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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 54 (März 1911)
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [14]: Ein Volksroman
DOI Artikel:
Friedlaender, Salomo: Kants Vermächtnis, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0437

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XLVil

Die ratlose Wissenschaft

Selbstverständliche versammelten sich sofort nach
Bekanntwerden des neuen Phänomens sämtliche
Chemiker und sämtliche Naturwissenschaftler an der
Sturmküste und beobachteten.

Aber sie konnten alle nicht klug werden aus diesen
Irrlichtern; so was war noch niemals dagewesen im
Lande Utopia.

Die Künstler und die Dichter, die natürlich auch
von dem unnatürlichen Schauspiele angelockt wurden,
freuten sich nur über die grossartige Formen- und
Farbenpracht, und wenn man des Nachts auf den
Balkonen der Logierhäuser zusammensass, so kam es
immer häufiger vor, dass man sich über die Natur-
wissenschaftler lustig machte, die einfach ratlos dem
neuen Lichtphänomen gegenüberstanden und gar kein
vernünftiges Wort der Erklärung zu finden vermochten.

„Es sind Geister!“ sagten bald sehr viele Utopianer.

Doch davon wollten die Wissenschaftler nichts
hören.

XLVIII

Die Entdeckung des Herrn Schlackenborg

Der Herr Schlackenborg, der Führer des Se-
bastianischen Luftwagens, hatte sich anfänglich nicht
bewegen lassen, in der Nähe der Sturmküste zu fahren,
und auch die anderen Luftschiffe blieben weitab, da
man neue Stürme mehr denn je zu fürchten begann.

Doch eines Nachts vermochte doch der Herr
Bartmann seinen Steuermann, der Sturmküste etwas
näher als sonst zu kommen.

Herr Bartmann und Herr Schiackenborg sassen im
Luftschiff zusammen und befanden sich gute zehn
Meiien von der Sturmküste entfernt über dem Fest-
Iande; die Sterne funkelten heftig, und der Volimond
stand dicht über dem Meereshorizont ganz dunkelrot.

Da sahen die Luftfahrer plötzlich eine Reihe blauer
Flammen — ungefähr acht bis zehn — wie blaue
Fahnen, die 1m Sturme flattern und knattern, grade
auf das Selastianische Luftschiff zufliegen.

Herr Schlackenborg sah nach dem Kompass —
und s'ehe — die Nadel drehte sich plötzlich im Kreise
—• immer schneiler — und das Luftfahrzeng fuhr trotz
aller Steuer und obgleich es ganz windstiil war
plötzlich mit einem Ruck seitwärts — und dann im
Zickzack, dass der Herr Schlackenborg sofort Befehl
geben müsste, das Fahrzeug in die Tiefe zu bringen
und unten die Berührung mit dem festen Boden zu
suchen.

Als nun der Luftwagen mit seinen langen Beinen
wieder auf der Erde stand, atmeten die drei Maschinisten
erleichtert auf und wischten sich den Schweiss von
der Stirn; so was war ihnen noch nicht vorgekommen.

Herr Bartmann war weniger erstaunt, da er sich
bereits so an übernatürliche Dinge gewöhnt hatte, dass
ihm das Ereignis garnicht aus der Fassung brachte.

„Sie sehen,“ sagte er zu Herrn Schlackenborg,
„was alles hinter der uns sichtbahren Erscheinungswelt
vorgeht. Welches Leben I Welches rasende gross-
artige Lebenl Ich freue mich, dass es den Utopianern
jetzt endlich klar wird, was alles hinter unserer Er-
scheinungswelt lebt und sich bewegt und immer wieder
neue Kräfte zeigt. Mich bringt das Neue nicht aus
der Fassung, ich bin darauf vorbereitet gewesen und
freue mich, dass es endlich so augenfällig wurde —
nicht meinetwegen, aber der Utopianer wegen - denn
für mich würden all diese Lichterscheinungen auch da
sein, wenn sie auch nicht sichtbar würden.“

Die Maschinisten sagten garnichts, aber sie tele-
graphierten das, was sie entdeckt hatten, an die wissen-
schaftlichen Institute.

Und drei Stunden später waren alle Luftfahrer
gewarnt.

XLIX

Die Experimente

Jetzt gings natürlich in den Kreisen der Wissen-
schaft sehr lebhaft zu; sofort wurden über der Sturm-
küste Fesselballons aufgelassen — anfänglich nur mit
Kaninchen und Registrierapparaten bemannt — später
erst wagten sich die Gelehrten selber in die Ballons.
L, Und da wurde denn Alles studiert; und die Ex-
perimente folgten einander in unsäglicher Hast — und

die Entdeckungen ebenfalls; die Physiker und Chemiker
gerieten ganz aus dem Häuschen ob all der neuen
Wunder.

