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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 33 (Oktober 1910)
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Soyka, Otto: Der Leser
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0266

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steht, afe in der richtigen Einordnung einer Schöp-
fung in die literarische Wertreihe, oder in der moti-
vierten Ausscheklung aus ihr. Das bedeiutet die
Trennung der Literatur von den Marktartikei'ri der
Lektüre, die zur Befriedigung des rein mechanischen
Lesebedürfnisses erzeugt vverden. Die reinhche
Scheidung wird es mögl'ich machen, auch in wei-
terem Kreise Leser zu sChaffen; wirkl'iche Leser,
denen die Ijektüre niCht ein Genußmittel oder eine
Leihanstalt für Phrasen und „moderne“ AnsiChten
bedeutet. Leser, die ein Verhältnis zum Gedanken-
und Kunst-Wert eines Werkes zu gewinnen suChen.

Das Mysterium Jesu

Von Peter Hille

Aus dem Nachlass

Helmsuchung

Und es treibt zum Weibe das Weib, die
Hoffende zur Hoffenden. Nun entsinnt sich Maria
stärker ihrer Base Eiisabeth, und daß auch diese
gehären soH. Die gottesfürchtige, glaubenskräf-
tige, lebhaft-tüchtige Base, und der würdige stille
Priester — ein Heimweh erfaßt sie naCh beiden,
ein Schwesternzug des gehärenden Geschlechts zum
AustausCh von Freude und Rat.

Ihr ist’s, afe ginge sie gebotene Wege, wändle
im Geiste, vorbildliCh im Gehörsam dje steinigen
Pfade.

Und da sie sChon das sChlichte Haus sieht im
Landstädchen imter dem klüftigen Hügel diCht
neben dem besCheidenen Tempel, den der Ort ver-
mochte, und in dem sie dochl immer so gern ge-
betet hatte, bei ihren früheren BesuChen, demütig,
ehrfürChtig, daß sie ja ihn nicht verachte, da sie
seit Kindsgedenken an der Stätte höchster Gottes-
praCht geweilt, tritt auch 1 die Base heraus, bedacht
die Augen. Denn mit der über die Randhöhen ins
Tal tretenden Sonne kam Maria, die sChön mit den
Sternen sich erhoben hatte, zu ihrer WandersChäft.
Nun hät Sie die Base erkannt. Hurtig regen siCh
ihre Schritte. Gastfreude verjüngt das Alter.

„Wie gesChieht mir die Ehre und Freude, daß
die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“

Maria staunt, daß jene schon weiß.

Die Base deutet: „Da du diCh nahetest, hüpfte
das Kind in meinem Leibe. Aber, was versäum
ich mich.“

Nun wird der iiebe Gast hereingehölt, zum
Sessel geleitet, und darf sich nicht regen, und wird
ih!m aufgetragen Honig und MilCh und Brot. Wäh-
rend der sanft umsorgenden Erholüng, die so wohl-
tut nach langer Wanderung in Sinn und Seele,
komlnt auCh ZaCharias, der Silberl^irtige, aus seinem
heiligen Dienste. Er ist sChon eingetreten in die
Ehrwüfdigkeit des Atters, und als auch er, nicht
sogleich, die Segenskunde erfährt — Frauen be-
wahren das eigen InnerliChe gern für sich selbst
— vermag er nur ernst zu sChweigen.

Er zweifelt und jubelt niCht, er will sich in
das Neue niCht mehr finden.

Das kommt nach ihm.

Es sind die Tage der Seele, und die weisen
die Welt auf das Weib!

