Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 54 (März 1911)
DOI Artikel:
Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis, [2]
DOI Artikel:
Notiz / Beachtenswerte Bücher
DOI Artikel:
Werbung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0438

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Wir vermissen an ihm, was an Kant hervortritt,
die Geduld zur Versöhnung widerstrebender Tendenzen
— die Geduld 1 Er zerhieb mit raschem Streic'he alle
Knoten, die er nicht lösen konnte, sein furor philoso-
phicus (et teutonicus) duldete keinen Aufschub. In
einem wahren Sturmlauf bemächtigt er sich aller
Probleme, sie überrumpelnd. Auf eifersüchtige Allein-
herrschaft bedacht, ein Napoleon der Philosophie,
wollte er der Philosoph sein, nicht irgend einer.

Anders Kant. Kant unternimmt gleichsam eine Be-
lagerung aer Probleme. Er wartet ab; er lässt sich
und ihnen Zeit; er hungert sie sozusagen aus, bis sie
sich ihm von selbst ergeben, ohne dass er einen
Finger gegen sie aufgehoben hätte. Dass sie dann
schon ein wenig vertrocknei, verdorrt sind, hat ihm
nichts an. Seine Kraft reicht nicht hin, die Welt in
üppiger Blüte der Gesundheit in Empfang zu nehmen.
Seine Art ist mehr indirekt, defensiv. Mit feiner diplo-
matischer Arglist und Hinterhältigkeit beriickt er
seine Probleme auf Schleichwegen. Er macht es mit
ihnen wie die Katze mit der Maus, so dass man nicht
immer leicht unterscheiden kann, ob er sie hält oder
nicht hält. — Kein Wunderl Er hatte sich einer
Stelle genähert, woher ihm eine chaotische Unermess-
lichkeit wie im Nebel schimmerte. Auf diesem Welten-
meer wagte er sich nicht hinaus, er begnügte sich, ein
Schiff zu zimmern und mit Kompas und Steuer zu
versehen, womit man es künftig befahren könne.

Schopenhauer durchmisst die Welt in Riesen-
schritten bis an die Grenze und weist mit starker
Entschiedenheit auf das darüber hinausliegende Ziel:
hier erst bricht in den klaren Tag die mystsche Nacht
jäh herein. Bei Kant hat man sich durch lauter
Finsternis zu kämpfen, erst gegen das Ende wird das
Werk licht und lichter. Schopenhauer vollendet jugend-
lich vorschnell dieses Werk, das den Grundstein zu
einer neuen Kultur legen sollte. Höchst voreilig wurde
er zum Verächter der Kultur, kehrte er die Kultur
gegen sich selbst: so mag der Blitz an einer Schnecke
verzweifeln.

Was ist dies Neue? Die gänzliche Atomonie des
Menschen; das Verlegen aller Autorität von aussen
nach innen: das glühende zu-sich-selbst-bekennen. Kant
selbst mochte im halben Dämmer einer Apres-nous-le-
deluge-Politik sich hingegeben haben; schon der Nächste,
schon Fichte zog die nächste Konsequenz. Aber den

Krampf und die Verrenkung eines göttlichen Organis-
mus zeigend, erscheint Schopenhauer. Das erobernde
Werkzeug der Zukunft hebt er hoch empor: „Wollen I
grosses Wort! Zunge in der Wage des Weltgerichts I
Brücke zwischen Himmel und Höllel* ruft er aus.
Aber melancholisch, mit der Finsternis einer ohn-
mächtigen Vergangenheit auf der Stirn, sich von der
Sonne wie Faust abkehrend, düster, selbstquälerisch,
Scham und Sünde im Herzen: als die Tragödie —
vielmehr als eine im besten Anlauf steckengebliebene
Tragödie — tritt der gigantische Wille auf, ein rechter
verteufelter Gott.

