Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 29 (September 1910)
DOI Artikel:
Strindberg, August: Schlafwandler, [2]
DOI Artikel:
Lasker-Schüler, Else: Künstler
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0234

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Seine letztcn Blicke waren nicht die eineS' Tieres,
so viel will ich sagen.

Ich habe im Jardin des Pfantes zu Paris mit
„Tieren BekanntsChaft“ geschiossen, während mei-
ner tägllichen BeSuche im Laufe eines Jahres. Der
Qrisly-Bär von Nordamerika, eines der stärksten
und wildesten Tiere, die es gibt, lernte mich auf
eine Art kennen, die iCh erfartd. Ich allein gab
ihm nämlich Kirschen, während ihm andere nur
Brotrinden reichten. Er setzte sich auf den Hintern
und sperrte das Maul auf, wenn ich kam ; ich konnte
ihn aus 1 seiner Höhle locken. Er wollte mir aber
nie in die Äugen sehen, sondern sChlbß sie, wenn
er das Maul aufsperrte. Ich hätte Geduld und kam
täglich wieder mit meinen Kirschen. Schließlich
wollte er wohl sehen, wer ih'm das höchste Qut in
seiner Qefangenschaft gab ; viefleicht eine Jugend-
erinnerung an die großen Berge im Westen weckte,
wo er in Freiheit und Bergluft rote Beeren gepflückt
hatte. Er versuchte zu mir hinaufzusehen; machte
aber gleiCh darauf eine Miene, als! häbe Cr sein
Geheimnis verraten. Und er wurde auf sich selber
böse wegen dieser Schwäche, nicht auf mich. Er
mußte eS! aber gleich darauf bereut häben, und be-
schloß, zu zeigen, wer er sei. Er setzte sich mit
dem Rücken gegen die Gefängnismauer, wie ein
König auf seinen Thron, machte eine Qebärde mit
den Ärmen, alS wollte er sich in seinen Krönungs-
mantel hüllen; aber er säh miCh nicht an, sondern
zeigte sich und sein Qeheimnis. Das war kein
Tier mehr; das ! Skefett machte menschliche Be-
wegungen unter dem verkleideten Pelz. Es 1 war
ein TierdeVa, ein König der Berge, eine Metempsy-
chose, vielleicht eine frühere menschliche Inkar-
nation in einem Tierkörper.

Die Neger sagen, daß die Affen sprechen kön-
nen; daß sie das aber geheim halten, denn sonst
würden Sie arbeiten müssen, und arbeiten ist die
Hölle für einen Neger. Das! glaubte ich nicht, bis
ich ein Buch läs, das die Leiter des Jardin d es
Plantes 1, Forscher von Linnees und Buffons großen
Zeiten herausgegeben haben. In diesem Buch, das
iCh bei einem Schiffbruch auf festem Land verlor,
Standen lange, geduldige Betrachtungen über die
Affen. Ich erinnere mich dunkel, wie sich 1 einer der
Gelehrten im Affenhaus verbbrgen hätte, um die
Affen bei ihren Oeheimnissen zu überrasChen. Ein
Weibchen-hatte eben ein Junges bekommen. Nun
wurde zuerst der offenkundige Vater hereingelassen
und ziemliCh kühl und überlegen von der stolzen
Mutter empfangen. Der verborgene Qelehrte be-
merkte, daß sich die Qatten erst umsahen, ob sie
jemand beobachtete. Als sie sich ällein glaubten,
begannen Sie „einander in den Mund zu sprechen“.
Das ist eine sonderbare Art, die nur Schauspieler
kennen, und die wahrscheiniich in einer improVi-
sierten triebhaften Labiahnethode besteht. Es waren
keine artikulierten Laute, sbndern die Bew^gungen
der Lippen wurden Von sprechenden Blicken be-
gleitet. Dem Vater wurde erlaubt, den Neugebore-
nen zu liebkosen; er mußte aber vorsichtig sein.
Darauf wurden Verwandte und Freunde in die
Wochenstube gelassen. Ein lautloses Schnattern,
Komplimentieren, Bewundem entstand. Niemand
aber durfte den Neugeborenen anrühren: wollte es
einer wohl, wurden die Zähne gezeigt, die zur
Labiafeprache gehören und nicht mißzuverstehen
sind.

