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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 54 (März 1911)
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Döblin, Alfred: Die falsche Tür
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Wolf, Hugo: Gedichte
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [14]: Ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0436

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vorging. Aber er konnte nichf anhalten. Es war
ja auch lächerlich. Irfen ging mit ziehendem Schritt
vor ihm und liess ihn nicht los. Er ging im unglaub-
lichem Gleichmass dicht an den Häusern, mit kleinen,
schleifenden Schritten. Sie bogen aus der weiten
Hauptstrasse in die lange schmale Perastrasse. Da
brannte nicht eine Laterne. Vor einem alten ein-
stöckigen Häuschen blieb der Oberleutnant stehen,
ohne den Kopf zu heben. Er hatte nicht aufgesehen,
um das Haus zu finden. Sie standen fast eine halbe
Minute lautlos vor der kleinen Tür. Es war Nummer
sechs; es war in der Tat Nummer sechs. Dann legte
Irfen die rechte Hand vor die Stirn und sagte, ohnö
sich zu wenden: „Nick, ich will Dich bitten. Lass
uns einen Augenblick an Allah denken; dann müssen
wir Allah eine zeitlang vergessen.“ Schon hatte er
den metallenen Tiirklopfer gehoben und ihn gegen das
Holz fallen lassen. Er stand wieder gesenkten Hauptes
da; wartete.

Nick trat neben ihn. Drinnen polterte jemand eine
Treppe herunter bis dicht an die Haustür. schloss,
riss an der Klinke; mit einem Krach und lautem
Knarren öffnete sich die Tür. Es war mit blossem
Kopf, im Hemdsärmeln, ein Bedienter, ein graubärtiger
Kroate, der mit einer riesigen Handlaterne die Uniformen
der Herren ableuchtete und höflich fragte, was die
die Herren wünschten.

„Nichts“, antwortete Irfen, „lass uns die Treppe
hinauf,“ und suchte den Kroaten beiseite zu schieben.
Der Verblüffte steilte sich breitbeinig eine Stufe höher,
setzte seine Laterne neben sich nieder, sah noch ein-
mal Nick an, und wiederholte seine Frage. Von oben
tönte inzwischen eine dünne scheltende Männerstimme;
im Schlafrock hinkte ein gebücktes kahlköpfiges greisen-
haftes Herrchen über die Stufen, zog beim Anblick
der beiden Offiziere die Quasten zusammen und fragte
sehr ernst, aber noch unwirsch, wen sie zu sprechen
wünschten oder wer sie jetzt schicke. „lch bin von
niemandem geschickt,“ fuhr ihn Irfen an, „ich muss
hier im Haus etwas sehen“. Das kleine Herrchen
richtete sich steif auf, sah forschend in das unbeweg-
liche Gesicht des hageren Offiziers, sagte ganz unsicher,
betreten: „Meine Herren, Sie irren vielleicht in der
Strasse, in der Hausnummer. Ich weiss nicht. Oben
schlafen nur noch meine Damen; es wohnt hier nie-
mand sonst; ich kann jetzt niemanden einlassen.“
„Der Schlaf Ihrer Damen ist gewiss sehr wichtig; aber
ich habe eine unaufschiebbare Mission.“ Der Kroat
und sein Herr wechselten rasche Blicke. „Sie meinen
wirklich Nummer sechs, Perastrasse Nummer sechs,
meine Herren? Es muss doch aber ein Irrtum, eine
Verwechslung vorliegen.“ „Lassen sie mich die Treppen
hinauf, mein Herr,“ drängte Irfen, „kümmern Sie sich
nicht um meine Sachen. Ist oben nichts, dann hab
ich Unrecht. Aber ich habe nicht Unrecht. Reden
Sie nicht; Iassen Sie mich hinaufl“ „Ich kann Sie
nicht ins Schlafzimmer meiner Damen lassen. Ich
bitte Sie endlich von meiner Tür zu gehen.“ „Ich
rühre Ihnen keine mit einer Fingerspitze an“.

