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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 27 (September 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck
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Mayer, Hans: Die Bildungsphilister
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Zech, Paul: Sommerabend im Park
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0219

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gewordne Skllaven, die nach Belieben ein- und her-
aus lassen. Selbst viele Arbeiter leben im Eigentum
ihrer Mütter. Oequacksalbert hat die Alte an der
grünen Pumpe, noCh heute heilt sie Krampfadern
und Beingeschwüre. Und das berühmte Oeheim-
mittel gegen die Cholera hat der sterbende Oroß-
vaterWillig dem Vater insOhr gelallt und der hat
eS wieder dem Sohn anvertraut und nun weiß es
der Enkel', der wahrsCheinliCh seiner gesprächigen
Mutter wegen taubstumm zUr Welt kam. Und iiber-
haupt so sel'tsame Dinge gingen in der Stadt vor;

— immer träumte ich davon auf dem Schufweg über
die Au. Manchmaf lief ich durch graue, lose Schleier,
Nebel war überall; hinter mir kamen sChauerliche
Männer mit einem Auge oder foser NaCktheit; auch
an Ziethens HäusChen mußte ich' Vorbei, der seine
Frau erechlägen haben sollte, „ewwer en doller
Oesell wors gewäsen“. Oft ließ idt vor Angst die
Bücher faflen oder der Ranzen hing mir nur noCh
halb auf der Schulter. Nun grünt nicht mehr die von
Zäunen umgrenzte Au; Tore verschließen Häuser;
kein Schülkind kann mehr auf dem Wege zur Schule
tiäumen, jedes Fenster zur Rechten und zur Linken
weckt es auf. Lebt der greise Direktor Sch'ornstein
noch, der nicht wie die roten Schornsteine rauchte,
aber vor Zorn so oft fauChte? Ich bin verliebt in
meine Stadt und bin stofz auf seine Schwebebahn,
ein Eisengewinde, ein stahlharter Drachen, wendet
und legt er sich mit vielen Bahnhofköpfen und
sprühenden Augen über den schwarzgefärbten
Flüß. Immer fliegt mit Tausendgetöse das
Bahnschiff durch die Lüfte über das Wasser auf
schweren Ringfüßen durch Elberfeld, weiter über
Barmen zurüCk nach Sonnborn-Rittershausen am
Zoologischen Oarten Vorbei. Mein Vater mußte
an den Sonntagen mit mir dorthin gehen, der be-
merkte nicht den Sekundaner mit der bunten Mütze.
Auf dem Hügef im Tannenwäldchen am Bärenkäfig
versprachen wir uns zu heiraten. — Ich muß an afles
denken und stehe pfötzlich wie hingehext vor meinem
Elternhaus; unser langer Turm hat miCh gestern
schon ankommen sehen; ich fall ihm um den Hals
wahrhaftig. Leute am Fenster des Hauses bemerken,
daß ich weine — sie laden mich ein auf meine
Bitte, einzutreten. Schwermütig erkenne ich die
vielen Zimmer und Flure wieder. Auf einmal bin
ich ja das klcine Mädchen, das immer rote JOeider
trägt. Fremd fühlte ich mich in den hellen Kleidern
unter den andern Kindern, aber ich liebte die Stadt,
weif ich sie vom Schoß meiner Mutter aus sah.
Von jeder Höhe der vielen Hügel schwebt noch ihr
stolzer Blick wie ein Adler; und meines Vaters
lustige Streiche stürmen eben um die Ecke der
Stadt. „Wat woflt öhr van meCk, eck sie jo sing
Doochter.“ Das rettet mich vor der schbn erhobenen
Faust eines besoffenen Herumtreibers. Das ver-
wilderte Jahrmarktgesindel rings um mich sChwenkt
meine Kindheit immer wieder Von neueim wie in einer
vielseitigen Luftschäukel auf und nieder. Das Qe-
klingel der Karussellmusik, begleitet von Flüchen
rauher Mäufer und Kreischen frivoler Weibsbilder
ist zärtlich meinem Ohr. Denn ich bin verliebt in
die Stadt der Messen und Karusselfs. Mein Begleiter
versucht mich zu überreden, mit ihm den Riesen-
jahrmarktplätz zu Verlassen. Aber ich muß noch
einige Male Karussel fahren. „Lott es doot, Lott
es 1 doot‘, ich fahr für mein Leben gern; gerade die
aftmodischen Holztiere sind am fröhlichsten und
drehlichsten. Mein Leopard springt auf Raub.
Zwischen Aujust und Aujuste die Bewußte, hinter
Caaf und Caaroline Alma, Luischen, Amanda. Gar
nicht stolz bin ich — sie beginnen mich zu lieben.
Ich bin verliebt in meine Stadt, manchmal schrei
ich ganz laut auf, das überzeugt das rohe, a,rme
Gesindel. Den Härrn Schüler haben viele gekannt,
er hat sie umsonst wohnen lässen in seinen Häusern.

