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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 14 (Juni 1910)
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Laudon, R: Robert Koch
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Mann, Heinrich: Alt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0110

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Arten zogen Koch an. Er reiste den zauberhaften
Dingen in einem unbezwinglichen Drange nach weit
bis in afrikanische Wiisten, spürte ihrer unheimlich
hinterhältigen und verschlungenen Lebensweise
nach. Er schwamm ihnen schweigend in die Tiefe
nach, bis er sie hatte und wie ein klirrendes Torpedo
aufwarf.

Er liebte gerade scharfe Qedankengänge, lehnte
das Nebenbeiliegende und Theoretisierende ab. Er
war ein Gegenstlick zu dem anderen lebenden Klas-
siker der Medizin, Paul Ehrlich, der, ein phantastisch
strenger Logiker, von Schluß zu Schluß schreitet
und sich von hier aus der Tatsache bemächtigt.
Koch blieb keinen Augenblick ohne Ftihlung mit der
greifbaren Wirklichkeit; er ging von Wirklichkeit
zu Wirklichkeit. Er war ein Nichts vor ihr, ein
Organ, ein Mund. Ein Qott gab ihn der Mensch-
heit, zu sagen, was sie leidet.

Alt

Von Heinrich Mann

Leonhard schloß die Tür und wünschte sich,
sie nie wieder zu öffnen; die Straße, die er nun
ging, zum letzten Mal zu beschreiten. Er fand, diese
Frau habe ihm den bitteren Becher wieder einmal
voll genug gegossen, auf die Neigen, die noch von
den anderen darin waren. Ihrer Aller Herrsch-
begier, ihre Sucht, einen auf die Probe zu stellen,
die Ruhelosigkeit ihrer Empfindungsart und ihre
Unfähigkeit, uns Freund zu sein: ihm deuchte, er
habe von alledem, um die Mitte der Vierzig, zum
Sterben genug. Er erinnerte sich eines einsamen
Hauses am Wege nach Süden; weiß stand es vor
tiefem Wald; — dort ließ sich ruhen: er wollte hin!
Nöch Nachts packte er ein. Schloß er die Lider,
stand das Haus darin. Vor Jahren hatte er’s be-
sichtigt; es hatte Wasser an den Grundmauern.
Er fand es noch immer leer und kaufte es.

Die Vorderseite sah weiß besonnt ins Hügel-
land. Aber hinten stieg Leonhard von der feucht-
giiinen Terrasse in den Wald hinein, der ihn in
starke Arme nahm, besänftigte und kühlte. Leon-
hard ging barhäuptig," ließ die Zweige ihre Tropfen
an seinem Gesicht abstreifen, legte sich in Bäche,
saß Iange regungslos auf einem Baumstumpf, und
nichts war zu hören in dieser Schattentiefe, als der
Laut des von Rehen abgerupften Grases. Eins der
Rehe weidete so nahe, daß er es mit seinem Stock
hätte beriihren können. Nun hob es seine großen,
schwachsinnigen Augen auf ihn, ganz unwissend, in
einer Haltung, wie wenn es fröre; — und auf ein-
mal begriff es und tat, um zu fliehen, einen Ruck,
als risse es sich los . . . Allmählich gewöhnten sie
sich an seine stille Form; und ihm war, wenn sie
um ihn her die sanften Hälse wendeten, wie bei
Wesen, die er behütete und die ihm vertrauten.

Den Winter erwartete er unschlüssig in seinem
Zimmer; aber als er kam, war er gut und fruchtbar.
Durch die Gänge, die leeren Säle klapperte, stieß
und schleppte der Wind bis an Leonhards Tür.
Drinnen hatte er’s warm, hatte sein Bett, seine
Felle, seinen Tisch mit Büchern, — und sah er auf,
krümmte drunten, hinter den fünf hohen Fenstern,
das eisige Hügelland sich unter Sturmschlägen. Nur
unwirtliche Straßen führten in die entbehrliche
Welt. Leonhard beglückte es, daß er sie entbehren
konnte. Er staunte, wie er nicht früher gemerkt
habe, Landschaften und Bücher ersetzen die
Menschen. Scham und Grauen berührten ihn bei
dem Gedanken, er hätte imer weiter, unabsehbar
weiter Alles was sein war, an das Lächeln und die
Launen von Frauen gehängt, an die regellosen
Dinge, die in ihren Köpfen geschahen. Er fühlte
sich aus großer Unordnung gezogen, befestigt und
verjüngt. Es ward wieder Sommer und nochmals
Winter. Leonhard gab sich frei, er erlaubte sich:
„kehre zurück, du bist geheilt und vernünftig“.
Aber er blieb und wollte das Verdienst, daß er um
sich erwarb, das> Verdienst, entsagt zu haben, nicht
vorschnell vergeuden. Er sammelte Einsamkeit
und geizte mit ihr.

