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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 33 (Oktober 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu
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Rittner, Tadeusz: Akazia: Eine kleine Höllengeschichte
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Mayer, Hans: Bildungsphilister, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0268

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zurück und schirmte so clen PÜatz der gföttlichen
Mutter. Und alls sie init aller Ehrerbietung und
zagender Haftung, doch etwas scheu und eifrig,
bis an die Qrenzen d-es Verstatteten und des vor-
behaltenen Raums angelangt waren, da sahen sie
bisweifen das Haupt des Knaben und hörten seine
helle Stimrne schön und deutiich etwas erklären,
dann aber mit gemäßigter, doch großer erwachsen-
ernster Gebärde erhob er mit sadifich unbefange-
nem Nachdruck seine Fragen, und oft war die
Antwort Schwcigcn oder unsicheres Hasten.

Der junge Meister

Im Tcmp-etgebäude ist ein langer Zug um die
Pfeiler redhter Hand aufgestellt vom Allerheiligsten.
Ein fanger Zug. — Die hören und reden mit zu-
sammengebohrten Brauen und sdhmettern mit
einer gellen kriegführenden Stimme, die nimmer in
diese Stätte des Friedens paßt. Diese Stimme er-
innert zu sehr ans vermietete Forum, behende und
weftlich wie sie ist. Aber zwischen ihnen, diesen
Raubtieren der Satzung, unter der sie das Gesetz
begraben, keimt ein Knabe, ein sdhfanker, schon
edefhoch gedi-ehener Knabe. In seinen Gebärden
wohnt noch Anmut, noch die Spieffreud-e der Kind-
heit, hofdselige. Ein Lippenpaar, milde, leisrot,
freundfich, zweifelt lächelnd bei den großen Reden,
dem dann einer sanftwarmen Sdhwefle der Weisheit
Entgegnungen entfeudhten. „Alles, was Odem hät,
fobe den Herrn!“ sagt uns-er König. Aber ihr habt
keinen Odem. Eure Werke sind Gespenster, sind
gfeich den Zuckungen des Bewußtlosen auf der
Straße, der Sdhaum vor seinen Nüstern führt. Aber
nur der Wilkn meines Vaters, der im Himmel ist,
nur euer Hineinlegen in ihh kann sidh' zu Werken
der Liebe erwärtnen, zu heifsamen und kraftführen-
den Werken entbundener Stärke. Ihr seid bfind
wie Maubviirfe und dodh habt ihr Augen. Lichtreif
aber müssen sie werden, und gleich dem feuer-
weißen Auge der Lilie das reine Lidht der Sonne
begrüßend.“

Das war fremde Spradhe in diesen Hallen,
gottesernste Tempclruhe, unverstanden. Noch war
kein Lichtauge reif für Geist und Ewigkeit.

Akazia

Eine.kleine Höllengeschichte

Von Thaddäus Rittnep

TT i äj'

Ich versprach ihr hundert Mark, wenn sie
schweigt. Sie woflte nicht schweigen. Ich bot
ihr fünfhundert an. Sie wofite nidht. Ich ging
bis vierundfünfzigtausend. Es kostete midh ja gar
nidhts. Aber es nützte mir auch nichts —

Sie wollte nidht.

„Wärst du mit Geld versehen, so hätt-est du
mich nicht zu vergewaltigen brauchen“, bemerkte
sie ganz ridhtig.

Ich entschlbß mich, mit zitternder Stimme zu
sagen:

„Erbarine dich ...“

Aber es war zu wenig Rührung darin. Es
kam nicht heraus.

Darauf ging idh zur Tür und sperrte sie ab;
dann zum Sdhreibtisch, öffnete die Lade und nahm
den Rev-ofver heraus.

„Du vvirst dieses Zimmer nidht mehr verfassein“,
sagte idh (stehcnd) und zielte auf sie mit aus-
gestrecktem Arm.

„Hm“, lächte sie achselzuckend.

Dann fragte sie:

„Wie fang bist du sdhon hier?“

„Drei Monate.“

„Dann s-ofltest du doch schbn wissen, daß es
hier unmöglich ist, jeinand zu erschießen.“

Ja, das wußte ich ohnehin.

„Was wirst du denn macbeii ?“ erkundigte ich
mich.

„Ich geh zum nächsten Komrnissariat.“

„Hof didh der Teufel“, sagte ich.

„Hat er ja sdhbn getan“, witzefte si-e.

Wenn sie wenigstens ehrfich empört wäre. Aber
sie ist kaft. Ein Ekel.

