Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 42 (Dezember 1910)
DOI Artikel:
Brod, Max: Die Wallfahrt zu Orazio: Erzählung
DOI Artikel:
Loos, Adolf: Ueber Architektur
DOI Artikel:
Wagner, Hermann: Eine Verlorene
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0340

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
„Dieser Weise in einer mitteldeutschen Stadt war
mir ein rechter herzerquickender Trost in meiner alles
überragenden Volikommenheit. Ich hatte seine Poesien
gelesen, seine politischen Pläne begeistert mitgefühlt«
seine Kupferstiche angeschaut, seine fundamentalen
Entdeckungen in der Farbenlehre, in Botanik und Ana-
tomie nachgeprüft In unsäglicher Wonne überlegte ich
oft den Qedanken, dass er ein mir Ebenbürtiger, mein
anderes Ich sei. Ich genoss in Phantasie herrliche Qe-
spräche mit ihm, wundervolle Einverständnisse über die
Köpfe all der niederen Menschen hinweg, scherzhaftes
und doch 'so tiefernstes Erraten der Qegenreden, Ent-
gegnungen vor ?der Aussprache, Repliken vor der Ant-
wort, innige Freude und Würdigung in Qebärden und
funkelnden Augensternen. Und wie ein Blitz träf es
mich, als ich einmal sein Bild erblickte und eine nicht
undeutliche fAehnlichkeit zwischen uns beiden fest-
stellen konnte . . . Auf, zu ihm, dort ist meine Heimat,
und seine Heimat ist bei mir, so jubelte mein Herz,
wir 'werden nun beide nicht lange mehr einsam
sein 3. . .

Orazio Jwar in seinem Qarten, als ich .* eintrat.
Ebenso gross und stattlich wie ich schritt er über den
Weg einher unter dichten weissen Haaren in wirbelnde
Sonnenflecken. Ichijwar in glühender Spannung auf
das Aeusserste gefasst, auf eine feurige, tränenreiche
Umarmung der Seelen, auf eine;"Offenbarung. Er kam
näher, reichte mir liebevoll die Hand und sah mir in
die Augen. Ich nannte meinen Namen. Da leuchtete
sein schönes Qriechenantlitz freundlich auf, er sprach
von meinen Wundertaten, die er natürlich längst kannte
wie ich ^die seinen. Wir kamen sofort in ein an-
genehmes Qespräch, er zeigte mir seine Anlagen, mit
bedeutender Qebärde wies er auf die jungen Obstbäume
hin, die er selbst gepflanzt hatte, er machte mich auf
die neue Mooshütte an der Felswand, auf Ausblicke in
eine heitere Ferne aufmerksam. Mit gütigen Worten
geieitete er mich dann in sein palastähnliches Wohn-
haus, über Marmor nnd Teppichbänder in einen kühlen
weiten Speisesaal.

t'JIch war darüber erstaunt, hier keine Einsamkeit zu
finden, nein, ein freundliches Qedränge von Menschen,
die ihm alle entgegeneilten und nicht ohne Bewegung
auf ihn einsprachen. Er ordnete alles durch Nicken,
Lächeln, Winken, und bald sassen wir an der wohl-
gedeckten Tafel, ich äls Gast an seiner Seite. Rote
und gelbe Flaschen, Fruchtschalen, glänzende Schüsseln
und gemalte Teller streuten ihre Farben über das weisse
Tischtuch.

Nach dem fröhlichen Essen kam man in Qespräche.
Und nun freute es mich sehr, wie alle diese meinen
Orazio ehrten. Es hatte mich befremdet, dass er sich
in Gesellschaft vergnügte; aber jetzt ging mir ein Licht
auf. Diese Gesellschaft war ihm ja vollkommen unter-
geben, erkannte seine masslose Ueberlegenheit, sah in
ihm einen einzigartigen Qipfel. Die einen häuften Lob
auf ihn, die anderen baten um Urteil und Rat. Man
brachte Statuetten, geschnittene Steine, technische Risse,
Experimente über den Magnetismus, Qedichte jüngerer
Leute, Notizen aus seltenen Büchern.... Es war
recht häuslich und gemütlich anzusehen, wie eine grosse
geistige Familie mit ihrem Oberhaupt.