— Wir gehen durch das Tor ins Elberfeld vor
„dreihundert“ Jahren. Mina singt gerade im Tingef-
tangef ihre Liebeslieder. In rosanen Atlaspantoffeln
stecken ihre Kfumpfüße, ein knappes Röckchen be-
deckt ihren Allerweltsleib. Diese Undame charak-
terisiert das Chantant einer ganzen Zeit. Icli ent-
gehe ihrem Spotte nicht, aber ich weiß ihr Achtung
einzuflößen. Ist Ihr Hals etwa nicht wie Milch?
Und zuguterfetzt erkundige ich mich angelegentlich,
wo man genau solche Pantoffeln bekommt in der
Stadt, wie die ihren sind. „Die sinn ut Engeländ
bei Paris.“ — Nun hinein ins Kölüer Hännesken!
Qewaltsam zerre ich den Dichter zwischen die
Clöwns ins Innere des Brettertheaters. „Sie werden
noch gestochen werden wie Ihr Vater einmaf.“
Durch seine Uhr giag die Spitze des Metzgermessers.

Am anderen Morgen führten die jammernden Eltern
den heulenden Sohn vor Öas fieberknarrende Bett
meines Vaters. Er wußte, daß sie kommen würden
und drei Qfäser und eine Flasche Rotwein standen
zum Empfang auf dem NachttiSch. Aber er ächzte
vor Schüierz, namentfich, als' die fette Metzgers-
mutter begann, dat et där waCkere Här Schüfer ver-

zeehen mödd_ Ich bin verfiebt in meine Stadt,

aber schon muß ich Abschied nehmen wie von
einem alten, düsteren Bilderbuch mit lauter Sagen.
Niemand hat mich wiedererkannt, auch in Weiden-
hbf der Wirt nicht, der immer einen ganz kfeinen
Kellner für mich herbeischaffen mußte am Festtag,
wenn wir dort Foreflen aßen. Und die Einkehr in
meine Heimat häbe ich einem Dichter in Elberfeld zu
verdanken, der kam dorthin fange nach mir. Paul
Zechs feine künstlerische Gedichte duften morsch
und grün naCh' der Seel'e deS Wuppertals.

Sommerabend im Park

Nun geht der Wind wie ein vergnügter Junge
DurCh das Vertiefte ruhende Rondefl
Und horcht, und wirft bäld stockcnd und bald schhell
Das schfanke Qras empor in schönem Schwunge.

Und Fackefglut steigt breit von den Altanen,

Wogt und Verschwistert sich in vagem Sinn
Mit Ruß und Rauch und wird zur Tänzerin.

Und Frauen, die verliebte Feste planen,

Kreisen die dunkfen Qänge ein und wallen
Mit prafler Brust, als müßten sie gerührt
Der waChen Kühfe in die Arme fallen. —

Und immer weher winken Bank und Lauben;

Bis durch 1 die tropfenden Akazientrauben
Mit blÖder Wucht der gelbe Vollmond friert.

