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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 20 (Juli 1910)
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [15]: Ueber die Musik
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Pfankuch, Siegfried: Liegt der Friede in der Luft?: Eine Entgegnung
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0162

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Musik; mit einer Fülle von Sonderbestimmungen:
für die Häufigkeit der Wiederkehr ihrer Truppe,
der Zeitlänge dieser Tonfolge, der Tonstufe, auf
der die jeweilige Wiederkehr zu erfolgen hat. Es
ist das Muster einer kleinen geschlossenen Form;
wegen der Kleinheit aber, und der Fiille der Sonder-
bestimmungen nur etwas Äusnahmsweises,, Ge-
legentliches in der Musik, wenngleich das Volk
die Sangbarkeit liebt und darum das Lied und
Liederartiges allein für Musik hält. Das Lied ist
einfach wie das Einmaleins, trägt nicht hoch. Und
die Musik ist weit entfernt, aus dem Lied ge-
wachsen zu sein, als ihrem Mutterboden; sondern
das Lied ist selber ein merkwürdiges, sehr beson-
deres Gewächs. Eine rasch übersehbare, auch
elastische Form ist es; ein Weiser hat sie den
Gipfel der Musik genannt.. Er hat sie auch dem
Menschenleben verglichen; aber wie schnellfertig
d^chte da der Weise. Sie ist nicht der Gipfel der
Musik, und wo hat das Menschenleben die wieder-
kehrenden Gruppen, die Perioden, wie nennt sich
die Ordnung, die diese Gruppen verschieden wertet,
wer kann das Ende des Liedes sein Ziel heißen?
Aber recht gebe ich ihm anders, als er will: auch
das Menschenleben hat kein Ziel, jedoch scheint
es eins zu haben.

Von dieser engsten Bindungsweise führen viele
Abstufungen zu lockeren bis zu den freien offenen
Formen. Je mehr sich die Bindungsweise vom Lied
entfernt, um so näher gerät sie an die Reihen-
bildung. Ich erinnere Dich an die Riesenreihe man-
cher Sinfonien, die Du gehört hast, — an diese un-
geheuren, schwerfälligen Maschinen; ich erinnere
Dich an die unendliche Melodie. Hier scheint ein
völliger Zerfall der Bindung eingetreten, und es
scheint zu herrschen, was ich musikalische Ideen-
flucht nennen möchte, und gewiß trifft dieses Ur-
teil vom Standpunkte des Liedes zu. Jedoch herrscht
auch in den freisten dieser offenen Gebilde ein
Zusammenhang, jedoch nun nicht mehr der, auf
dessen Boden die Fuge und das Lied erwächst,
sondern immer mehr jener niedere frühere, der
die Bestandteile der Formen zusammenbindet, die
Uebereinstimmung mit Tönendem und Tonhaften
der Wirklichkeit. Hier wirft sich die Wirklichkeit
gewaltig der Musik an die Brust. Ich möchte sagen:
Fuge und Lied sind Perlen, die die Musik ans
Land gewellt hat; die Schöpfer der offenen For-
men, mit diesem Schmuck unzufrieden, stürmen ans
Meer zurück, wühlen in ihm nach neuen Kostbar-
kelten.

Schlnss des achten Qesprächs in Nummer 21

Liegt der Friede in der Luft?

Eine Entgegnung
Von Siegfried Pfankuch

Man schaut gern durch das dicke, phantastisch
gekrümmte Riesenfernrohr Paul Scheerbart, das
uns wundersame kosmische Weltenreiche im blaß-
lila Morgendämmerungsnebel erschauen läßt.

Wenn nun Paul Scheerbart plötzlidh sein teles-
kopisches Riesenauge auf die kleine, zarte Erdkrume
richtet und mit seinem Milchstraßen-Humor die
niedlichen Selbstverständlichkeiten betrachtet, die
die leider immer nur noch mit zwei Beinen einher-
taumelnden Menschen verrichten, dann wehe allen
„Diesseits“- Fühlenden und allen nach ganz simplen
Kohlen-Wasserstoff-Atomen duftenden Gedanken!