Schließlich bedrückte sie ihn, wie ein allzu
schwerer Schatz. Er lernte wünschen, ihn
Jemandem hinzuschütten, sich mitzuteilen, die
Sicherheit und Weisheit, die geklärte Menschlich-
keit, allen Segen dieser fünf Jahre auf ein Anderes
zu übertragen, nicht eigensüchtig und unnütz einst
zu enden. Ein Kind ersehnte er.

106

Von fahrenden Leuten nahm er eins an, ein
siebenjähriges Mädchen, schwarzlockig und fein-
knochig, mit Augen, die der Hunger schwermütig
umrändert hatte. Die Kleine wußte nur von
Hunger und Schlägen, von den Kniffen, womit man
Schlägen entging, und der Kunst, Essen zu er-
gattern. Leonhard lehrte sie menschliche Güte
kennen und versuchte, von den großen Harmonien
der Natur einen schwachen, spielerischen Widerhall
in ihr zu bewirken. Sie öffnete weit die Augen und
schmiegte sich an ihn. Er war glücklich. Als er
sie betroffen hatte, wie sie jungen Vögeln die Hälse
umdrehte, weinte sie vor Reue, bis ihm bange ward.
Kurz darauf sah er sie ein Kätzchen quälen. Sie
lächelte dabei naschhaft. Wie er dann hervortrat,
trug sie plötzlich eine innig versunkene Miene und
drückte sich das Tier gegen die Wange. Vor Bestür-
zung schwieg er; auch vor Scham und beinahe vor
Furcht.

Er lobte sie für ihre Freundschaft zu der
kleinen Idiotin, die in der Küche diente. Ueberall
kamen sie ihm zusammen entgegen; und Vinella
hielt die Andere umschlungen, als wäre sie ihr sonst
entlaufen, und küßte ihr das Gesicht, das jene offen-
bar gern versteckt hätte. Leonhard fand sie ein-
mal, wie sie auf ihre Hände weinte, und sah die
Fingerspitzen alle verbrannt. Sie wollte nicht
sagen, wie es geschehen sei. Da gewahrte sie Vi-
nella und lief davon. Unruhig befragte Leonhard
Vinella. Sie antwortete sicher. Sie hatte einen
kleinen entschiedenen, nachsichtigen Ton und ein
Lächeln, als sagte sie: „Ich weiß, was du denkst.“
Er fühlte selbst sich betreten und machtlos.

Selten bat sie, und nur um Dinge, die er sicher
bewilligte und an denen ihr nichts lag. Die andern
nahm sie heimlich. Auf weiten Umwegen erreichte
sie die Erfüliung von Wünschen, die sie nur faßte,
weil sie den seinen entgegen waren. Nie ver-
schmähte sie Ausflüchte, führten sie nur von dem
Spazierwege fort, den er sich vorgenommen hatte.
Verschwörungen zettelte sie an, damit ein von ihm
bestelltes Gericht nicht auf den Tisch komme. Und
er mochte erschrecken, er mochte sich fragen, was
er tue: ihr Streich machte ihm größeres Ver-
gnügen, als wenn sie ihm folgte. Ihre Schlauheit,
ihre Lügen um der Kunst des Täuschens willen,
unterhielten ihn. Wenn sie ihm am Halse hing,
wußte er dennoch, daß er ihren Liebkosungen
glauben dürfe; und daß sie ihn ehrlich hasse, kam
er ihr irgendwo in die Quere. Schon war er ganz
in dies Wesen eingesponnen, das versteckt und
doch wahr, und das unschuldig in der Tücke war.
Je mehr sie heranwuchs, desto deutlicher erinnerte
sie ihn an lauter schon Erlittenes. Bei ihr schien
Alles runder, entschiedener; er ließ in ihr noch ein-
mal etwas über sich ergehen wie eine Zusammen-
fassung aller Anderen; und er erlebte sie ein wenig
aus der Ferne, mit einem nachprüfenden Lächein.

