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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 44 (Dezember 1910)
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Soyka, Otto: Bücher
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Hiller, Kurt: Das Cabaret und die Gehirne Salut: Rede zur Eröffnung des Neopathetischen Cabarets
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Der fliegende Holländer: und Der starke englische Stahlbohrer
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0357

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sind in den Köpfen der heutigen Generation zu weit
schlimmeren Gespenstern geworden, als es die ehrlichen
und standesbewussten Geister der alten Sagen je hätten
werden können

Die Lebensfremdheit, die einst den Kindern von
alten Weiblein tropfenweise verzapft wurde, heute wird
sie den Menschen jeden Alters mit Schnellpresse und
aliem Dampfdruck der Reklame in die Köpfe getrieben.
Lebensfremdheit ist der Name der Krankheit am Buche.

Mit einer starken suggestiven Kraft wirkt die Um-
gebung auf den Menschen. Und ein Hauptteil dieser
Umgebung besteht aus bedruckten Papier, Unsere ge-
sellschaftlichen Zustände bringen es mit sich, dass be-
sonders des jungen Menschen Welt mit bedruckten
Papier verhängt ist. ln der Zeit des geistigen Reifens
der Zeit der stärksten Empfänglichkeit, gibt es für die
Jugend von heute kein Erleben, so will es die souveräne
Morall Es gibt nur Bücher Arbeit und Vergnügen
muss aus dieser Quelle fliessen. Da wird dann ein
merkwürdiger Grund gelegt für Weltanschauung und
Leben.

Nehmen wir den ganz normalen Fall. Ein geistig
gut veranlagter junger Mensch entnimmt der ihm zu-
gänglichen Lektüre ungefähr folgendes:

Liebe: eine unklare, ungemein poetische Sache.
lhre Aeusserungen sind Gedichte, Seufzer oder Duelie.
Ihr Ziel ist die Ehe. Vermindert wird sie durch Ge-
genliebe, beendet durch den Tod oder eine gesetzlich
strafbare Handlung der anderen Teiles. — Reichtum
macht unglücklich. Egoismus ist eine schändliche
Seltsamkeit die stets bestraft wird. — Unrecht ist eine
Ausnahme. — Frau ist ein mechanisches Gemenge von
Zartheit, Gemüt und Schwäche. Kokotte ist etwas
anderes. Nämlich ein mechanisches Gemenge von
Geldgier und Verstand Der Mensch lst ein Wesen,
das entweder redet oder denkt. Taten? Die enstehen
von selber. — Mutter ist das liebende Ding an sich. —
Vorbedeutungen sind ein Aberglaube, aber sie treffen
sicher ein. — Sinnlichkeit ist überhaupt nicht. (Ru-
dimente finden sich beim Verbrecher.) — Die eigene
Nation ist die wichtigste und hervorragendste in der
Weltgeschichte. — Die Hauptbeschäftigung des Menschen
ist die Liebe. Nebenbei ganz von selber, wird er ein
grosser Gelehrter, Staatsmann oder Dichter und verdient
viel Geld. — Fähigkeiten oder Vorzüge werden pünkt-

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Nehrnen wir die ganz normale Weit. Wie weit
sieht sie dem Bilde ähnlich? Die Elfen und Feen
blieben wenigstens auf ihren Waldwiesen und die Ge-
spenster waren ordnungsgemäss an ihren verrufenen
Stätten zu treffen. Dort mochte man sie aufsuchen, wenn
man ein Anliegen an sie hatte. Aber diese Dinge,
von denen heute Bücher sprechen, gibt es angeblich
ailerorten, in grossen und kleinen Städten, bei hellem
Tageslicht sollen sie zu finden sein. Wen will es
Wunder nehmen, wenn sich der so vorbereitete nicht
ins Leben findet? Sieht er doch zum Beispiel mit
diesem Trank im Leibe ein Weib in jeder Helena.
Geht es ihm gar zu übel in der Wirklichkeit, so kehrt
er eben zum Buch zurück. Port ist es gut sein und
Erlebnisse und Sensationen sind nicht schmerzhaft.
Gelingt die Befreiung, so kostet sie Jahre und gute Kraft.
Ganz klaren Blickes aber sieht kaum einer mehr ins
Leben, der vom Buche kommt.