Paul Zech

Die Bildungspbilister

Die Kampfmittef der Masjse sind raffinierter,
tötlicher, entscheidender als alle subtilen Gifte der
Intellektuellen, die unfruchtbar und wirkungslos vor
ihrem breiten Oesäß zerfalien. Zart ausgestanzte
Begriffe, mit einer wundervollen Explosivkraft be-
gabt, werden mit einer pfumpen Oeste unter Wasser
gesetzt: sie werden populär. Keusch muß die Seele
sich sefbst verzehren: was siChtbar wird, gleitet
an zahllosen Händen zwischen die rastlosen Kiefer
der öffentlichen Kulturvertreter. Das ist eine mora-
lische Erwägung, aber ihr entquellen die geringen
Versuche zur Abwehr: die Versuche, Distanzen ein-
zuschälten, Cliquen zu bilden, hieroglyphenhäfte und
hochmütige QeheimspraChen einzuführen. Doch
diesem bunten Feuerwerk kreist eine ungeschändete
Sehnsucht zu grunde.

Als Friedrich Nietzsche die leicht geölte Be-
kennerstirn David Friedrich Strauss mit der zarten
Gloriole des „Bildungsphilisters“ umwand, war noch
rauchende Schwefelsäure in diesem Begriff, die ihren
Gegenstand behütsam zu einem farblosen Pulver
zerfraß. Und wie der Kritiker, der Prosäist Strauß
sich der Geschichte auch darbieten wird: immer
wird die geschwungene Geste seiner leicht tremo-
lierenden Männlichkeit ein koketter Zipfel der ge-
spitzten Nachtmütze rhytmisch begleiten.

Nun ist der Begriff des Bildungsphilisters ein
Konvereationsmittel geworden. Seine SChwefelsäure
ist ihm durch allzu zudringliche Benachbarungen
entzogen. Aber soflen wir es niCht bedauern? Der
Typus hat sich in vierzig Jahren nur noch reiner
herausgestellt — wer erkennt in dieser Beschrei-
bung nicht den Habitus 1 jener Volkserzieher, diei
ihrer barbarischen Seefe durCh allzu nachdrückli-
chen Lebensernst eine grefle Folie geben? „Er
nimmt um sich herum läuter gleiche Bedürfnisse
und Ansichten wahr; wohin er tritt, umfängt ihn
auch sofort das Band einer stillschweigenden Kon-
vention über viele Dinge, besonders in Betreff der
Religions- und Kunstangelegenheiten: diese impo-
nierende Gleichartigkeit, dieses nicht befohlene und
doch sofort Iösbrechende tutti unisono yerführt ihn
zu dem Glauben, daß hier Kultur walten möge.

Aber die systematische und zur Herrschaft ge-
brachte Philisterei ist deshalb, weil sie System hat,
rioch nicht Kultur und nicht einmal schleChte Kultur,
sondern immer nur das Gegenstück derselben, näm-
liCb dauerhaft begründete Barbarei“. NietZsche, der
Unzeitgemäßen Betrachtungen letztes Stück. So
reckt sich vor ihm selbst sein Bild gigantisch aus:
er findet sich herrschend in aflem und die Instinkte
seines schwachen Kopfes ate die Bedürfnisse des
Parterres, das die Peripherie seines Horizontes um-
schreibt. Das ist sein Bild: ehrfurchtslos und voll
Aberglauben an die Historie, vorurteilsfrei unddurch
unreifc Dogmen gekneChtet, allem benachbart ohne
jemandem nahe zu sein, alles verstehend und alles
unsäglich verdünnend, was sein polypenhafter Geist
in seine Kreise zieht. Der Helötentrost des ehrlichen
Wollens sei ihüi ohne weiteres gegönnt — gerade
dies, seinen präzeptorischen Eifer und seine see-
lische Wurzellosigkeit betonend, wird es zurPflicht,
die Syntax des kritischen Verkehrs durCh die Reini-
gung des Wortes Bildungsphilister zu bereichern.