Epiphanias

Nicht nur Irrwische locken, nicht nur das Ver-
kehrte ruft. Ein rufender Stern, ein ZeiChenstern,
keine fernHeuChtende Lebenssonne: ein Licht der
Geistigkeit ist dem innern Auge der geweihten
Forscher des königliChen Ostens aufgegangen. Im
Westen steht er und deutet Gefahr und große Ferne.
Des Geisterkönigs Ruf ist ihnen genug, sie, sie dje
stolzen Herrscher forschen draußen wie weges-
fremde Wanderer. Abenteuern werden sie gfeich
in Heiligkeit. In Sterneneinsamkeit, die ernsten
Augen oben — tauCht er wieder auf, der Stern ? —
ziehn sie weiter, Nacht für NaCht. Zweifellnd wie
einer großen Narrheit schuldig, und haitlos. Jeru-
salem, die Hauptstadt, weiß nichts von diesem
König. So gewinnen sie wieder das Tor und die
vertraute Nadht, da zeigt MelChior nach oben. Die
Beiden nicken. So liel'l ist der Stern, daß jedes
Steinchen klar wird und kein Fehltritt der Kamele
ihnen SChäden trägt. Kein Zaudern inehr!

Da — der nicht höch leisziehende Stern ist in
Festigkeit eingelaufen. Starr steht er. Sie sehn

sich um — nichts! Ja Öa: ein kleiner Stall! Haben
sie nidht husten hören? Da kommen Hirten an
ihnen vorüber. Vor dem Stall knien sie. Sonderbar!
Der DolinetsCh fragt. Mit leiser Stimme, wie eine
seltsame Sache mitgeteilt wird, kommt die Ant-
wort zurück:

„Die Hirten beten den neugebornen König
der Juden an.“ Hier? So ärmfich? Der große
Geisterkönig? Die Magier sehen sich an. Im Licht
auf allen Stirnen verständigt schreiten sie liinzu.
AHmachternst in fragenden Aeuglein. Zarte Ge-
bärden in weltsChaffenden HändChen. Schon knieen
sie. Vor ihnen WaChen wie um ein heiliges Wunder
die heiligen Eltern. Die reinste Mutter, der edelste
Bräutigam, und wehren nicht, wen immer sein
heiliger Wille treibt zur Verehrung. Sie wissen:
dieses Kind gehört der Welt — sie dürfen’s nidht
absChließen, und haben den Schandenschein un-
treuer BegehrliChkeit und schwachmütiger Duldung
auf sich genommen.

Wie eine näChtliche ErsCheinung sind ver-
sChwunden die Könige. Der Königsknabe, wie oft
nicht gedachten sie seiner. Aber er lCidet Erlösung;
so müssen die starken Verehrer ihren Gott der Ver-
achtung und blutiger Erbitterung überlassen.

Eines Abends fanden die Hirten den Stall der
Gottheit leer. Als aber das ReiCh 1 der Allmacht
in die Söhne des Elends zog, da erinnerten die
davon UeberlCbenden siCh des Ueberlebten, und
sie Verlließen iline Heere wjeder.

Diesimal aber niCht für Stunden, einige sogar
für immer.

Andeutung

Johannes, das gesunde, sehnig gebaute Knäb-
lein der ältlichen Eltern, ist des göttliChen Kindes
Spielgefährte, behütend und hilfreiCh. Er war still
auch im Freien mit seinem göttfichen Verwändten.
Und sah aus, afe sänne er fortwährend über etwas
nach. Nur ein Wunsch, ein Auftrag, teise An-
regung s<|ines hinimlisChCn Gespielen rief ihn un-
verweilt auf die Erde zurück.

So wuchsen die Knaben auf. Bald weilte der
junge Jesus einige Tage bei den Eltern des Jo-
hannes, mehr aber noch kam der Priestersohn hin-
über in öie from'me, sanfte, arbeitsernste, l’iebes-
holüe Hütte vön Nazaret. Da gingen sie beide
dem Zimmertnann init Hobel zur Hand, trugen
Hammer und Nägel, oder füllten für Mutter Maria
den Krug am Brunnen. So verging die Zeit.

Da rief die Knaben, die zwölf Jahre alt ge-
vvorden waren, die Tempelpflicht. In langen, voll-
sChönen Gruppen wandel't es zur duftkeimenden
Frühlingszeit, da der Feigenbaum seine waChstum-
tüchtigen Knospen ansetzte, hinauf gen Jerusafem.