„Ich bitte Sie hier fortzugehen. Ich rufe Leute,
mein Herr.“ „Und wenn Sie die ganze Garnison
alarmieren, komm ich hinauf. Nick, steh her; Du
wirst mir jetzt helfen.“ Er tastete an den Herren
vorbei nach dem Treppengeländer; der fuhr heraus:
„Nehmen Sie gütigst die Hand vom Geländer und
rühren Sie mich nicht an.“ Der Kroat setzt die
Laterne höher hinter sich, stellte sich dicht vor Irfen
hin, legte eisern seine Hand auf dessen Arm. „Nick, tu
mir den Gefallen gegen diese Menschen. Wenn ich
Unrecht habe, habe ich Unrecht. Aber Du sollst selbst
sehen. “ Man hört eilige Schritte oben, -ein
Rauschen von Kleidern; eine angstvolle Frauenstimme
rief: „Lass ihn doch herauf; um Gottes Willen, Kari.“
Aber der wutzitternde Kroat hatte mit einem plötz-
lichen Schlag vor die Brust Irfen zurückgeschleudert
und die Tür zugeworfen. Erst schlug Irfen, sich gegen
die Tür stemmend, mit beiden Armen gegen die
schwache Tür, dann trat er die Füllung mit zwei
Fusstössen ein, dass die Trümmer und Splitter auf die
schreienden Leute drin schlugen. In diesem Augenblick
hob Herr Kastelli den Arm über den Kopf und bückte
sich; der scharfe Degen des Oberleutnants zischte
über ihn durch die Öffnung; aber gleichzeitig krachte
die Treppe hinunter aus dem Revolver des Kroaten
ein Schuss, und rasch hintereinander zwei weitere
Schüsse. Der lange Irfen draussen richtete sich hoch
auf und warf die Arme in die Luft, stürzte rücklings
auf das Trottoir, kroch wieder auf, lief, während der
Fez liegen blieb, schräg vorwärts auf die andere Seite
der dunklen Strasse, drückte sich noch ein Augenblick

an die Mauer an und fiel nach vorne dumpf schallend
aufs Gesicht Nick, am Arm getroffen, kniete schon
neben ihn, sucht ihn umzudrehen. AIs er Irfens Kopf
wandte, sah er einen kleinen Stirnschuss und sah das
unveränderte Gesicht eines grauen Menschen, der das
linke Auge zugekniffen, den linken Mundwinkel herab-
gezogen hatte, als legte er sich eben über einen ver-
wüsteten Tisch und sagte, den Arm wiegend mit un-
beirrbarer Sicherheit: „Kismet.“

Der Herr Kastelli und seine Damen folgten bei der
Beerdigung. Es waren drei ältere Damen, Verwandte
des Hausherrn und ein Herr, die für wenige Tage
bei ihm auf der Durchreise wohnten. Im Kassino
sagte man bei gelegentlichen Besprechungen des Falles,
dass der Verlauf der Sache im Grunde vorauszusehen
war.

Gedichte

Anbetung

Stilles Wesen, wandelnd neben
ineinem Schatten, Unsichtbares! —
o du Wein aus roten Reben,
eingegossen meinem Leben, —

Glas zugleich, herbsthimmelklares,
spiegelnd reicher Sonnen Schweben:

Namen hab ich dir gegeben,
tausend Namen hohlen Schalles,
die mit Unglück mich verflechten
Doch in bleichen Mitternächtem
weiss ich alles:

dass du nichts bist als zwei Brüste,
springend aus des Dunkels Wellen, —
meinen Wünschen weisse Küste,
hingeschleudert zu zerschellen —

stilles Wesen, Wunderbares I

Furcht vor dem Frühling

Was wir noch heute unser nennen,
kann morgen schon verronnen sein:
der Kerzen flatterhafter Schimmer,
des milden Scnlafes dunkler Wein.

Die nächtigen Wipfel wandern, treiben,
sind voll von Lauten, sturmverwehten. . .

Ein Strahl durch hauchbedeckte Scheiben
wird morgen unsern Traum zertreten.

Hugo Wolf

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XLIIV

Die beiden Frauen

Die Kaiserin Cäcilie empfing die Frau Lotte
Wiedewitt, die als Gemahlin des stellvertretenden
Kaisers sehr feierlich in Ulaleipu aufgenommen wurde,
in ihren Pelzzimmer. Und die beiden Frauen ver-
standen sich gleich so gut, dass der ganze Hofstaat
der Kaiserin in ein grosses Erstaunen geriet.

Und die Frau Cäcilie sprach sehr bald mit der
Frau Lotte über die Kinder; die beiden Frauen hatten
beide keine Kinder, und das karn den Beiden sehr
drollig vor.

Somit erschien es ganz natürlich, das die Frau
Cäcilie mit der Frau Lotte sehr bald in die sieben
grossen Säle ging, in der die Kaiserin Kinderspielzeug
gesammelt hatte.