Es gilt, die Aktualität des Begriffs an ErsChei-
nungen, die unstere Zeit uns darbietet, aufzuzeigen.
Die Auswahl hat also nach detn Prinzip der Natur-
wissenschaft zu geschehen: sie vollzieht sich nicht
durCh die Frage naCh dem privaten Wert Söndern
der deutlichen Ausprägung der die Art charakte-
risierenden Merkmale. Nur unter dieser Voraus-
setzung wird die Beschäftigung mit den einzefnen
Beispielten begreiflich werden. Aber es muß gestattet
sein, den Aerger in einer gewissen munteren Befebt-
heit zum Ausdruck zu bringen.

...Der „Tag“ ist eine Zeitung, die micb infolge
der Mitarbeit Alfred Kerrsi zu seinen Abonnenten
zähft. Dieser Zustand wird mir durch 95 % der
Mitarbeiter unsäglich erschwert. Es ist eine gelinde
Rache, wenn ich einen von ihnen mit einer höf-
lichen Verbeugung zu mir auf die Bühne bitte.

Der Hauptpastor des „Tag“, meine Herren, ist
Arthur Brausewetter, der dünnsten, lteersten und
gesalbtesten Köpfe einer. Er verbindet die auf-
rechte Fortschrittslüst demokratischer Verbands-
vorstände mit dem überffüssigen Verständnis alles
menschlichen, das eben noch in peinlich-hümanen
Dramen langsam verlisCht. Es ist unglaublich, was
der Brausewetter alles Versteht und verzeiht — es ist
ungfaublich, wer und was ! sich alles Von ihm tent-
schuldigen lassen muß. Die Zeit der „Zarathustra-
Predigten“ ist doch Gott sei Dank vorbei — warum
servicrt uns dieser Herr jene provinzieflen Halb-
heiten, die einem Viertelskopf kaum noch eine spär-
fichte Originalität anwehen? Oft haben wir, meine
Freunde, dieses laue Geschwätz unter Lachen und
Aerger vergesSen: aber was er eben im „Tag“ ser-
viert, dieses Gemiscli aus Oef, Honig und Vasteline,
und noch dazu mit dem wohfmeinend ausgestreck-
ten Zeigefinger in den Schfünd gestoßen, wer erträgt
das noCh 1?

Ateo: „Die Tragik des Philosophen“. Von
Arthür Brausewetter.

„Die Erkenntnis ist nicht nur Lust- sie ist auch
Schmerzgefühl, sie Vermehrt im gleichen Maasse das
Leben Wie den Tod. Will sie in den letzten Grund
allesSeins eindringen und dasUnerforschliche erforschen,
so gräbt sie sich sehend das Grab. Wer Gott schaut
stirbt.“

Ein stehleppend getragener Talar, der eine breite
Welle lilafarbener Tinte hinter sich her zieht (aber
der Saum ist schwermütiges Violett). Wer hat je
gegfaubt, daß das wahr sein könnte! Nunmehr kann
keine Frage sein, was der Wille zum Leben — auch
ein schmefzender Lyrismus der brausewetterschen
Theologie — sich wählen muß. Natürlich: die Phi-
losophie gräbt sich sehend ihr Grab, wenn sie in den
Itetzten Grund des Seins eindringen will. Herrrrr! Als
Sie, den ich btei Gott als einen würdigen Mann in der
behäbigsten Rundung der Jahre vermute, noch das
Alphäbet erlernten, dessen Sie siCh jetzt zu so
schändlichen Zwecken bedienen, wagte man solche
Weisheiten nicht mehr auszusprechen: aus Furcht
von einem phifosophisChen Kalendermacher des Pla-
giats überführt zu werden. In seefisch ausgetrock-
neten Zeiten suchte man die Substanz von Versen
so festzustellen, daß man ihren „Inhalt“ in Prosa
ausdrückte. Dampfen Sie ihre windgeschwellte
Phrase ein, und wenn Sie dem Präparat nicht schau-
dernd gegenüberstehen, gänzlich ergriffen ob sol-
cher Banalität — ich bitte mir die Vollendung des
Satzes ersparen zu dürfen. SChmerz und Lust des
Ereknnens — von welteher armseligen Wiese pflückt
man nur solche Blümchen?

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