie dadurch zur Schöpferin des sommer-
lichen Treibens überhaupt. Enger als sonst
schließen sich die Menschen zusammen, inniger ge-
stalten sich die Beziehungen, das ganze Leben, das
sich vor der Dekoration von Wald und See abspielt,
wird intensiver. Es wird äußerlich zu einer Kette
von Schutzmaßregeln; Ausfliige, Reunionen, Feste
entstehen in dcr Leere, die durch den Mangel der
gewohnten Zerstreuungen geschaffen ist. Das gc-
heimnisVolle Rezept fiir das gesteigertc Leben des
Sommers ist kein anderes, als das auf den Bällen und
Soireen des Winters schon erprobte: man fiille
irgend einen Raum möglichst dicht mit Menschen,
die nichts Von einander wollen und nichts mit ein-
ander zu tun haben, und lässe auf die Almungs-
losen die Langeweile los. Nach einiger Zeit kann
man die verlobten Paare herausholen. So schwarz
und wenig ansprechend ist die Erde, aus der mit
seinem Duft und seinen Farben das Sommerleben
dringt. Aber Seinem Reiz entziehen sich nur wenige;
vielleieht bloß die Alten, die mit Röntgen-Augen
durch Flirt und Tanz hindurch imrner das KnoChen-
gerüst einer werdenden Ehe sehen. Ueber sie hat
die Zauberin Langeweile keine Gewält mehr; sie
unterhalten sich immer und meistens von der
legitimen Fortpflanzung des Menschengeschlechts.

Unmerklich werden die vielen Einzelnen, die
aus der Bahnhofspforte schritten, in besondere
soziale Gebilde einbezogen. Da ist die Tischgesell-
schaft. Hier präsidiert die junge Dame und läßt
die minder glücklichen Schwestern iin Vorübergehen
eine Anzahl tadellos moderner Sakkos bewundern,
die um den Tisch gruppiert sind und die, so scheint
es, an ihrer Innenseite unablässig von liebenden
Herzen beklopft werden. Da ist das Boot; hier
werden Liebesenergien mit Hilfe zweier Ruder der
Fortbewegung dienstbar gemacht; am Steuer sitzt
die junge Dame. Und zwischen Tischen, Booten
und Promenade spinnen sich zahilose Fäden des
Interesses hiji und her.

Allüberall regiert der Klatsch. Toilette, Verhält-
nisse, Vergangenheit des lieben Nächsten sind an
der Ordnung des Sommertages. Klatsch ist ein
sozialer Faktor von größter Bedeutung, er ist der
Nährboden der heranreifenden Bekanntschaft. Er ist
das Auspuffventil für die nicht zustande gekommene
oder für die vorzeitig abgebrochene Beziehung. Im
KlatsCh erwacht das Interesse am anderen, hier
wäChst es heran und hier entladen sidh, fast immer
schadlos, zahllose Haß- und Liebesgefühle, die aus
irgend einem Grunde nicht an ihre Adresse gelängen
können. Klatsch ist ein Regulator der menschlichen
Beziehungen, ein mit Undank gelohnter Wohltäter
deS 1 Verkehrs. Nur er erzeugt jene elektrische
Spannung zwischen den Personen, die jeden Moment
bereit ist, sich in Annäherung umzusetzen und
welche dann die tötliche Oede einer ersten Be-
kanntschaft überspringen läßt. Er stellt eine feine,
oft gedankenreiche Verbindung zwischen persönlich
Unbekannten her; er umhüllt sthützend die sozialen
Keime, bis sie sich zur Verbindung Von Menschen
entwickelt haben. Mit Unrecht wird die Beschäfti-
gung mit abwesenden Menschen tiefer gestellt, als
jene mit Tennisbällen, Pferden, Automobilen oder
der Literatur! Nichts schützt den Klatsch vor der
Verurteilüng, nicht einmal die Schönheit der Lippen,
auf denen er am liebsten wohnt. Einzig und allein
ein Ansatz von Schimmel, der Moderduft längst
vergangener Zeit madht ihn gesellschaftsfähig und
geachtet. Hätte im Rom vor zweitausend Jahren ein
Desperado der Erotik das Köpfchen des FräuJein S.
verdreht, oder wäre es eine pompejanische Rasier-
stube, die ihre liebenswürdige Genossin zu selten
frequentiert, das wäre ein Klätsdh 1, der das Herz
jedes Gelehrten erfreute; der würde auch keinem
Gymnasium Schande bereiten. (Es ist wohl unnötig
zu sägen, daß die erwähnten Weiblichkeiten fingiert
sind und in Wirklichkeit nicht existieren.) Der ge-
ehrte Klatsch der Wissenschaft, der yerpönte der

191
 
Annotationen