Es gemahnte an Üen Weg der MensChheit zur
Vollendung, wie so ein Zug den heiligen Pforten
siCh näherte, dann nach größerCm Zwischenraum
ein zweiter folgte und doCh noch immer neu es
auftauChte fern dahinten am Rande der Hochebene,
drauf die Königin der Städte thronte, eine tröstende
Hochburg der sehnenden Mühsal.

Bei dieser entfalteten großen Volksfamilie fand
und erneuerte siCh die entlegene Verwändtschäft.
Hier zuerst bekamen einander zu sehen, die so viel
Voneinander geredet hatten, hier umarmten sich
Angehörige mit der großen herzlich breiten Würde
östlicher Stammesfreude.

Besonders aber die Kinder, die Onkeffrohen,
die gerade hn Fremden festtätigtrautes findenden
Kinder VersChwinden in den Fal'ten dieser nun
mitsammenziehenden BlütsfreundsChaft.

So suchte man auch nicht, afe man am ersten
Tage nach der Heimkehr Von den Tagen des Festes
Öie beiden Knaben vermißte: sie werden mit Jehuda,
Zabulön oder Manasse gegangen sein. Gelegentlich
fragte man: „Jesus und Johannes sind wohl bei
EuCh?“ Nein, das sind sie nicht, man weiß nichts
von ihnen. SChon wädhst die Sorge. Afe endlich
alle erdenkliChen Erkundigungen eingezogen sind,
kehrt Josef zurüCk zu der im Rathüuse, da die
andern sChon weiter gegangen sind, verbliebenen
Mutter. AengstliCh sieht sie auf den Eintretenden,
er vermag nur mit dem Haupte zu sChütteln. So-
fort erhebt siCh die Mutter und geht auf die Tür
zu. „Wohin?“ „ZurüCk nach Jerusalem“, die kaunt
vernehmliche Antwort. „Du nach Jerusälem? Un-
möglich! Du wirst unterwegs liegen bleiben! Du
kannst kaum weiter. Bedenk, es sind fast drei
Tagereisen auf rauh bergansteigender Straße. Bfeib
solang hier, iCh weiüe mich beeifen, in fünf Tagen

bin ic'h wieder zurück.“ „Nein, Josef, ich gehe
mit dir. Eine Mutter, der ihr Kind abhanden ge-
kommen ist, hat keine Ruhe, Josef, sie würde um-
kommen, wenn sie allein bliebe und hürrte. Und
Josef, beflissen voli sorgender PfliClit, daChte an
die gfeiCh j,ähe, gleich angstvoll trübe Reise nach
Egypten. Er versuChte mit dem geringen Reste
des Reisegeldes einen Esel zu mieten, aber seine
Bemühungen waren und blieben vergeblich, soviel
er ihrer auCh anwandte, und sich nicht genug tun
konnte darin, bis die Mutter ihn antrieb, ihre Ge-
mäChlichkeit dem verschwundenen Kinde zu opfern.
Aber die angstgejagte Mutter kannte nicht Erschöp-
fung noch Ermüdung. Kaum daß Josef selbst
SChritt halten konnte mit dem eilenden Weibe.
SChon am Mittqg des zweiten Tages stiegen die
Kuppeln der JehoVastadt in den spähenden Blick,
und spät in der NaCht noch kiöpften sie an das
Tor. Das flehentliche Bitten der Mutter rief end-
lich den WäChter an die Riegel. „Mein Kind. Wir
wissen niCht, wo es ist! Es ist niCht mit uns,
noCh mit anderen aus unserer Kundschaft heim.
Es muß hier verblieben sein.“ „Heut ist es zu spät.
Morgen in aller Frühe wird das Tor wieder ge-
öffnet. Wo wollt ihr noCh hin?“