Und als der Andrang verebbt war, zog Orazio
ein Manuskript aus einem silberbeschlagenen Holz-
kästchen und begann mit schöner Stimme vorzulesen.
Ich lauschte hingegeben den neuen reichen Ausdrücken,
der gewaltig-lieblichen Gestaltung. Begeisterung und
heilige Andacht, alle die idealen Gefühle, die ich bei
den üblichen Anlässen nicht mehr anwandte, befielen
mich dieser Kunst gegenüber. Und ich war entrüstet,
als einer sich erlaubte, mitten in den Vortrag ein-
zufallen. Nun, man könnte sein Lob und seine Be-
geisterung doch ein wenig zurückhalten dachte ich mir,
man könnte doch den Meister sein herrliches Werk
ausreden lassen.... Wie erstaunte ich aber, als ich
dem Unterbrecher näher zuhörte und vernahm, dass
er garnicht Iobte, nein, dass er, dieser kühne Tor,
tadeln wollte, ein Wort meines Orazio tadeln wollte.
Ich dachte mir: nun, der wird schön ankommen! und
freute mich schon auf die selbstherrliche Zurecht-
weisung.... Aber nein und nein.... kaum konnte
ich die ganze Bedeutung dieses Ereignisses auf einmal
fassen .... Orazio lächelte wie vordem, menschen-
freundlich und still, er besah die Stelle, schüttelte den
Kopf und strich, ja er strich wirklich das angegriffene
Wort aus. Nun erhoben sich im weiteren noch andere
Stimmen; und jeder wurde Qehör gegeben, manche
nach liebenswürdiger Widerlegung zurückgewiesen, viele
gar viele aber durch Aenderungen berüksichtigt.

Ichgwar wie betäubt von dieser Wendung.

Und es gab dann noch eine Unterredung im
Garten, die mich vollends jeder Hoffnung beraubte . . .
Ich war 'mit ihm hinterj den übrigen zurückgeblieben.
Wir schritten langsam durch den Qesang der Vögel
und denfAbendsonnenschein.

Ich sagte: „Du hast dich doch nur verstellt, Orazio.
Du hast doch nicht im|Ernst den Torheiten deiner
Tischgenossen Qehör gegeben “

Er zeigte mir das Blatt. Es war toll gestrichen,
wirklich geändert: „Warum denn nicht?“

Undfdu siehst nicht ein, dass man diese Leute
nicht im Wahne nebenfdich stellen kann, dass man
sie völlig und ohne Vorbehalt verachten muss, dass
ihre Art zu denken ?und zu leisten von der* deinen
sternenweit verschieden ist?

Er sah mich mit fröhlichen Augen arglos an.^l
„Und |du weisst also nicht, dass wir beide wie
zwei Rubine unter Schottersteinen leuchten, wie zwei
Sterne im Morast; und dass fwir uns durch ein Gottes-
wunder als Zwillinge des Qeistes endlich, endlich unter
diesem Pöbel gefunden haben!“ . . . Das E aber
wollte jich nur sagen. Von seinem ruhigen menschen-
freundlichen"Läche!n verstummte meine Rede.

Ich schwieg. Und ais twir die übrigen laut plau-
dernden Spaziergänger eingeholt hatten, da schlug ich
unbemerkt einen Seitenweg ein. Die kühle Abendluft . . .
Qesang der Vöge! . . . von ferne * muntere Stimmen
wie Springbrunnen .7. - Ich konnte mein Leid nicht
ertragen, ich fiel mitten im Wege auf den nackten
Boden nieder und weinte stundenlang . . .