Und die Literatur-Zentrale gab ganze Serien neuer
Bücher heraus, die alle das Irrlichter-Phänomen be-
handelten; und der Laie konnte nicht mehr folgen —
es war zu viel auf einmal.

L

Die Veränderung der Irrlichter

Die physikalische und chemischen Experimente und
Entdeckungen wurden aber sehr bald in den Hinter-
grund gedrängt, als man sah, dass die Irrlichter, die
man jetzt im Himmel an verschiedenen Punkten über
dem utopianischen Festlande beobachtete — als man
sah, dass diese Irrlichter ihre Gestalt ganz wesentlich
veränderten und mehr strahlenförmige Auswüchse
erhielten.

Diese strahlenförmigen Auswüchse hatte die Hellig-
keit grosser Scheinwerfer, die sich lebhaft bewegten
und die Fesselballons mit kolossaler Gewalt seitwärts
warfen, sodass mehrere von ihren Stricken Iosgerissen
wurden — und die Gelehrten nur mit Gefahr ihres
Lebens den Erdboden erreichten.

Fortsetzung folgt

Kants Vermächtnis

Von Dr. S. Friedlaender

Fortsetzung

Kant war wie das grosse gigantische Schicksal.
Er zermalmte den Geist, er erhob ihn. Es spornte
und lähmte zugleich Aber während wir die Einen
himmelhoch jauchzen, die Andern zu Tode betrübt
sehen, gab es nur Einen, in welchen diese Doppel-
wirkung auf einmal wie ein Blitzstrahl schlug. Mit
seiner schlicht sieghaften Persönlichkeit gelang es Kant,
den Zwiespalt seiner Lehre auszugleichen. Eine ge-
wisse kindliche Blindheit verhütete es, dass er sich als
das schwere Verhängnis, daseruns in der Tat bedeutet,
nicht mit aller Furchtbarkeit voraus empfand. Der
kantische Ernst ist versteckt, vor Kant selbst versteckt:
Athur Schopenhauer ist seine erste mächtige Offen-
barung.

Aus dem Erstaunen, dass durch Kant eine Wahr-
heit, welche sich bisher in aller Geschichte nur alle-
gorisch, mythisch, religiös oder poetisch hatte ver-
nehmen lassen, zur gründlichsten, detailliertesten, un-
umstösslichen Wissenschaft und Gewissheit erhoben
worden war, kam dieser Mann niemals heraus.
Schwelgend in den Wonnen Platonischer Dialektik, fand
er in Kant seinen Meister, der ihn erweckte, ernüch-
terte. — Er, mit einem ursprünglichen Gefühle uner-
messlicher Ueberlegenheit über jedes Dogma des Ver-
standes; mit einer Sonne in der Brust, welche alle
Sonnen der Welt fahl verbleichen machte, stürzte sich
feurig in die Arme Kants, der den Menschen zu sich
selbst zwang, indem er ihm alle Stützen entriss, alle
Fundamente unterwühlte, auf die er sich seit Jahr-
tausenden blindlings verlassen hatte, und so ihm keinen
Halt liess als sich selbst. Aber Kant sprach — Kant
dachte nicht so unverblümt und radikal. Bei der
empirisch-realen Welt sollte man es bewenden lassen?
Und dem metaphysischen Bedürfnisse sollte der hungrig
aufgesperrte Rachen der Frage mit einer bloss formalen
Antwort, einer anonymen Hoffnung gestopft werden?

Schopenhauer strotzte von einer anderen, ewigen
Gewissheit, nach deren Ausdruck er seit jungen Jahren
rang. Es gab ein Etwas in dieser Welt, was auch
nur empirisch real, aber es unvergleichlich vorzüglicher
war als alles Uebrige: das Phänomen der Phänomene,
das Tiefinnere der Person, das Herz des Lebens —
der im Lebensdrang strebende Wille. Das war der
abgründige Vulkan, auf dem die Welt tanzte; das
hinter, unter der Natur in dämonischer Raserei

Treibende, Kochende; das Feuer unter dem Kessel,
woraus der Dampf stieg. Hier fühlte Schopenhauer
den Pulsschlag der Welten. Hier dröhnte dem daran
gelegten Ohre der Boden der Realität vom Donner

namenloser Gewalten. Hier war der Kern der Natur,
hier erkannte Nätur sich selbst.

Der Leib war die Schale des inneren Willens, und
so war Wille das Innere der Natur, uieser Ausdehnung

des Leibes ins Unendliche Kein physischer, ein
metaphysischer Zusammenhang ist zwischen Schale und
Kern. Doppelt ist die Natur sich gegeben: als Text
der Vorstellung, als Interpretation des Willens.