„Adieu“, sagte idh.

2

Ich öffnete ihr selbst die Tür.

„Was waren Sie zu Ihren Lebzeiten?“ fragte
midh der Untersuchungsr-ichter.

Die bekannten dummen Formafitäten, denke
idh und antw-orte:

„Erster Liebhaber.“

„Ja“ — grinst der Mann — „sie führen sich
auch danach auf.“

Wieder Witze.

„Idh ! war Schauspieler“, sage ich mit unter-
stridhenem Ernst.

Nun wird er audh weniger gemütfidh.

„Dann begreife idh Sie nidht!“ — entrüstet er
sidh — „wiie kann ein Mensdh aus bessercn Intefli-
genzkreisen eine sofdhe Handlung begehen!“

Das madht er gut.

„Wir alle, hier, sind ja keine Heiligen.“

Er ärgert sich.

„Es handeft sicb nidht um heilig oder nicht
heifig. Das, was Sie getan häben, war einfadh
bföd. Das Miädel ist eine Prostituierte... Sie
hätten sie um eine Kfeinigkeit häben können ...
nein, Sie überfallen sic, tun ihr G-ewalt an...“
„Idh hätte eben die Klbinigkeit nidht bei mir.“
„Ja, mußte es denn gfeidh s-ein?“

„Ich häbe überhaupt kein Gefd.“

Er schaut mich Verwundert an.

„Warun. nicht?“

„Fragen Sie den Herrn Quartiermeister. Er
diktiert ja die ewigen Strafen. Ich habe sie mir
nicht ausgesudht.“

„Ah s-o. Sie sind zur ewigen Geldlosigkeit
Verdammt?“

Ich nicke mit dem Kopf.

„Das entsdhufdigt Sie nicht im geringsten“,
sagt der Mann nadh einer Weife, „män muß, eben
nidht nur die Strafe sefbst, sondern auch alle Kon-
sequenzen der Strafe erdulden. Wir sind nidht zu
unserem Vergnügen hier. Verfügt man nidht über
finan/.iefte Mittel, so besdhränkt man sich auf kosten-
fose Liebe.“

„Ach, schbn gut“, unterbreche ich ihn.

Paar Tage später bekomme idh s-echs Monate
Kerker.

3

Ich sitze; es vergeht eine Woche. Der Ge-
fängnisdirektor läßt midh rufen.

„Singen Sie“, sagt er zu mir.

„Ich kann nicht singen.“

„Sie -irren sidh“, versidhert er und zeigt auf
ein Sofa im Winkef, „Von dem Fräulein weiß idh’s,
daß Sie Stimme haben.“

Auf dem Sofa sitzt die Person, der idh seclis
Monate Kerker Verdanke.

Zugfeidh bemerke idh, daß der Gefängnis-
direktor betrunken -ist. Ergo riskier-e ich einen
kfeinen Gesang. Es gefätlt mir immer besser.
„Hör auf“, sagt pfötzlich die Person.

Idh sehe mich um ; der Direktor schfäft. Da
brauchte ich niidi nicht weiter anzustrengen.

„Wäs ist dir eingefallen?!“ spredhe idh 1 zu ihr.

„Idh weiß es selbst nicht_ Ich habe dich

sehen w-ollen ...“

Ich trete auf sie zu. Sie ist nur im Hemd.
„Rühr midh' nidht an“, stottert sie und rollt
sidh wie eine Schnecke zusammen.

„Canaifle!“ sage ich.

„Ja, ich weiß.“

„D-u hüst midh ins Gefämgnis gebfaCht.“

„Ja, idh' weiß. Aber vor fünf Minutcn wär ich
in didh verliebt...“

„Vor fünf Minuten?“

„Ja. Aber jetzt, wb ich dich sehe, nicht mehr.
Du kannst wieder ins Gefängnis zurück.“

„Ich danke ergebenst.“

Ich läche wütend.

„Na wärt... Jetzt fasse ich didh nicht los. Es
geschehe, was es wofle ...“

Aber sie begann wie Verrückt zu schreiien. Der
Direktor waclite auf. Ich mußte hinunter.

Sie hiieß Akazia.

4

Idh Verzehrte mich vor Sehnsucht nach' der ge-
meinen Kreatur. Ich tanzte wie eine Hyäne in
der Zelle. Idh kratzte mich wund, ich zefbiß
Gitterstäbe.

„Wenn Sie nidhts essen“, sagte mir der Wärter,
„s-o werden Sje, gefoftert“.

