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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 15 (Juni 1910)
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Scheerbart, Paul: Das neue Kriegsinstrument: Eine zeitgemässe Betrachtung
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Walden, Herwarth: Die blaue Blume
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0124

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Das neue Kriegs-
instrument

Eine zeitgemässe Betrachtung
Von Paul Scheerbart

Der Qraf Zeppelin hat vor einem Jahr in Köln er-
klärt, daß das von ihm nach Köln gebrachte Militär-
luftschiff ein Kriegsinstrument sei und vor allem da-
zu diene, unser Heer noch wehrfähiger zu machen.
„In welchem Maße dies geschieht,“ sagte er, „das
wird die Zeit .wohl lehren. Doch habe ich die Qe-
nugtuung und Befriedigung, daß mein Werk, das der
Stärke des Heeres gilt, gleichzeitig dem Frieden
dienen wird.“

Daß das Werk des Qrafen Zeppelin dem Frie-
den dienen wird, kann nicht bezweifelt werden.
Aber es wird ihm noch ganz anders dienen, als man
denkt. Das lenkbare Luftschiff macht aber unser
Heer keineswegs „wehrfähiger“; es wird eben die
Stärke des Heeres n i c h t vermehren.

Wir können heute doch sehr wohl iiberschauen,
„in welchem Maße“ die Lenkbaren in die Entwick-
lung des Militarismus eingreifen. Es muß dem
widersprochen werden, der behauptet, daß erst die
Zeit lehren kann, wie sich alles entwickelt. Wir
können das heute schon ganz klar vor uns sehen,
wenn wir folgerichtig darüber nachdenken.

Als Kriegsinstrument ist das Lenkbare das ein-
fachste Ding in der ganzen Welt. Das Lenkbare
wird eben einfach mit Dynamit bepackt, und das
Dynamit wird nachts auf die Festungen, Städte
und Kriegsschiffe des Feindes geworfen. Die
Kriegswissenschaft erfährt eine ungeheure Verein-
fachung. Darum ist das Kriegsministe-
rium in Berlin heute dem Qrafen Zep-
pelin gegenüber so merkwürdig kühl.

Die Beschlüsse der Haager Konferenz werden
nichts an der Sachlage ändern. Wenn die Men-
schen behäupten, daß sie sich in Lebensgefahr be-
finden, so sind ihnen alle moralischen und ethischen
Bedenken ganz gleichgültig. Die Lenkbaren hätten
für das Militär im Kriege gar keinen Zweck, wenn
sie n i c h t mit den allerbesten Sprengstoffen be-
packt würden.

Der Qedanke, daß wir in zwei bis drei Jahren
hunderte von Lenkbaren haben werden, wird heute
nicht mehr als phantastisch bezeichnet werden
können; die Lenkbaren werden eben zu hunder-
ten da sein — und die Qleit- und Drachenflieger
ebenfalls.

Für den Militarismus bedeutet das aber k e i n e
Stärkung — das Qegenteil ist der Fall.

Zunächst müssen sich die Führer unserer gro-
ßen Volksheere darüber klar sein, daß das n e u e
Kriegsinstrument allen anderen Instrumenten des
Krieges vollkommen überlegen ist.

Eine Festung ist von den Lenkbaren sehr
schnell ruiniert. Und eine Flotte kann den Lenk-
baren auch nicht widerstehen. Kasernen, Pulver-
vorräte und marschierende Fußtruppen sind von
den Lenkbaren ebenfalls sehr leicht zu vernichten
— so leicht, daß man die Existenzberechtigung aller
militärischen Arrangements, die auf der Erdrinde
verbleiben, ganz energisch bestreiten muß — sie
sind einer Luftflotte gegenüber einfach ausgeliefert,
und man muß darauf dringen, daß sie baldigst auf-
gelöst werden. . . . Das hab ich nun schon minde-
stens fünftausend Mal gesagt. . . .

Der militaristische Fachmann wird zunächst
einfach ablehnen, die Frage der Auflösung unsrer
bisherigen Armeen und Flotten zu erörtern. Er
wird die Sache für so abenteuerlich halten, daß er
das Qanze für einen schlechten Witz erklären dürfte.
Aber — sobald erst das erste Hundert von Zeppe-
lins da sein wird — dürfte er nicht mehr in der
Lage sein, auch fürderhin die Auflösungsfrage als
belanglos hinzustellen; sie ist tatsächlich nur eine
Frage der Zeit.

Zunächst dürften also die Zeppelins keinesfalls
in der Lage sein, unser Heer noch wehrfähiger zu
machen. Der Qraf Zeppelin hat alle Veran-
lassung, diese seine Bemerkung zurückzunehmen.

Nun ist aber das Lenkbare und der Qleit- und
Drachenflieger als neues Kriegsinstrument näher zu
betrachten.