Gern lassen wir uns hier an tin Wort Goethes
erinnern, welches diese Wahrheit, dass der Schwer-
punkt der Welt in das persönlich Innerste falle, wunder-
schön bekräftigt: „Denn wozu dient aile der Aufwand
von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen
und Milchstrassen, von Kometen und Nebelflecken, von
gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht
zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Da-
seins erfreut?“

Dieselbe Wahrheit hat bei Schopenhauer einen
schlimmen Klang. Eine schaudertiefe Charakteristik
des Willens zum Leben hebt an, bei der uns zu Mute
wird, wie dem Hamlet bei den Worten des väterlichen
Geistes.

Einer Art Sündenfall entstammt der Wille zu leben.
In diese Welt wittert nur dumpf eine Welt der Seiig-
keit hinein. Durch welche Fatalität mag wohl in dem
selig mit sich selbst seienden Urwesen dieser Mangel,
dieses Bedürfnis, diese lüsterne Lehre entstehen und
aus einer ungewissen Sehnsucht ein Verlangen, ein
Hunger und Durst, eine folternde Qual, eine lechzende
Wut werden ? Woher schrillt diese Dissonanz durch
die Harmonie des Urwesens, es in sich zerreissend?
In brünstiger Liebe zu sich selbst entbrannt, möchte
das von sich getrennte sich wieder einholen. Ein
Wahnsinntaumel hat es ergriffen, so dass es sich
ausser sich selbst nicht, obgleich es ewig in sich ist
und sich nie verloren hat, so will es vergeblich.
Dieses Aussersichsein ist die Welt der Vorstellung, ein
krampfhafter Wahnsinn, eine Fata Morgana, dem Durste
Stillung vorlügend, schön zu schauen, mit Feuerschmerz
durchzuckend bei der Berührung. Unaufhörlich narrt
und enttäuscht sie den Willen und verbittert ihn mit
der Galle des Hasses. Aber gerade dadurch heilt sie
ihn von sich selbst, ihn, der nur an sich selber litt.
Er wird immer resignierter. Und gerade der Wille,
der die Leiter des Verlangens immer wütiger hinauf-
gepeitscht wurde, steht endlich still, wenn jedes Ziel
ihn mit Verzweiflung anstarrt: er hasst nicht mehr,
er will nicht mehr. Ein unsagbare Macnt hat ihn an-
gerührt, einer Erinnerung seiner Seligkeit hat ihn an-
gefasst, und an den Mast dieses besseren Bewusst-
seins bindet sich der verirrte Odysseus vor dem noch
herzzerschmelzend schön klingenden Sirenengesang des
Lebens: er wendet sich ab, er beruht auf sich — die
Nebel zerinnen, Ithaka winkt. —

Die Dämonie dieser Schilderung bei Schopenhauer
ist grenzenlos ergreifend, das Abbild der Welt und des
Willens grenzenlos wahr und einseitig. Keine aller-
reifste Weisheit; von Jean Paul, von Goethe kalt ge-
rühmt und beiseite getan; lange unwirksam; uner-
messen, weil masslos — die Weisheit eines schwer-
blütigen, schwermütigen Jünglings. Dieses entschiedene
Absprechen über das Leben nennt man Pessimismus.
Es bleibt eine oft erkannte und gerügte Naivität, auf
die Frage, ob das Leben etwas wert sei — ob es uns
liebe, soll das wohl heissen — ein Ja oder Nein von
ihm erpressen zu wollen. Den Gefallen, eine Antwort
zu geben, tut uns das Leben nicht; es überlässt uns
den Entschluss und die Verantwortung. —

Kant war niemals eigentlich jung, und Schopen-
hauer wurde niemals eigentlich alt. Daher der be-
trächtliche Unterschied im Tempo, sich bekundend in
der geistigen Haltung, im Stil, in der Lebensführung,
sogar somatisch — worin man will. — Ein lebhafter,
in den frischesten Farben funkelnder Geist, wirft sich
Schopenhauer mit einem Ungestüm sonder gleichen
auf alle Probleme. Er wäre verloren gewesen, wenn
er nicht, seinent reissenden impetus zum Gleichgewicht,
diese gediegene Erdschwere besessen hätte, welche
seinem Flug in alle Höhen das bleierne Gewicht mit-
gibt, der' auch ein niederziehendes Element an seine
Fiügel heftet, so dass er niemals den Gipfel erreichte,
für den er einzig und eigentümlich bestimmt scheint.
In seiner Jugend muss er habituell des genialen Erlebens
der ungemeinen Erleichterung, Abfallens aller nieder-
haltenden Gewichte, des Weichens der Angst des Ir-
dischen teilhaft geworden sein. Um so belastender
senkte sich sofort wieder der ungeheure Druck herab,
unter dem er leben inusste, unt sich nicht zu ver-
flüchtigen. Iminer gewalttätiger gährte in ihm die
Begierde nach Freiheit von allem Druck. Es sollte
nicht Iange dauern, da war ihm Leben mit Druck
identisch: eine grausame Verwechslung, an die er die
Goldgruben seines Geistes verschwendete.

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