Meine eigenen Beobachtungen, die ich später
als Epigone machte, veranlaßten mich zu dem ölau-
ben, hier seien Qeheimnisse vorhanden. Mit Teii'-
nahme und Freundlichkeit hatte ich mit einem alten
Orang Bekanntschaft geschlossen, der ja von allen
Vierfüßlern den Menschen am ähnlichsten ist. Er
hatte das Gesicht und den Blick eines vertrockneten
Greises. Etwas sehr Trauriges läg in ihm, nicht
über diie Gefangenschaft, denn er kannte nichts an-
deres, sondern der Schmerz, daß er solch ein Vieh
war. Er schien sich an etwas erinnern zu wollen,
yermochte es aber nicht; und das quälte ihn. Viel-
leicht suchte er ein verlornes Selbstbewußtsein wie-
derzufinden oder wol'lte sich aus einer Art cjuälenden
SchTafesl wecken. Ich sah diesen Ausdruck einmal
än einem Irrenhaus an Menschen, welche die Er-
innerung an Sich selber verl'oren haben.

Gibt es einen anderen Beweis für die Annahme
der Seelbnwanderung, als 1 ihn uns die Theosophen
jetzt aus der indischen Philbsophie führen, die uns
streng genommen nichts angehen dürfte ? Der gött-
liche Plato, dessen Weisheit auch von den christ-
lichen Kirchenvätern als ein Vorchristentum oder

offenbärte PhiloSbphie angeselien wurde, h"at aus-
führlich daS wichtige Problem von dem früheren
Dasein und der Seelenwanderung behandelt.

Iin „Timaios“ sagt er ohne Umschweife: nach-
dem die Männer entstanden waren, sind einige feige
und unlauter geworden; die wurden bei der zweiten
Qeburt währsCheinlich in Frauen verwändelt. Zur
selben Zeit schufen die Qötter die Liebe; von der
Ffüsüigkeit des Lebens drang ein Teil vom Kopf
hinunter durch das: Rückgrat als Mark. „Dieses
Mark ,ist beseelt“ und weckt lebengebende ße-
gierde. Darum sind die Organe der Liebe unge-
horsam und eigenmächtig. In der Qebärmutter
steckt ein „nach gebären verlängendes Wesen“, dem
übel zu Mut wird, wenn es eine lange Zeit ohne
Frucht bleibt. ES hemmt das Atmen, ruft Beklem-
mungen hervor und viele Krankheiten, und muß
deshalb befriedigt werden.

Aber wohlgemerkt: Der Trieb, Kinder zu ge-
bären, soll befriedigt werden, nicht der andere Trieb
(Astartetrieb), denn der kann nicht befriedigt wer-
den, der ist unersättlich. Und der Trieb zur Leibes-
frucht erzeugt das Bedürfnis jiach einer Behüusung,
in der das Kind geboren wird, und verlangt einen
Mann, der Essen schafft und das Haus beschützt!
Das ist die heilige Ehe!

Bei der zweiten Qeburt (Reinkarnation) wurden
einige zu Vögeln. DaS sind leichtsinnige, aber nicht
schlechte Männer gewesen, „die in ihrer. Einfalt
glaubten, die Erklärung überirdisCher Dinge ge-
schehen am sichersten durch die Beobachtungen
des Auges.“ (Positivisten, Materialisten und Jhres-
gleichen.)

Die vierfüßigen Tiere entstanden aus solthen
MensChen, die sich nicht mit Weisheit und Tugend
befaßten, sondern mit der Nase auf der Erde herum-
krochen.