Das ist nicht immer zu beklagen. Menschen ohne
eigene Individualität gab es jederzeit, sie leben nach
Modell und es will nichts bedeuten, woher sie das
Modeli beziehen Aus Büchern oder sonst woher.
Aber so leicht und verlockend ist diese geistige Selbst-
entäusserung den Menschen nie gemacht worden, wie
in der Gegenwart. Und es ist anzunehmen, dass auch
wirkliche Individualität von der Fülle der heute zu Ge-
bote stehenden Modelle erdrückt wird.

Das kostet Opfer an Lebenskraft. Opfer an voll-
wertigen Menschen. Zwischen Büchern leben, an
Büchern sich begeistern und unter ihnen leiden — das
alles wieder nach Büchern — das wäre wirklich das
Leben, von dem soviel in Büchern steht?

Das Cabaret

und die Qehirne Salut

Rede zur Eröffnung des Neopathetischen Cabarets

Meine Verehrten

Sie alle sind in der biblischen Geschichte sehr
bewandert. Sie kennen daher auch die Anekdote vom

lieben Gott und dem utilitaristischen Engel. Nein?
Dann will ich sie Ihnen rasch erzählen. Als Gott fertig
war mit der Welt und, unendlich glühend vor Schöpfer-
freude, sein Werk übersah, da erlaubte sich ein etwas
dürrer Engel die Frage an ihn zu richten, zu welchem
Zweck er denn eigentlich die Welt gemacht habe, und
ob sie überhaupt unter verständigen Gesichtspunkten
daseinsberechtigt sei. Der liebe Gott war einfach
sprachlos und wusste nichts zu erwidern; denn obwohl
er im grossen Ganzen allwissend ist, so versagt er
doch stets, wenn man ihm teleologisch kommt.

Nun liegt es mir fern, die guten Leute, die bis-
her es für angebracht hielten oder die künttighin noch
es für angebracht halten werden, nach dem „Zweck“
des Neopathetischen Cabarets sarkastisch zu fragen,
mit jenem dürren Engel zu vergleichen; und noch
ferner, unsern Club mit dem lieben Gott. Dennoch
erschien mir jene biblische Anekdote ununterdrückbar,
gerade in einem Augenblick, wo ich befürchten musste,
dass mancher unter lhnen von mir erwartete, ich
würde unser auch für gewiegte Abenteurer des Geistes
etwas ungewöhnliches Unternehmen zu „rechtfertigen“
suchen

Erlassen Sie mir das und seien Sie weise genug,
jedwede gebenedeite Extravaganz — Welt oder Cabaret
— als Zweck ihrer selbst zu betrachten!

. . Ueber das neue Pathos hingegen werden zwei
aufklärende Worte vorauszuschicken sein Ein Literat,
der sich im Privatleben unliterarisch benimmt, ist ein
Schmierer; ein Psycholog, der es kindisch oder philiströs
findet, abends im Kaffeehaus fanatisch zu psychologi-
sieren, ist ein Krämer; ein Philosoph, der nach des
Tages Last und Bücherwalz philosophische Gespräche
als Fachsimpelei ablehnt, ist ein Schwein; glattweg ein
übles Schwein und sollte gehenkt werden! Nur solche
Gehirne sind anständig und zu biiligen, in denen das
Geistige unaufhörlich fluktuiert und nicht bei Sonnen-
untergang (oder sonstwann) Feierabend macht. Das
Geistige als eine Flamme, von der die Seele ständig
geheizt ist; Problematik und die Erschütterungen der
Formen nicht als Gewerbe, erst recht nicht als Amüse-
ment, sondern als die Bedürfnisse jeder wachen Se-
kunde . . .