Er entschuldigte sich: „War es etwas Anderes
als Selbstsucht, da ich sie zu meinen seelischen Nei-
gungen drängen, sie meiner Persönlichkeit unter-
jochen wollte? Vielleicht hätte eher sie das Recht,
weil sie vollständiger und stärker ist ais ich?
Wirklich gehört ihr in meinem Leben ein gewisser
Platz; und ich bin nicht sicher, daß ich einen in
ihrem habe. Erziehung? Was für einen
Schwärmer damals die Einsamkeit aus mir gemacht
haben muß! Ich hätte also eine Tigerin zum
Droschkengaul zähmen sollen?“

Noch immer, obwohl sie nun groß war, über-
nachtete sie oft im Walde. In ihren flatternden
seidenen Kleidern setzte sie Tieren nach und
kletterte auf Bäume. Ihr Zimmer war kokett
möbliert; und Spuren waren auf den weißen Fellen,
dem weißen Lack, wie von Tieren, die sich gewälzt
hätten. Wochenlang mochte sie nur Haselnüsse
und Beeren; plötzlich kamen ihrem Gaumen die
schwierigsten Gelüste, und das Haus roch früh und
spät nach Festen. Vinella hockte sich beim Essen
auf Leonhards Kniee; schob ihm Bissen in den
Mund, den sie küßte, während er kaute; gab ihm
den schwarzen Wein zu trinken, in den sie kindlich
ihre rote Zunge getaucht hatte; fächelte ihn mit
ihrem parfümierten Fächer, bis er einschlief.

Erwachte er und sah sie nicht mehr, wärd ihm
beklommen und leer zu Sinn. Kein Buch ersetzte
ihre Gegenwart. Er rief nach ihr, unter dem Vor-
wand von Geschenken. Um sie fünf Minuten länger
bei sich zurückzuhalten, tat er, was er nie getan
hätte. Er entließ, weil ihre Laune es wollte, seinen
alten Diener. Er schoß auf die Rehe, die einst nahe
um ihn her, wie in seiner Hut, geweidet hatten.
Das Geld, das er seinen Neffen schicken wollte, ver-

langte sie für sich, und er gab ihr’s. Sie hatte nie
um Kostbarkeiten gebeten, außer um glitzernde. Es
war ihr gleich, wem das Haus gehören sollte, durch
das sie wie ein Windstoß ein- und ausfiog. Nur er
und seine Selbstachtung, fühlte er, galten ihr als>
Beute. Feige, sah er, hatte sie ihn gemacht, wie
jemals eine ihn feige gemacht hatte. Er tröstete
sich damit, daß er’s sein wolle. „Warum war icb.
ehedem anders? Weil es zu meinem Glück diente.>
Ziel ist immer nur das Glück.“

. . . In dieser Herbstnacht schlief er nicht. Die
Fenster klirrten im Sturm. Fahrende Leute wareni
heute dagewesen. Noch spät war das Tor ge-|
gangen. Was tat jetzt sie? War sie im Walde?»
Hatte sie bei sich im Zimmer den zerlumpten
Burschen, mit dem sie, den Handrücken auf die
Hüfte, geplaudert hatte? Leonhard drückte die
Augen zu und keuchte in sein Kissen. Sie war nunj
siebzehn. Längst schon ängstigte er sich, so oft sie
das Haus verließ. Sie hing an nichts, sie war
herrenlos und gesetzlos. „Eines Tages wird sie
nicht zurückkommen; und dann, was dann?“
Lieber noch — er hielt den Atem an — hätte er ge-
wollt, der Bursche wäre in ihrem Zimmer und sie:
zu Haus. Aber als er dies zu Ende gedacht hatte,
sprang er auf, Iegte zitternd Kleider an, nahm den
Leuchter. Die Tür flog zu, das Licht verlosch, er
tastete sich über die weiten, wankenden Dielen bisj
an ihr Zimmer, horchte, spähte durchs Schlüssel-
loch und sah drinnen das Mondlicht sich auf denj
Boden werfen und wieder aufspringen, gleich einem
Gespenst, das tanzte. Er öffnete: sie war fort.