Aber trotzdem bleiben wir ihm dankbar, daß er
menschlich zeitgemäße Betrachtungen überhaupt
noch anstellt, daß seine Blicke und Gedanken, die
schon im besseren Jahre 2010 leben, ab und zu
auf uns kommen.

Eine solche Umkehrung ist sehr selbstlos. Denn
schließlich wird doch auch ein Geist, wie der Scheer-
barts von dem as^ralen Luxus und dem Komfort
jenseitiger Weltenräume verwöhnt.

Der „Sturm“ hat uns nun kürzlich 1 aus Scheer-
barts Asteroiden - Laböratorium 1 etwas „Mensch-
liches“ an unseren sandigen Gedankenstrand ge-
worfen. Scheerbart findet an des Dr. jur. h. c.
Grafen Zeppelin Worten einen Haken, an dem' er
sich zu einer zeitgemäßen Betrachtung verankert.
Trotzdem das Thema über „das neue Kriegsinstru-
ment“ knapp „für ein übliches Feuilleton“ Stoff
bietet“, so schließt es in ihm ! nicht den Gedanken
aus, „es wäre wünschenswert, daß die Militär-

schriftsteller zu dieser seiner BetraChtung sich
baldigst äußerten“.

Allerdings fügt Scheerbart dieser Herausforde-
rung noch hinzu: „Ich weiß, daß sie das nicht
tun“.

Daß nun ein Laie antwortet, ist fatal.

Dem greisen „Marschall der Lüfte“ möchte
Scheerbart einige SelbstverständliChkeiten erzählen
und ihn über Zweck und Bedeutung seiner Taten
aufklärend berichtigen.

Paul Scheerbart neigt im Gegensatz zu dem
Grafen Zeppelin der Ansicht zu, daß die Wehr-
fähigkeit des Heeres durch Luftschiffe nicht ver-
mehrt werde, sondern einfach, daß die Lenkbaren
den ganzen Militarismus', wie er leider Gottes jetzt
noch besteht, in zwei, drei Jahren überflüssig mache.

Die Zeppelin-Luftkreuzer sind das Ende des
ganzen Militärstaates und damit der Anfang vom
ewigen Frieden auf Erden.

Es regnet eben so lange von oben Dynamit
(bei Scheerbart meistens in der Nacht), bis keine
Feindesseele mehr zum Himmel fliegen kann.

Das Königlich preußische Kriegsministerium ist
verschnupft, weil es in zwei oder drei Jahren keine
Existenzberechtigung mehr hat. Es wird den
Herren in der Leipziger Straße immer kühler, weil
sie die eisige Nähe des ewigen Friedens in Gestalt
des Engels Zeppelin sich hernieder senken sehen.

Das arme preußische Kriegsministerium ist
zeppelinkrank. Es ist deshalb so merkwürdig kühl
gegen den Grafen Zeppelin, weil sie in ihm' ihren
Todesbazillus 'fürchten. Denn es ist ja mit Paul
Scheerbart vollständig davon überzeugt, daß der
Militarismus nicht nur überwünden werden muß,
sondern durch einige hündert Zeppelins in zwei oder
drei Jahren — vielleicht dauert die Entwicklung
auch etwas länger — zugrunde gerichtet wird. In
richtiger Erkenntnis der Bedeutung Zeppelinscher
Luftschiffe für den Militarismus ließ auch jüngst
der Chef der Verkehrstruppen in Limburg einen
Kreuzer davonfliegen.

Scheerbart folgert nun, man brauche nicht
Militärwissenschaft studiert zu haben, um einzu-
sehen, daß Luftflotten im Kriege alles vernichten,
was aussieht wie eine Pickelhaube oder ein Fort.