Da war die Lotte Wiedewitt ganz überrascht von
all dem Reichtum; da gab es unzählige Dampfschiffe
und Luftschiffe, elektrisch betriebene Fabriken, grosse
Bahnzüge, Theater, Bergwerke und illuminierte Park-
anlagen — Alles im kleinsten Massstabe — und be-
sonders einige Puppengalerien.

Und die Lotte hatte gleich eine Reihe von Vor-
schlägen für neues Spielzeug und die Kaiserin Cäcilie
ging auf alle Vorschläge der Lotte ein, sodass die
Kammerfrauen gleich am ersten Tage viele neue Dinge
bestellen mussten.

Danach waren dann die beiden Frauen täglich in
ihrem Spielzeugsälen und vergassen dabei die An-
gelegenheiten des Reichs ganz und gar, als wäre das
garnicht vorhanden.

XLV

Die Literatur Zentrale

Auf Veranlassung des Herrn Haberland begab sich
der Herr Bartmann in die Grottenschlucht, allwo die
Literatur-Zentrale des Kaiserreichs residierte.

Und die Anschauungen des Herrn Bartmann und
Haberland fanden dort grossen Anklang; die Gedanken-
tätigkeit der andern menschlichen Sinne, die nicht mit
Auge und Ohr operierten, wurden in der Literutur-
Zentrale gleich sehr lebhaft beleuchtet; in ein paar
Tagen waren ein paar Dutzend neue Bücher erschienen,
die dem Thema alle möglichen Seiten abgewannen.

Der Herr Bartmann wurde jetzt so berühmt, dass
er täglich gute drei Stunden mit seiner Korrespondenz
zu tun hatte.

Und es war sehr nterkwürdig, dass dem Herrn
Bartmann ein so grosses Interesse entgegengebracht
wurde, da eine Flut von Broschüren und Büchern, die
die Ereignisse an der Sturmküste behandelten, gleich-
zeitig herauskam.

Ganz Utopia kam immer mehr in Erregung, der
Herr Bartmann hatte keine Veranlassung, sich über
die Schlafmützigkeit der Utopianer zu beklagen; die
sprachen sämtlich über die Untergründe der Erscheinungs-
welt so viel, dass es dem Herrn Bartmann oft ganz
komisch vorkam.

Aber der Herr Haberland schrieb:

„Die Naturereignisse, Herr Bartmann, kommen
Ihren Bestrebungen so heftig entgegen, dass Sie sich
recht zusammennehmen müssen.“

Und die Ermahnung war ganz am Platze, denn es
passierte noch mehr.

XLVI

Die Irrlichter

Brodeln tats im bewegten Sumpf, und bunt
schillernde Blasen bildeten sich, und die wurden ganz
gross, und wenn sie mit lautem Knall platzten, dann
schossen grüne und blaue Flammenkegel heraus, die
sich oben verästelten, und wie Blitze auseinanderfuhren.

Und diese Flammenspiele wiederholten sich und
wurden immer häufiger, und die Flammen wurden
immer bunter; sie nahmen auch immer wieder andere
Formen an, — die Kegel sahen bald wie dicke Baum-
stämme und auch wie grosse phantastjsche Blumen aus.

Und des Nachts hüpften die Flammen wie Irrlichter
auf dem Sumpfe herum.

Und dann erhielten die Flammen feste Formen, die
auch am Tage sichtbar blieben.

Den Beobachtern an der Sturmküste kams oft so
vor, als schwebten bunte Geistergestalten über dem
Sumpfe, und es gab bald sehr viele Beobachter, die
menschähnliche Köpfe an den Flammen beobachtet
haben wollten; doch die photographischen Aufnahmen
zeigten nichts Deutliches, Köpfe liessen. sich nicht
erkennen

Nach einigen Tagen erhoben sich sehr viele
Flammen zu ganz ungewöhnlicher Höhe, und oben
zergingen sie nicht, sie blieben in der Luft und
schwebten höher.

Ein merkwürdig scharfer Geruch ging von den
Flammen aus, der Geruch liess sich mit anderen Ge-
rüchen garnicht vergleichen, und man stritt sich bald
lebhaft darüber, ob dieser Geruch mehr Wohlgeruch
oder das Gegenteil sei; jedenfalls liess sich der Geruch
nicht lange ertragen, und die Beobachter mussten sich
die Nase verbinden.

Dabei wurde die Farbenpracht und die Fülle der
Formen immer reichhaltiger, und nachts ging von den
Irrlichtern oft ein so intensiver Glanz aus, dass die
Augen der Beobachter für Minuten der Sehkraft be-
raubt wurden, sodass man sich allgemein der ver-
schiedensten Schutzbrillen bediente.

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