Allein in welcher kläglichen Gestalt auch immer,
diesen Dämon heraufgeführt und ihm das innerste
Interesse des Lebens anheimgegeben zu haben, das ist
jedenfalls eine Tat, welche ihren Täter zum rechten
Tronerben Kants stempelt. Was hat Kant geleistet,
als dass er die Bahn frei fegte von allem, was der
Souveränität des Menschen im Wege stand! Scheinbar
umschloss er ihn mit engen Sckranken; in Wahrheit
schnitt er ihm den gefährlichen Verkehr mit lauter ehr-
würdig vermeinten Gespenstern ab. Er setzt uns neue
Köpfe zwischen die Schultern und neue Augen in die
Köpfe. Mannbar und mündig werden wir erst durch
Schopenhauer. Dieser revolviert uns im Innersten: er
entfacht das Feuer des heroischen, ja göttlichen Willens
in uns, ob er es gleich zu einem Weltbrande ver-
wendet und mit übereiltem Streben „der Erde Freuden“
überspringt. Es steht mit seiner Gesundheit nicht zum
Besten. Sein profunder Kopf wälzt schwere Lasten.
Gegen diesen unglückseligen Atlas gehalten, nimmt sich
Kant fast wie ein Doktrinär aus. Ernster als jemals
einer stellte er sich zum Leben. Was tut es, dass er
diesen Patienten schliesslich aufgab: vielleicht gerade
mit diesem Todesurteil erweckte er die Energie in ihm,
sich des bevorstehenden Todes zu erwehren.

Auch Kant ist nicht gesund — eine scholastisch
zugeschnittene, penible, pedantische, hölzerne Figur,
mechanisch wie eine Präzisionsuhr gehend. Aber ein
Rekonvaleszent ohne Gleichen, ein zäher Besieger seiner
hartnäckigen Gebrechen. Durch Kantische Gespenster
der Trübe blickt uns von fern helläugig verheissungs-
voll der wache Tag an. Die Klarheit Schopenhauers
verliert sich in mystische Abgründe.

Schluss folgt

wmmmmmmmmmmKmmmmmmmmmmam.wam

Beachtenswerte Bücher

Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt

MARGUERITE AUDOUX
Marie-Claire / Roman

Eine kurze Besprechung dieses Romans (von
Rene Schickele) erschien in Nummer 46 dieser
Zeitschrift

ARTHUR RIMBAUD

Leben und Dichtung

Leipzig / Inselverlag

SAR PELADAN

Das allmächtige Gold / Roman

Verdeutscht von Emil Schering / Mit einem
Vorwort von August Strindberg und einem
Portät Peladans

München / Verlag Georg Müller

HENRl DE REGNIER

ln doppelten Banden / Roman

Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart

Notiz

Die Nr. 52 der Wochenschrift DER
STURM wurde auf den Berliner Bahn-
höfen nicht zum Verkauf gestellt: wegen
des „unmöglichen“ Bildes, wie uns mit-
geteilt wurde. Die Nummer ist durch den
Verlag zu beziehen.

Verlag DER STURM

Verantworllich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

Verantwortlich für die Schriftleitung in Oesterreich-Ungarn
V. I.: Oskar Kokoschka

EBl

Gegenüber Pichelswerder in Pichelsdorf

Grundstücke an der Havel idyllisch gelegen
neben dem Schlosspark, nahe der Döberitzer Heerstrasse
(Kaiserdamm), preiswert verkäuflich. Näheres durch die

Bodengesellschaft des Westens

- mit beschränkter Haftung -

BERLIN W 66, MAUERSTRASSE 86—88

□ Fernsprecher Amt I, Nr. 7497 □

Bund für Gesundes Leben (B. f. G. L.)

(Sitz Leipzig.)

Als Synthese aller Reformbestrebungen moderhen Lebens und
zur Pflege gesunder Lebensanschauungen und Lebensziele und zur
Förderung hygienischer Kultur dient unsere Monatsschrift

- „Gesundes Leben“ -

die gleichzeitig das Organ des „B f. G. L.“ und vieler Reform-
vereine ist. Beilagen: Der Kinderarzt; Der Haushalt; Durch Heimat
und Fiemde; Aus der Natur. Schriftleitung: L. u. L. Ankenbrand.
Viele andere Vergünstigungen sind aus den Satzungen ersichtlich.
Jahresbeitrag Mk. 5, . Ausführliche Prospekte und Probenummern
umsonst und postfrei duich den Verlag:

Zentrale für Reformliteratur Dr. Hugo Vollrath, Leipzig.

*•222,

Die hervorragende Wirkung des Kosmin auf
Zähne und Zahnfleisch und sein ungewöhnlich erfrischender
Wohlgeschmack machen dieses Mundwasser schoa nach kurzem Oe-
brauche unentbehriich. Allen, die Wert auf schöne und gesunde Zähne legen, sd
daher Kosmm zu täglichen Mundspülungen bestens empfohlen. En Versuch führt erfah-
rungsgemäss zu dauerndem Gebrauche. Preis pro Flasche lange ausreichend, Mark 1.50, uberall käuflich.

432
 
Annotationen