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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 29 (September 1910)
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Walden, Herwarth: Die Letzten
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Lemm, Alfred: Anmerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0237

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trostlbs sind. Nur muß das Trostlosc künstleri!sdi
zufriedenstelkn. Nicht, daß Gorki bekannte und
„unerquickliche“ Vorgänge auf die Bühne brachte,
s'pridht gegen das Drama, söndern der Umständ, daß
er es' nicht vermochte, ein Kunstwerk, das heißt
eine organische Einheit zu schaffen. Auch er ver-
kannte, daß die Wahrheit des Lebens eine künstfe-
rische Wahrheit werden muß. Er sah Ungltickliche
untf UnglücklicheS mit dem Auge des Dichters,
— denn das i s t Gorki — aber er vermoChte hicht,
die auseinanderstrebenden Personen seiner Hand-
l’ung künstlerisch zusammenzuschließen. Um' gänz
verständfich zu sein: Nichts ist zum Beispiel natür-
ficher, als djaß ein Zimmer höchstens drei Türen
hat, und alle möglichen Menschen, die in derselben
Wohnung wohnen, durch diese drei Türen ein- und
ausgehen. Es ist auch im Leben zeitlich durchaus
gfaubwürdig, daß FamiÜenmitglieder bei ihrem Zu-
sammentreffen sich über afle mögüchen Dinge unter-
hahen (über unmögliche tun eS Familien seftener).
Auf der Bühne wirkt dieSe Lauferei höchst un-
natürfich. Der ZuSChäuer kommt nicht von dem
Gefühf Ios, daß der Urheber dieses Bewegungs-
spiefes die Menschen nach Bedürfnis zusämmen-
kommandiert. Es genügen also zum Beispiel hier
nicht die äußeren Gründe (MittageSsen, Abendessen,
Zurückkommen vom Spaziergang), es müssen innere
Gründe vorhanden sein, die die Persönen gerade zu
dieSer Stunde und in diesCm Zimmcr zusammbn-

führen. Das ist eine Einzclheit. Natürlich ljeße sich
bjis auf das Aflergenaueste analysieren, warum
Gorkis Drama wohf eine Diclitung, aber kein Kunst-
werk ist, und ich bestreite auf das entschiedenste,
daß sofche Wertungen auf Geschmacksfragen be-
ruhen. Selbst der gute Geächmack reicht hierzu
nicht aus. Und ächließlich ist die Kunst keine
Institution für Kostgänger.

Die DarStetlung Utt unter den Mängeln des
Dramaä. Der Regisseur besaß niCht die Kraft, das
schwankende Gehäude des Dichters auf ein festes
Fundament zu steflen. Die Vorstellung gab mir
Gelegenheit, meine Wertung der Herren Rudolf
Bfümner und J a k ob T i e d tk e nachzuprüfen.
ICh b;in derSelben Ansicht gebliebCn. Blümner spielte
zum erstenmaf im Deutschen Theater eine tragende
Rofle. Und im Gegensätz zum größten Teil der
Berfiner PresSe stelle ich fest: Es war eine Kunst-
feistung. Hätte Blümner etwa Bassermann kopiert
oder Herrn Wegener, so wäre ihm siCher Voflste An-
erkennung mit EngelSzungen gesungen worden.
Blümner ist zu tafentlos, Kopist zu sein, und gegen
Originafität hat man stets etwas einzuwcnden. Es
fehfen die Vergleichsmöglichkeiten. Gerade daß
Bfiimner diesen Polizeidirektor nicht wie einen sa-
tanisChen Schurken spielte, rechhe ich ihin hbch 1 än.
Schurke Sein ist keine Eigenschaft, sondern die
Benennung einer Wirkung auf Dritte. Blümner ent-
wickefte seinen Poüzeidirektor auf der Basis Gorkis.