„Das ist alles furchtbar einfach, wohl zu ein-
fach. Ein Intelligenzaufwand ist für den Luftkrieger
beinahe gänzlich überflüssig.“

Man ächmeißt eben dauernd von oben mit
Dynamit. Das ist so einfach.

Scheerbarts folgerichtiges Nachdenken gipfelt
in der Hoffnung, daß das neue Kriegsinstrument
des Grafen Zeppelin die Dummheit — auch eine
folgerichtige — von Luftkriegen und vom L'uft-
militarismus klar erweise, und man sich beizeiten
besinnen und einen ZusämmenschlUßi der europä-
ischen Kriegsstaaten nicht ferner für ein Unding
halten werde.

Wenn der Allerwelts-Geheimrat Rudolf Martin
seine Phäntasien über Luftkriege zum Besten gibt
und der staunenden Menschheit aus dem sö reichen
Antiquitätenschatze seiner Schlüsselloch - Erfahrun-
gen etwas vortrompetet, was er bei seinen Flug-
und Absturzsprüngen über die Vorder- Und Hinter-
treppen einiger Ministerien ergattert, dann findet
man das in Berlin W. ganz ergötzlich'.

Warum will denn nun durchäus Paul SCheer-
bart mit Herrn Rudolf Martin konkurrieren Und das
ungesäte Gras besser wachsen hören als dieser
moderne Lauscherheld ?

Ich nehme Scheerbart vielleicht zu ernst. Er
hat vielleicht einen Planetenwitz gemächt und hören
wollen, wer darauf hereinfiele.

Nun, Herr Scheerbart, ich bin so frei!

Scheerbart hat sicher nicht das Patent als Luft-
schiff-Kapitän oder als Pilot erhalten. Er gehört
auch sicher nidht einem jener feudalen Klubs 1 an,
deren Mitglieder ab und zu einmäl über eine Millio-
nenstadt fliegen. Für einen verkappten Aktionär
der Zeppelin-Luftschiffahrts-Gesellschaft halte idh'
Scheerbart erst recht nicht.

AIso ich nehme an, Scheerbart hat nodh ! keine
Flugversuche gemacht.

Das 'ist allerdings eine Hypothese. Aber ich
weiß, daß ich damit auch seinen Trumpf in Händen
halte.

Ich möchte das Bild vom grauen Kater am
grünen Tisch nicht auf Paul Scheerbart anwenden,
denn ich kann mir denken, daß er vor einem Kater
im Griinen ebensoviel Abneigung hat, wie vox einem
Kriege im Grauen.

Scheerbart meint nun ernsth’aft:

„Wenn hundert, wenn zweihundert Zeppelin-
Luftkreuzer gebaut sein werden, dann ist die Auf-
lösungsfrage der Armeen und Marinen kein
schlechter Witz mehr, sondern nur tatsächlich eine
Frage der Zeit.“

Scheerbart, der sich in diesem Falle um das
lumpige Finanzielle gar nicht erst kümmert, hät sich
nicht die ganz interessante Frage vorgelegt, wo
denn der preußische Kriegsminister das bißchen
Geld in zwei oder drei Jahren, — so schnell geht
wohl die Sache bei Scheerbärt — hernehmen soll,
um zwei- oder dreihündert Luftkreuzer zu bauen,
und was zweihundert Luftschiffe überhäupt ohne
Soldaten anfangen sollen, die doch, ganz abgesehen
von den Bedienungsmannschaften, Landungen Und
Aufstiege decken müssen!