Er stieg die Terrasse hinab, sttirzte sich in den \
Wald, der in Aufruhr war, wie ein Meer. Die i
Bäume knarrten, wie Masten untergehender Schiffe. j
Hundert toile Lichter, kreuz und quer, zuckten. Die |
Luft brannte einem die Haut und trieb einen zu |
rasendem Laufen und Schreien an. Leonhard
schrie den Namen Vinella, schrie ihn, unerlösbar, in
den Sturm. Als er sich wiederfand, saß er auf
einem Baumstumpf, starrte wirr um sich und merkte j
am Ende, daß er erwartet habe, ihn würden Rehe
ansehen.

Er kehrte um und betraf sich dabei, daß er j
betete: laut betete, noch einmal möchte sie wieder- I
kommen. „Dann lasse ich sie nicht mehr. Ich j

führe sie in die Welt. Sio ooll dcn Rciclitum licnnon j

lernen. Er wird sie fesseln. Sie wird begreifen,!
was sie an mir hat. Sie wird mich lieben.“

Im Hause wehten alle Türen hin und her; es j
war ganz durchtobt. Er schloß keine, auch die |
seines Zimmers nicht, und zündete Lichter an, so
viele da waren. Und in ihrem Schein stand dort ;
im Spiegel zum ersten Mal ein Alter! Leonhard
trat schaudernd auf ihn zu, dem weißes Haar wirr
um das gerötete Gesicht hing. Er blickte ihm in I
die wilden Augen. „Ein greiser Wüstling“, dachte
er. „Ich habe nicht gewußt, wie man das wird.
Ich hatte von mir ein anderes Bild. Wie die Namen
ihren Sinn ändern, wenn sie uns selbst meinen, und
die Dinge, sobald wir drinstecken!“ Noch eben, er-
innerte er sich, hatte er gehofft, sie werde ihn um
seinen Reichtum lieben. „Ist das schimpflich? Es
kommt so sehr von selbst.“ Er bedachte auch:
„Nun ich wieder liebe, stellt sich’s heraus, daß ich
alt bin, — und da steht es nun, das Alter! Unver-
mittelt: denn ich war so lange schon ausgeschieden
und ohne Ansprüche, zeitlos vor Einsamkeit!
Warum habe ich nicht, wie Andere, nach Ehren
gegeizt? Sie würden mich in schmeichelhafter
Weise von der Jugend entfernt haben. Unter den
Verbeugungen der Welt würde ich das Alter lang-
sam bestiegen haben wie einen Thron, — anstatt
jetzt darin zu erwachen wie in einem Straßen-
graben. Aber ich war immer nur ein Sinnlicher.
Außer den bitteren Bechern, die mir Frauen füllten,
schien keiner mir trinkbar. Und wenn dieser der
letzte wäre! Vinella!“

Schon merkte er nicht mehr, daß er laut ge-
rufen hatte; — und wie er an das Tischchen beim
Fenster trat und das Glas mit Wein an den Mund
hob, wich die Gardine zurück vor Vinella. Ihr
nachsichtiges Lächeln bedeutete ihm, sie wisse,
was Alles er getrieben und gedacht habe. Er reckte
die Arme aus: „Vinella!“ Da sagte sie ruhig, ein
wenig spöttisch, und als wäre es nichts: „Ich
bin dein“.

Leonhard wich zurück; ihm schwindelte; ihm
ward kalt. Er schloß, und tastete dabei mit dern
Glas nach den Lippen, die Augen. Er öffnete sie
wieder, als der Wein heiß in ihn hineinrann. Dumpf
war er versichert, Vinella habe, aus der Gardine
hervor, in sein Glas ein Pulver fallen lassen, und er
 
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