Eine gemeingefährlichere Waffe haben wir bis-
lang noch nicht gehabt. Diesem neuen Kriegs-
instrument gegenüber sind alle Panzerschiffe
Spielerei. Auch die stärksten Festungen wirken
dagegen kleinlich; sie sind schlechterdings nicht'zu
schützen. Um eine einzige Festung gegen Nacht-
120

angriffe einer feindlichen Luftflotte zu schützen,
müßten in jeder Nacht ein paar Dutzend Lenkbare
mit Scheinwerfern immerzu die Festung umkreisen.
Und wenn dann die feindliche Luftflotte mehr Lenk-
bare und Gleitflieger oder Drachenflieger zur Ver-
fügung hat, so bringt sie auch die die Festung
schützenden Luftschiffe um — und dann ist die
Festung doch verloren.

Wenn man nun bedenkt, daß sehr viele
Festungen, Flotten, Hafenanlagen, Pulvermagazine,
Kasernen zu schützen wären in der ange-
gebenen Weise, so kann man sehr leicht aus-
rechnen, daß kein Staat jemals in der Lage sein
könnte, so viele Luftschiffe herzustellen, um a 11 e
seine militärischen Arrangements, die auf der Erd-
rinde verblieben, gegen Luftangriffe zu schützen.
Es geht eben nicht. Und deshalb ist der Staat, d e r
auf der Erdrinde nur sehr wenig zu
schützen hat, am ehesten in der Lage,
aggressiv zu werden.

Und darum muß man in allem Ernste daran
denken, die bisher verwandten Kriegsinstrumente
allmählich auszurangieren — und dafür die Luft-
flotte so rasch wie möglich auszubauen. Auch
Seeschiffe sind beim besten Willen nicht gegen
Dynamitmassen, die nachts von oben kommen, zu
schützen. Man braucht nicht Militärwissenschatten
studiert zu haben, um das einzusehen. Es ist alles
s e h r einfach — wohl z u einfach. Ein Intelligenz-
aufwand ist für den Luftkrieger beinahe gänzlich
iiberflüssig.

Jedoch — gesetzt, die Staaten Europas hätten
das an der Erdrinde haftende Kriegsarrangement
gänzlich beseitigt und hätten nur noch Luftflotten
mit vielen Lenkbaren und Tausenden von Gleit-
fliegern —- würde dadurch der Luftkrieg einen
größeren Aufwand von geistigen Fähigkeiten bean-
spruchen?

Ich erlaube mir, diese Frage zu verneinen.

Worauf kann es denn bei einem derartigen
Luftkriege ankommen? Doch nur darauf, dem
Feinde so viel zu zerstören, daß er wirtschaftlich
ruiniert wird.

Um das zu erreichen, werden die Luftschiffe
wahrlich nicht Schulter an Schulter kämpfen; sie
werden eben einzeln ausgesandt werden — und
haben nur die simple Aufgabe, ihr Dynamit dort
fallen zu lassen, wo etwas zerstörenswert er-
scheint. Und die Qleit- und Drachenflieger haben
die Tätigkeit der Lenkbaren als Kundschafter zu
unterstützen und außerdem die feindlichen Luft-
schiffe und Qleit- und Drachenflieger so oft wie
möglich anzugreifen — und zwar immer des Nachts
aus dem Hinterhalt heraus.

Ich glaube doch, daß sich die Militaristen Eu-
ropas ein wenig besinnen werden, bevor sie sich
bereit dazu erklären, derartige Luftkriege vorzu-
bereiten. Wenn eine Sache dumm wird, dann macht
sie nicht mehr Spaß.

Ich weiß wirklich nicht, was dem Qesagten
noch hinzuzufügen wäre. Das Thema reicht kaum
für ein Feuilleton in der üblichen Länge aus. Es ist
wahrlich die ganze Geschichte z u einfach — so
einfach, daß sich viele Militaristen genieren werden,
sich mit derartigem „Kriegsspiel“ weiter zu be-
fassen.

Und so sehe ich denn das Ende des Militarismus
herannahen. . . .

Der Qraf Zeppelin hat durchaus Recht, wenn
er sagt, daß sein Werk dem Frieden dienen wird.
Aber daß dieses Werk n u r dem Frieden dienen
wird — und nicht mehr dem Kriege — das wird
der Qraf Zeppelin wohl nicht geahnt haben.

Man will natürlich niemals gern an rasche Ent-
wicklungen glauben. Aber in den letzten hundert
Jahren sollten wir uns doch schon an rasche Ent-
wicklungen gewöhnt haben; vor hundert Jahren
gabs noch keine allgemeine Wehrpflicht, keine
Volksheere im Sinne unsrer Zeit — die Dampfbahn
existierte auch noch nicht — und die Zahl der Qroß-
städte war eine minimale. Wie rasch hat sich aber
Volksheer, Dampfbahn und Großstadt entwickelt!
Das sollte man nicht vergessen, wenn man an die
Zukunft der Luftschiffahrt denkt — da wird sich
auch alles viel rascher entwickeln, als man denkt.
Man vergesse auch nicht, wie schnell sich die
Fahrräder und die Automobile entwickelten.