Nun ja, Orazio^war sehr Iieb zu mir, überaus
herzlich, und bewirtete mich drei Tage."|Er schickte
sogar einen Malerjpnjjjmein Quartier, Sder mich für
seine Qemäldegalerie porträtieren musste. Aber zwanzig
andere meben ’miriwurden mit denselben Ehren em-
pfangen. ... Es herrschte eine weiche, nivellierende,
weltzufriedene Stimmung in seinem gGarten und in
seinem .Hause, es herrschte ein süsses, lügenhaftes,
vornehmes Glück dort, eine leichtsinnige Abgeklärtheit,
eine angenehme Kameradschaft mit den Mindern, ein
wärmelndes Gleichheitsgefühl.

Sollte darin vielleicht schon eine höhere Entwicklung
liegen als die, welche ich bisher erreicht habe? . . .
Dieser Qedanke jjschoss mir manchmal durch den
Kopf. ma

Ich musste schnel! abreisen. Ich [musste diesen
Gedanken jjjabweisen. Denn /gleider kann ich einem
Netz von andern Qedanken nicht entrinnen; meiner
Aufgabe, Klarheit zu verbreiten und alle j Menschen
aufzufordern, zu mir aufzublicken und zu mir auf-
zusteigen.

Und nun . . . seit meiner Wallfahrt zu Orazio
fühlte ich mich wirklidh einsam, unverstanden . . . in
der ganzen lächerlichen Banalität, die diesem ekelhaften
Worte zukommt! “

Ueber Architektur

Von Adolf Loos

Aus dem Vortrag, den Adolf Loos im Verein fiir Kunst
hielt, sei hier eine kleine aber wichtige Stelle mitgeteilt.

Das Haus hat allen zu gefallen, zum Unterschiede
vom Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das
Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers.
Das Haus ist es nicht. Das Kunstwerk wird in die
Welt gesetzt, ohne dass ein Bedürfnis dafür vorhanden
wäre. Das Haus deckt ein Bedürfnis. Das Kunst-
werk ist niemandem verantwortlich, das Haus einem
jedem. Das Kunstwerk wili die Menschen aus ihrer
Bequemlichkeit reissen, das Haus hat| der Bequemlich-
keit zu dienen. ?,|Das Kunstwerk ist revolutionär, das
Haus ist konservativ. Das Kunstwerk weist der Mensch-
heit neue Wege und denkt an die Zukunft, das Haus
denkt an die Qegenwart. Wir lieben alles, was unserer
Bequemlichkeit dient und uns bestätigt. Wir hassen
alles, was uns aus unserer gesicherten Position reissen
will und uns belästigt.

Und so lieben wir das Haus und hassen die Kunst.
So also hätte das Haus nichts mit der Kunst zu tun
und wäre die Architektur nicht unter die Künste ein-
zureihen ? Es ist so. Nur ein ganz kleiner Teil der
Architektur gehört der Kunst an. Das Grabmal und
das Denkmal. Alles andere, das einem Zweck dient,
ist aus dem Reiche der Kunst ijauszuschalten.

Wenn das grösste Missverständnis, dass die Kunst
etwas ist, was einem Zwecke angepasst werden kann,
erst wenn das lügnerische Schlagwort „angewandte
Kunst“ aus dem Sprachschatz der Völker verschwinden
wird, erst dann werden wir die Architektur unserer
Zeit haben. Der Künstler hat nur sich selbst zu
dienen, der Architekt der Allgemeinheit. Aber die
Verquickung von Kunst und Handwerk hat beiden, hat
der Menscheit unendlichen Schaden zugefügt Die
Menschheit weiss dadurch nicht mehr, was Kunst ist.
In| sinnloser Wut verfolgt sie den Künstler, und ver-
eitelt ;dadurch das Schaffen des Kunstwerkes. Die
Menschheit begeht stündlich die ungeheure Sünde, die
nicht vergeben werden kann, die Sünde wider den
heiligen Qeist. Mord und Raub, ailes kann vergeben
werden, aber die vielen neunten Symphonien, die die
Menscheit in ihrer Verblendung durch Verfolgung des
Künstlers wie durch Unterlassungssünden verhindert hat,
die - werden ihr nicht vergeben. Die Konterkarierung
der Pläne Qottes.