Ich sagte freudig:

„Sie können mir kein größeres Fest bereiten,
afs wenn sie mich ein wenig foftern.“

Das Fest unterblieb. Ich wurde mager wie ein
Skeldtt. Bei Tag und Nadht küßte ich das Wort
Akazia.

Sie sdhrieb mir auf einem Zettef:

„Du bist mein Gott. Idh schläfe nicht, ich esse
nicht ... weif du midh quälst, mein lieber Gott.
Und es sdhfägt mich meine alte Frau, weif idh
midh weigere, auf den Stridh zu gehen...“

Auch diesen Brief küßte ich. Und ich spürte
die Unterweft. Es ergriff midh di-e schlimme Angst,
däß ic'h mit der Zeit ein wenig verriickt werden
könnte.

Aber in der Nadht sagte idh zu mir.

„In vierzig Tagen bin idh aus dem Gef-ängnis
heraus und dann habe idh sie. Was kann man
tnir dann weiter antun? Sie wird sidh mir hin-
geben ... und dann gi-bt’s keine Hölle mehr für
uns zwei. Denn ich bin ihr fieber Gott — und
idh sdhäffe die ewigen Strafen ab.“

Und den nädhsten Morgen kam ich d-och in
die F-ofterkammer (vveil idh nichts essen wo-llte).

Idh sang ein L-obfied auf Akazia, als man mir
die Fingernäge! mit ein-er Zange herausriß.

Und afs die alte Teufels - Manikure mit der
redhten Hand fertig war, da schrie ich:

„Hurrah! Hier -ist noch die finke!“

5

Der Kerker ist Vorüber, aber meine Quaf ist
ewig.

„V-or einer Sekunde habe idh didh gefiebt“, sagt
mir Akaz-ia, wenn sie mir begegnet.

Sie muß mir tägfich begegnen. Ich steige ihr
unausgesetzt nach, wenn sie mit h-ochgerafftem
Kfeid durch die Straßen rudert. Zwei verdammte
Uhren sind wir, Zwei ewige Pendell

Und wer ihr vvinkt, mit dem geht sie heim.
Nur mit m-ir nidht. Weif ich zur ewigen InsolVenz
verurteilt bin.

„Du wirst sehen“, dr-ohe idh ihr, „ich nelime
dich wied-er mit Gewalt“.

Sie antwortet:

„Dann gehe idh wieder zum Kommissariat.“
Das ist unsere Unterhältung.

Manch-mal! erzählt sie mir weinend, wie ent-
setzfidh sie mich liebt in der Einsaimkeiit und in
Gedanken.

„'Leider ha'be idh“, kfagt sie, „eine unüber-
windfiche SCheu vor dem Erleben meiner Ge-
danken.“

Ich brüfle vor Hohn- und Zorn.

„Ja, das sieht man“, sdhre-ie ich so, daß sich
afe Teufel uinsehen, „darum betätigst du didh so
eifrig ,in horizontafster RiChtung.“

„Das ist ja meine cwigc Straf-e“, sagt sie.

Ich lache:

„W-ofür denn? Du bist ja afs vierzehnjähriger
Badkfisch gestorbcn!“

Sie seufzt:

„Ach ja, mit vierzehn. Aber du kannst dir
nicht einhiaf Vorstellen, vvas man sich in dem Alter
an gedankfidhen Sünden leistet.“

Bildungsphilister

Von Hans Mayer

Spuk und Sparren

Das Sdhicksaf einer Theorie vollendet sich in
der Bewegung, die von ihrem Propheten zu ihrer
Karikatur führt. In ein menschfiches Gehirn schlägt
ein Bfitz, gestaltet di-e sdhwankenden Vorstellungen
zu einem Weftbild, einer Hypothese und beschreibt
iin Entwickfungsgang der Menschheit eine Spirale,
um grinsend und verzerrt wi-e aus eitiem gegen-
überfiegend-cn Spiegel auf ihr Urbild herab-
zusdhauen. Der sChöpferischen Lebentfülle Goethes,
der gutgefaunt ein geistlidh Lied parodiert „Ich !
hab’ mein Sach auf Nichts gesteflt“, antwortet Jahr-
zehnte später -ein friedlidher, durCh den Hegelianis-
mus spitzfindiger Dialcktik nidht abgeneigter Ober-
fehrer mit einem wohlkonstruierten, etwas knodhen-
dürren Gespenst, das mit rechtwinkfiger Geste auf
einen Berg zerschroteter Literatur weist: Ich hab‘
mein’ Sach’ auf Nichts gesteflt“.

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