Dies ist das Kennzeichen einer höher gestimmten
Lebendigkeit und des neuen Pathos: das alleweil
ladernde Erfülltsein von unserm ctpiiph+pn Ideelichen,
vom Willen zur Erkenntnis und zur Kunst und zu den
sehr wundersamen Köstlichkeiten dazwischen. Das
neue Pathos ist weiter nichts als: erhöhte psychische
Temperatur

Man verwechsle es aber nicht mit der mürrischen
Feierlichkeit, dem vergnetterten Enthusiasmus, der schul-
meisternden Sublimität, von welchen gewisse Jahrbücher
für esoterische Bewegungen durchtönt sind; wo das
Bestreben obwaltet, überall die geläufige deutsche
Sprache durch die verschnörkelte Getragenheit eines
imaginären Jargons zu ersetzen, das Tempo der Rede
asketisch zu zügeln und überhaupt die geistigen An-
gelegenheiten als etwas hinzustellen, was sehr viel
Puritanität, Strenge, Ehrpussligkeit, Brillentum und einen
enormen Aufwand an sittlichem Ernst erfordert . . •
Dieses peinliche Pathos derer, die den grossen George
in Prosa überorgeln, ist vielleicht nicht weniger hohl
als das geschmähte Schillerische, und es hat mit dem
unseren nichts zu schaffen. Unser Begriff von Pathos
dürfte eher übereinstimmen mit dem Begriff, den
Friedrich Nietzsche davon hat — Nietzsche, welcher
im „Ecce Horao“ bekennt: „Ich schätze den Wert von
Menschen, von Rassen darnach ab, wie notwendig sie
den Gott nicht abgetrennt von Satyr zu verstehen
wissen“ . . Pathos: nicht als gemessener Geberden-
gang leidender Prophetensöhne, sondern als universale
Heiterkeit, ais panisches Lachen.

So versteht es sich auch, dass wir es keineswegs
für unwürdig und unvornehm halten, seriöseste Philo-
sopheme zwischen Chansons und (cerebrale) Ulkigkeiten
zu streuen; im Gegenteil: gerade weil für uns Philo-
sophie nicht fachliche, sondern vitale Bedeutung hat,
nicht Lehrsache, Geschäft, Moralität oder Schweiss-
ausbruch ist, sondern: Erlebnis — scheint sie uns viel
eher in ein Cabaret zu passen, als auf ein Katheder
oder in eine Vierteljahresschrift!

— Aber die letzten Worte klingen am Ende doch
schon wie ein Rechtfertigungsversuch; haben Schritte
tapsend wie der Geist der Schwere; tanzen nicht selbst-
sicher, wie jener frohe Intellektualismus, den wir er-
sehnen. Darum schliesse ich den Salut und eröffne
das Neopathetische Cabaret für Abenteurer des Geistes.

Kurt Hiller

Der fliegende Holländer

und

Der starke englische Stahl-
bohrer

Ich litt an einer Magenindigestion, infolge Genusses
einer überzähligen Fischmayonaise . . .

Nach der Genesung nervöser Appetit auf Kaviar. . .

Bekanntschaft mit Herrn Kohn, der mir fünf
Hundertmarkscheine borgte . . .

Mit den Banknoten auf offener Strasse geliebäugelt...

Im Cafe mein Mantel gestohlen, Brieftasche in der
Aufregung samt Banknoten in die Manteltasche gesteckt,
von Dieb beobachtet .

Diebstahl — Zerstreutheit — Aufregung — Dar-
lehen — Geldmangel —• Kaviar — Appetit — Magen-
indigestion — Fischmayonaise —

Ich fühlte mich in der Stimmung, einen Aufsatz
über „Ibsen und das psychologische Drama“ zu schreiben.
Ich eilte nach Hause. Weil ich keinen Anfang fand,
legte ich mich schlafen.