Die Menscheit weiss nicht, was Kunst ist. „Die
Kunst im Dienste des Kaufmanns“ hiess neulich eine
Ausstellung in München und niemand Iachte bei dem
schönen Worte „angewandte Kunst.“

Wer aber weiss,’ dass die Kunst dazu da ist,
um die Menschen immer weiter und weiter, immer
höher und höher zu führen, sie gottähnlicher zu
machen, der empfindet die Verquickung von materiellem
Zweck mit Kunst als Profanation der grössten Qöttin.
Und die Menschen iassen den Künstler nicht gewähren
weil sie keine Scheu vor ihm haben, und das Hand-
werk kann sich mit den Zentnergewichten idealer For-
derungen nicht frei entfalten. Der Künstler hat bei
den Lebenden keine Majorität hinter sich zu haben!
Sein Reich ist die Zukunft.

Eine Verlorene

Von Hermann Wagner

Josefa Novotny war ein Freudenmädchen. Eine
Verlorene. War Dirne in einer Kleinstadt.

Seit Jahren schon bediente sie die|Stammgäste eines
kleinen, etwas abseits gelegenen Wirtshauses, das den
Namen „Zum grünen Tale“ führte. Sie war nicht
mehr jung, noch weniger schön wusste sich aber im
Besitze zweifellos schätzbarer und anziehender Eigen-
schaften, da sie jedem, der es nicht wissen wollte, mit
Nachdruck zu versichern pflegte: sie sei zwar kein
Kind mehr, stelle aber jeden zufrieden, und Gäste, die
sie einmal besucht hätten, kämen stets wieder.

Schnitt sie auf! Wohl kaum. Sie fmachte nicht
den Eindruck. Ihr Element war das Solide. Das Be-
häbige. Das Gesunde und moralische. Raffinierte,
entflammende Sinniichkeit, feuriges, wild betäubendes
Temperament lagen ihr gleich fern. Wenn sie fesselte,

geschah es wohl nur, weil sie anders war als die

meisten.

Sie wäre entrüstet gewesen, hätte ihr jemand vor-
geworfen, sie verkaufe ihren Körper. Qegen einen
Schandlohn (wie man sagt). Und wäre ihr moralisch
gekommen. Wie hätte sie sich gewehrt! Wie? Ob

man denn glaube, sie sei „so Eine?“ Das verbitte

sie sich! Man möge Madame fragenl Ob sie Schulden
habe? Je krank gewesen sei? Sich Liebhaber halte? . . .
Bebend vor gerechter Entrüstung hätte sie so gesprochen
und wen auch immer mit heiligem Zorn vernichtet.

Nein, Liebhaber hielt sie sich nicht. Die kosteten
Qeld und raubten nur Zeit. Gefühl ist nicht ihre Sache.
Sie war ein wackeres Weib, das das Leben sehr ernst
nahm, sich rechtschaffen durchschlug und das seine
zusammenhielt. Umsichtig schaltete sie mit dem vom
Himmel verliehenen Pfund. Ihren Körper verkaufenl
Qegen einen Schandlohn! Nie! Sie vermietete ihn.
Auf Stunden. Höchstens auf Nächte. Ordentlich, wie
man ihn empfangen, hatte man ihn wieder abzuliefern.
Qegen fest normierte Gebühren. Unbilliges verlangte
sie nicht. O nein! Ehrlich währt am längsten. Sie
stand auf reellen Füssen. Und die Masse muss es
bringen. . .

Sie war eine Freundin der älteren Herren. Die
jungen liebte sie nicht, namentlich die Forschen und
Kecken waren ihr ein Gräuel. Die wüst mit dem Qelde
herumwarfen, sich betranken und gemein wurden. Der
schönste Verdienst hätte sie nicht vermocht, sich zu
ihnen zu setzen. Da kniff sie stets aus. Nur

334
 
Annotationen