„Um der Barmherzigkeit Gottes wilfen, bei den
Knien deiner Mutter, Mann, wir baben die drei
Tagereisen in zwei Tagen wieder zurückgetan, da
wir der Heimat sChon nahe waren, und nun, nun
sollen wir Vor den Toren stehen und auf den Riegel
harren, während unser Sohn, der uns muß verlören
haben im Gedränge, die Straßen durChrennt, und
suCht, nach uns ruft und verschmachtet!“

Der Torwärt stand nodh einen Augenblick, ging
dann fort, LiCht fiel durCh die Spalte, und man
hörte einen schweren SChlüssel mühsam unge-
schickt in den Irrgängen des Schlösses tasten. Dann
wiCh in geschlängeltem Rückzuge ein vOrgedrängter
Riegel, hoChaufatmend standen die Erschöpften in
der Torhälle. „Hält, ihr LeutChen“, redet der bär-
tige Wärter die Voreifenden an, „so geht es denn
doch nicht. Erst muß ich euren Namen wissen.
Habt ihr einen SChein?“ Josef wickelt den Be-
glaubigungsbrief Öer Obrigkeit Von Nazaret sorg-
fältig auseinander und reiCht das Schriftstück hin.
„Sieh, da steht auCh euer Sohn. Ist es der, den
ihr sucht?“ „Ja“, antwortet Maria, erwartendrege,
Josef aber niCht, sein aufmerksamer Blick trat her-
aus aus der Gefassenheit dieser Geberde. „Dann
wird es der sein. Ich vvill euCh einen Rat geben.
Geht in Öie Herberge, genießt etwas und schläft
erst, iCh sehe, ilir könnt euch nicht auf den Füßen
halten. Morgen um die dritte Stunde wird der
Tempel für das Volk geöffnet, geht hinein alsdann
und seht, daß ihr bis zum Sitze der Schriftgefehrten
vorgefassen werdet. Dort mitten unter ihnen sitzt
ein Knabe von etwa zwölf Jahren. Der beantwortet
ihre schwierigsten Fragen und fegt ihnen derart
sChwere vor, daß auch die Weisesten oft verstum-
men. Die ganze Stadt spriCht davOn. Von Jesu,
Ben Josef. Dem Namen nach könnt es euer Sohn
wohl sein. Er soll ungewöhnliCh helle Augen hüben
und langes in der Mitte gescheiteltes Haar, und an
hät er bräunliChes Gewand.“ „Er ist es, es ist
unser Jesus, unser göttliches Kind!“ sänk Maria
Josef in die Arme. „Uns solChe Sorge zu mächen!“
bemerkte ernst der abwägende Mann, während er
leise die Hände von den SChuItern seines Weibes
tat. „DoCh sein göttliCher Vater mag es ihm ein-
gegeben hüben“, fügt er, seinen Tadel wieder auf-
lösend hinzu.

„Nein, es ist nieht recht, er hätte es sagen
können — ich möChte nicht noch einmal solche
Angst erfeben. Und doch — ergeben taltet die
Schmerzens’mutter ihre außer den Arbeitsschwiefen
an den Innenseiten der Finger zartbfeiChen Hände.
„Doch nun komm, faß uns gehn, du b'ist so müde.“
Und zärtfich, äber mehr gütig als anschmiegend,
streiChelt sie ihrem Gemahl die eingesunkene Wange
des selbstlos Besörgten. „Also morgen früh.
O, du Blume meines Herzens, daß du nicht verloren
bist — nirnm Dank, himmlischer Vater, daß du
das Tor meines Herzens mir behütet hast!“ Am
andern Morgen, sChon lange vor der Zeit, ehe die
Pforte des TempCfe dem Volke siCh aufschloß, stan-
den die nun niCht mehr bekümmerten, aber wie
auf den Zehen ihrer Seele Erwartenden, dicht am
äußeren Eingang. Jeden VersuCh der ungeduldig
rücksiChtslbsen Menge, die unscheinbaren Fremd-
linge zu verdrängen, wies 1 Josef sChliCht und fest
mit voller ßehauptung seiner Widerstandskraft

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