Der Dichter sChuf ihn nich't afs starknervigen Ge-
waftmenäChen, sondern als eitlen Schwächüng, Öes-
SCn brutafe Handlungen aus der pathetisChCn Auf-
fassung seiner Amtswiirde entstehen. Was kann
Blümher dafür, daß die Herren Kritiker kein Auffas-
SungsVermögen besitzen. Wenn der SChauspiefer
sCine Gestaften so spielen müßte, wie deren Cliches
auf die Gehirne der verehrfiChen Referenten auf-
geklbtzt Sfnd, so würden diese Herren schön den
Bürstenabzug vorzügfich finden. Doch kann man
Von KünstlCrn (seien es nun DiChter oder Schau-
spieler) niCht eine MasChinentätigkeit verlangen. Die
Herren Kritiker müsSen siCh schbn mit den Cliches
ihrer eigenen SChriftsteflerisChCn Tätigkeit begnügen.
Tiedtke gab wieder einen alten guten Mann. Einen
rührend guten Mann. Trotzdem von künStlCrisCher
Gfaubhäftigkeit in Liebe und in Schmerz. Ohne Sen-
timentafität und doCh mit innerer Spannung. Außer-
ordentficheS leistete L u C i e H ö f 1 i C h. Eine Per-
sönfichkeit und eine große Künstlerin. Auch hier
muß iCh dasäelbe sagen: man gehe in das Drama
wegen Lucie Höffich. Sie spielte sich als buckliges
gehäSSiges MädChen. AuCh diesmaf wußte sie, daß
der GehäsSige nicht immer häßt. Ich hälte es für
kein Lob, jemandem zu sagen, daß er einen Men-
sChen Schuf. Denn das Leben kennt nicht die Vofl-
kommenheit einet künstferisChCn Schöpfung. Lucie
HöffiCh gab' einen außergewöhnlichen MensChen auf
seinen Höhepunkt. Und melir. Sie schuf kein
„Ideaf“, dasi heißt etwas Gedachtes, keine Photo-
graphie, daS heißt etwas Geschautes. Sie sChuf
das Leben mit seinem ganzen ReiChtum an GefühlCn
und Empfindungen — erlCbt Von einem buCkligen
gehässigen MädChen. Eflen Neustädter und Ella
Barth spieften sehr talentVoll, Frau Neustädter mit
Ergriffenheit, Efla Barth mit LeidensChaft. Emiüe
Kurz alä ( Amrne braChte so etwas wie Maeterlinck-
Stiimmung in den ersten Akt. Schreckfich talentloä
ist der Herr Jakob Fefdhammer. Und Herr Liedtke.

Herwarth Wafden

Anmerkung

Wofdemar Runge, der neue Direktor des Fried-
rich-Wilhelmstädtischen Schauspiethausesi, eröffnete
sein Theater mit einer Neueinstudierung des Faust.
Er brachte SyStem in seine Welt: Um die Sonne der
Dichtung kreisten darsteflende und bildende Kunst,
i h r LiCht zu verstärken. (Bei Reinhärdt steht afles
zu sChr im Sternbifd der Dekoration.) Eine Drei-
einigkeit, bei der die Anbetung oder Vernachllässi-
gung eineäl Teifs das Ganze sChändet. Der Maler
Leni macht aus der Gretchenszene eine Rezitation
am Spinnrad. Hätten diCse lCeren grauen Wände
daS Sehnend-herbe geben können, es w,äre ein Ver-
dienst der DiChtung gewesen und zum klCinen Teil
der FantaSiie Öes Pubfikums — dessien Tätigkeit
siich mit der Größe des Kunstwerks verringert. Der
TheatermalCr imüß im Bild der Dichtung bleiben.
Er hat wohf zu übCrlegen, wo er andeuten kann,
wo er auSführen muß. Andeutung setzt Eindeutig-
keit VoraUS'. So müssen hblie kahlC Mauern nicht
unbedingt den EindruCk der alten, giebUgen Klein-
stadt hervorrufen. DoCh rehäbifitiert sich Leni
glänzend: die HexenküChe mit groteskem, lächCrüch
großen KesSef; das graue beklemmende Dominnere;
die GebetsSzene: (vor düsteren Mauern in bläuer
Nische ein höfzernes Muttergottesbild, an dem das
matte Ffehen Gretchens! mit letzter Verzweif-
fung aufsteigt. Voll Verständnistiefen Einfühlens.
Leni illustriert nie, er umzeichhet, stilisiert, gibt
Stimmung. Die die gesämte Vorstellung bCeinflußt.
Sie war rec'ht und SChlCcht; zuweilen recht sChleCh't.
Lettingers 1 Mephisto blCibt trotz schäuspielerisdher
Begabung ohne die nötige Intensität. Man sollte
den gelehrten Faust und den UebCseifrigen VielleiCht
Von Zwei Darstellern spielen fassen. Nur öie Großen
können beide 1 gestaften. Jener fordert dringender
einen Versteher, afs einen Könner. Der junge das
bedenkenfoSC Temperament. Es scheint, daß der
Regisseur stets nur an den alten denkt, wenn die
Rollen Verteilt werden, und nicht merkt, wie der
junge in die SChwer vermeidUChC Syruptonne Tällt.

Affred Lemm

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