Ich kann mir aber nicht denken, daß sich der
Luftmilitarismus in der oben angegebenen Art ent-
wickeln wird; ich denke doch, man wird sich bei
Zeiten besinnen und einen Zusammenschluß der

europäischen Kriegsstaaten nicht fürderhin für eir
Unding halten.

Dann hätte das neue Kriegsinstrument des
Qrafen Zeppelin mehr für den Frieden getan als dK
Haager Konferenz und der Nobelpreis zusammen.

Und ich glaube, der Qraf Zeppelin könnte mi*
seinem Erfolge zufrieden sein — wenn er ihn aucl 1
nicht so beabsichtigt hat.

Es wäre sehr wünschenswert, daß sich di e
Militärschriftsteller zu dieser zeitgemäßen Be-
trachtung baldigst äußerten.

Allerdings: Ich weiß, daß sie das nicht tufl
werden.

Die blaue Blume

Julius Wolff ist gestorben. Man war bei deH
Nachrufen der Presse auf Schlimmeres gefaßt. Nuf
der Lokalanzeiger kann sich nicht fassen. „Seine
Dichtungen erlebten Auflage um Auflage, sie sino
wahre Hausbücher der deutschen Familie gewordefl>
Bücher vor allem auch fiir die Jugend, die immef
noch die blaueBIume derRomantik liebt und sucht“.
Immer noch. Trotz Qeschäft und Sport. Selbst def
Herr vom Lokalanzeiger bestätigt es. Und diesefl
unglücklichen jungen Leuten wird zugleich immet
noch Julius Wolff angelegentlich empfohlen. Es ist
erstaunlich, wie wenig eine literarische, eine künst'
lerische Bewegung in Deutschland bedeutet. MaO
beruft sich auf die „Klassiker“, liest sie nicht, forder 1
zum Kampf gegen die wenigen selbständigen Dichtef
tind Kiinstler auf und tritt mannhaft fiir dio
schlimmsten Epigonen und ärgsten Kitscher eiü-
Die deutsche Familie trinkt soviel Bier, daß sie iö
der Kunst nur noch für Zuckerwasser zu haben isü
Dieses Qetränk wirkt auf sie unwahrscheinlich»
märchenhaft, „romantisch“. Es erregt keinefl
Durchfall, sondern verstopft das Qehirn, das Gefühk
die sinnliche Anschauung. Mit diesem Rezept be-
handelte Herr Wolff die deutschen Sagen und def
verblüffende Erfolg auf die Patienten blieb nicht aus.
Aber er wandte auch sein Zuckerwasser äußerlich
an und die blaue Blume ging nicht auf. Sie dankte
für solche Behandlung. Der Lokalanzeiger sieht siß
trotzdem prangen: „Eine bewundernswerte Wort-
kunst, ein staunenswerter Reichtum der Sprach-
melodie, eine mit unzähligen Bildern spielende Ver'
trautheit mit der Natur wirkten in diesen G e'
m ä 1 d e n mit, in denen sich wie in prachtvollen Qo-
belins unzählige bunte Fäden kreuzen.*
Aber Herr Wolff malte nicht einmal mit Zwirn, wR
der Lokalanzeiger, er malte überhaupt nicht. E f
vergewaltigte einfach die Sprache und'Streckte si ß
in ein unglaublich langes Versbett („bewundernS'
werte Wortkunst“, „staunenswerter Reichtum“).

Deutsche Jugend, die immer noch die blaif e
Blume der Romantik liebt und sucht, laß dir kein 6
falschen Wege zeigen. Der Lokalanzeiger weiß h*
der Qegend der Romantik nicht Bescheid, sein 6
„Spezialberichterstatter“ kennen sie nur vom Höreff'
sagen. Der D-Zug hält dort nicht. Und glaube alsO
nicht, die blaue Blume bei Julius Wolff zu findeH’
Auf seiner Wiese wachsen nur Butterblumen. Zuff 1
Beweis pflückte ich eine ab:

Auch in dieser Linde Wipfel
War zur Stund ein Bild zu schauen,

Hehr und herrlich wie die Qötter,

Die in dunklen Hainen wohnten.

Wie des Epheus griine Ranke
An den sturmerprobten Waldbaum
Sich mit tausend Fasern klammert,

Hielt Regina mit den Armen
Und mit Sinnen und Qedanken
Ihren Heribert umfangen,

Schmiegte sich an den Qeliebten
Lehnte sich in seinen Arm auch,

Den er wie zu Schutz und Stütze
Um die Schulter ihr geschlungen.

Also standen sie und schauten
Beide in die offne Landschaft,

Er in edler Mild’ und Mannheit,

Bild der Kraft von hohem Wuchse,

Sie in voller Jugendschöne
Blühend, schwellend, wonneatmend.

Ueber ihren Häupten grade,

Einem Baldachin vergleichbar,

Spannte sich ein Zweig der Linde,

Und der helle Glanz der Sonne
Qab ein Funkeln und ein Blitzen,

Wie von goldner Luft umsponnen
Waren die zwei Lichtgestalten.

Vastehste! Trust

Verantwortlich für die Schriftleitung:
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE
 
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