Vielleicht macht Scheerbart, der ja mit dem
preußischen Kriegsministerium sehr nahe FühlUng
bekommen zu haben scheint, diesem den Vorschlag,
die doch nach seiner maßgebenden Ansicht bäld
überflüssig werdenden Infanterie-Regimenter meist-
bietend auf der Münchener Oktoberwiese oder der
Hasenheide zu versteigern. Scheerbart sorgt da-
für, daß die Preise nicht zu sehr gedrückt werden.
Vielleicht kauft der eine oder andere amerikanische
Multi-Billionär sich ein flottes preußisches Husaren-
Regiment. Viel fürs Geld bekommen die Herren
ja auch nicht. Ab und zu dürften noch' Berliner
Operetten-Theater bei den Spandauer Militär-Be-
kleidungswerkstätten billig einkaufen.

Wertheim oder Aschinger können für ihre
neuen Paläste die erledigten Kanonen der in die
Luft geflogenen Artillerie-Regimenter zweckent-
sprechend umgießen und als Geldrohrpostanlage
oder belegte Brötchen-Schränke verwenden.

Scheerbart hät sicherlich auch sChön von jenem
schönen Traum der besseren Mitglieder des deut-
schen Flotten-Vereins gehört, von jenen ungeheuren
Riesen-Ueber-Dreadnaught, von jenem LiniensChiff
aller Linienschiffe, das in geheimnisvoller Stille auf
einer großen deutschen Werft im Bau sein könnte.
Dieses Riesen-Linienschiff hät ein zwanzigfaches —
(Eingeweihte behäupten ein hündertfaches —) De-
plaCement als das größte augenblicklich im Bau be-
findliche oder existierende Schiff der ganzen Welt.

Es hat so starke Panzer, daß jedes Geschöß
wirküngslos an ihm abprallt. Kurz, die Sache ist
auch hier furchtbar einfach. Der Riesenkölöß fährt
mit rasender Geschwindigkeit unbehelligt durch' den
Bomben- und Granatenhagel der ganzen englischen
Flotte schlankweg hindurch.

Im selben Augenblick, wo ein sölches Kriegs-
schiffsungeheuer, das von deutschen Fürsten und
Magnaten aller Schättierungen finanziert werden
könnte, einen deutschen Hafen verläßt, ist die
ganze englische und internationale TFIotte keinen
roten Heller wert. Die wenigen deutschen Schiff-
chen allerdings auch nichts.

Scheerbart sieht aus diesem Traum der Flotten-
jünger, daß sein Problem' sich' nicht nur in der
Luft abzuspielen brauCht.

Der Friede kann auch im Wasser liegen.

Ich möchte Paul Scheerbart fragen, ob mit der
Einführung der Eisenbahnen, der Elektrisdi'en, der
Automobile das Zu-Fuß-gehen überflüsSig gewör-
den ist? I l ! ' 1

Weiter möchte ich Paul Scheerbart fragen, ob
mit der Erfindung der Buchdruckerkunst, der Tele-
graphie mit und ohne Draht, der Schreibmasdiine
nicht eigentlich das Schreiben uifd Sprechen über-
flüssig geworden ist?

Ich möchte ferner Scheerbart fragen, ob er "nfcht
auch der Ansicht zuneigt, daß mit der Erfindung
der Luftschiffe und Aeroplane eigentlich die Erde
überflüssig geworden ist?

Ich kann nicht verstehen, warum sich nicht nach'
Erfindung des Schießpulvers, des Dynamits und
Nitroglyzerins alle Völker der Erde zusammenge-
schlossen haben, um den Frieden wegen der Dumm-
heit der Kriege in Permänenz zu erklären?

Der Verfasser des „neuen Kriegsinstrumentes“
stellt siCh 1 das wahrscheinlich tediüisch sehr ein-
fach vor, wie besagte Luftkreuzer mit Dynamit be-
packt werden und nachts auf Kriegsschiffe, Festun-
gen, Städte des Feindes ihren menschenfreundlicheri
und friedenstiftenden Ballast auswerfen.

Was passiert wohl einem Luftschiff, das m.it
Dynamit nur so um sich schmeißt?

Und die Orientierung ist ja so furchtbar einfach-
In der Luft braucht maji keine Wegweiser mjt 'dsf

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