Mir träumte, ich bestiege ein grosses Schiff. Als
ich den Fuss an Bord setzte, sah ich hoch oben in
den Lüften den fliegenden Holländer vorübersausen.
Ich verstand: das Schiff wird untergehen. Aber ich
verliess es merkwürdigerweise nicht und sprach zu
niemanden von meiner Beobachtung. Wir fuhren ab.
Die Fahrt ging dem Ufer entlang. Plötzlich stiessen
wir auf ein Riff, das Schiff barst; hoch oben in den
Lüften sauste wieder der fliegende Holländer vorüber.
Mir allein gelang es, mit einem mächtigen Satze an
Land zu springen, von wo aus ich das Schiff ver-
sinken sah.

Nach einer Weile träumte ich einen Kommentar
zn meinem ersten Traum. Warum hatte ich den
Kapitän nicht gewarnt? Weil ich voraussah, dass man
mir den fliegenden Holländer verlästern werde. Nicht,
um sein Schicksal zu erfüllen, wäre nach der Meinung
der Leute das Schiff untergegangen, sondern nur, weil
der durch meine Geisterseherei und Prophezeihung
nervös gemachten Kanitän ■\\p Hpr-jrhaf»

w - v - [- - i -v. i i Ub JT UA<j>

Steuer verloren hatte. Um diese plumpe psychologische
Auslegung zu vereiteln, hatte ich den Kapitän nicht
gewarnt.

lch erwachte, überlegte die Bedeutung des Traumes,
beschloss den Aufsatz über „Ibsen und das psychologische
Drama“ nicht zu schreiben, mir dagegen am Abend ein
Stück von Schilier anzusehen. Aber nirgends fand ich
etwas derartiges affichiert. Nach langem Suchen be-
merkte ich ein Plakat, auf dem eine schreckliche Scene
aus einem Sensationssketch illustriert w^r: In der
Haltung des vernichtenden Entsetzens taumelt eine pom-
pöse Dame vor einer gespenstischen Erscheinung zurück,
die in einem geöffneten Schrank zum Vorschein
kommt. Ich versuchte den Zusammenhang der Dinge zu
ergründen. Aber voll Freude stellte ich fest, dass die
Szene jeder psychologischen Deutung spottete und da
auch der Titel „1m blauen Licht“ mir keine seelischen
Zusammenhänge zu verraten drohte, fuhr ich nach dem
Sketchhaus. Noch immer spürte ich tiefst innen die
Schrecken des Traumes, noch war ich misstrauisch.
Erst als ich aus dem Programm feststellte, dass Herr
Perasini als Verfasser in Frage kam, besass ich eine
sichere Bürgschaft, mit psychologischen Entwicklungen
nicht beheiligt zu werden Ich hatte mich nicht getäuscht.
Gott sei Dank! Gott sei Dankl Die vier Fregoli-
Rollen, die Herr Leon Peret mit unterschiedlichem
Stimmenmaterial hinlegte, protestierten gegen seelische
Zusammenhänge. Weder der vermeintliche Fürst noch
der geckenhafte Graf noch der Wutki-Diener noch
Iwan der Student werden jemals miteinander sprechen.
Aber seine Partnerin Gertrud Mangelsdorff ? Ich be-
trachte sie, obgleich ich in der ersten Reihe sitze,
scharf durch mein Opernglas. Verdammt noch einmall
Ihr fehlt nichts zum Weibe. Sollten sich im Dialog
seelische Zusammenhänge offenbaren? Sie wird doch
nicht! Nein, Gott Lob, neinl Sie sperrt den ver-
meintlichen Grafen in einen Schrank, in dem er er-
saufen soll. Ich sehe den Grund nicht ein. Wie
wohl das tut Aber ich zittere am ganzen Leibe, ob-
gleich der Eingesperrte vor dem Schrank seinen eigenen
Todfeind agiert Die Angst war überflüssig. Es kommt
anders als ich gedacht. Der Schrank wird geöffnet,
aber statt einer fürstlichen Leiche kommt ein schwerer
Junge aus dem Wassergrab und spricht lächend: „Ich
habe einen starken englischen Stahlbohrer bei mir,

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