Die FisChe sind die unvernünftigsten und un-
wissendsten MensChen gewesen; darum dürfen sie
nicht reine Luft atmen, sondern müssen schmutziges
Wasser sChlürfen.

Und sb weiter.

Weise Männer aller Völker haben an eine
zweite Qeburt gegfaubt, und das Christentum selber
bezieht sich darauf wie auf eine axiomatische Tat-
säche. Priester und Leviten fragen ja, ob Johannes
EliaS sei; und Christus wurde oft für einen von
den gewaltigen Propheten des Herrn gehalten, der
sich wieder verkörpert habe. Wir Christen hätten
Qrund, dieses Axiom als christlich aufzunehmen,
ohne darüber zu raisönieren. Dann würden wir
aufhören, unS gegen ein mitfeidloses, unerklärliches
Schicksal zu empören; wir würden Welten hinter
dem Grabe sehen, aber auch vor der Wiege. Wir
würden das Leben al's einen lehrreiChen Traum hin-
nehmen, auf unsere Sorgen pusten, ohne sie fort-
zublasen; ergeben unsere Seele und unser Leben
in die Hand GotteS' des Allmächtigen befehlen, denn
er wird atles wohlmachen. Und zwar ohne über
die Rätsel zu grübeln, die wir nicht wissen dürfen,
aber ahnen können.

Nach einer langen Abschweifung komme ich
jetzt zurück auf die Sache, die das Wesentliche war:
Schlafwandler, die nicht zum Selbstbewußtsein er-
wachen können. Ich habe dieses Mal das häßliche
Wort lügen vermieden und als Erklärung das Wort
dichten eingesetzt. Sich' selber belügen, hieße ja
niemalü zur Wahrheit kommen; nie erfahren, wie
sich etwas in Wirklichkeit verhält. Ich nehrne an,
der Wirklichkeit fehlt eigentlich volle Realität; sie
ist eine Spiegelung, die durcli eine rauhe materielle
Ftäche entstellt ist. Wie kann sie da erreichbar für
die Auffassung sein, besonders eines unfixierten
Wesens, das vielleicht aus Aethervibrationen zu-
sammengesetzt oder wie eine Glässcheibe ge-
schaffen ist, die spiegelt und die Strahlen durchläßt.
Die Wirktichkeit wird ja von einem durchsichtigen
Gegenstand nur zum Teil wiedergespiegelt; wer
aber dahintersteht, sieht überhaupt keine Spiege-
lüng. Mit anderen Worten, es' entsteht Total-
reflexion, die zuweilen die Qegenstände unsichtbar
macht.

Diese Schläfwandler, wie ich sie genannt habe,
würden alteo andere Augen als wir besitzen, ein
anderes Wesen ate wir; deshalb könnten sie weder
ein Bild auffassen, noch weniger, sich selber sehen.
Das käme entweder von einer feineren Konstitution,
die keine Verbindung mit dem Materiellen eingehen
kann, weil es; außerhalb ihrer Sphäre liegt; oder
von einem nicht entwickelten Auffassungsvermögen

bei der mäteriellen Unterlage der seelischen
Existenz.

Sollten sie denn höhere Wesen sein, und wäre
meine erste Hypothese unrichtig? Nein, die der
Pflanze gleichen, die lebt, atmet, sich ernährt, sich
fortpflänzt, immer schläft, ohne etwas wahrzu-
nehmen, die können keine höhere Form des Daseins
bedeuten. Schön ist die Hyazinthe, Vollendet, wenn
man sie anschaut; lieblich ist ihr Duft beim Ein-
atmen; vielleicht nimmt s;ie etwas wahr, das Schmerz
oder Freude gleicht; aber ohne 'Vernunft, ohne
Selbstbewußtsein, freien Willen, kann kein Seelen-
leben entstehen; und ohne Seele sein, heißt beinah
tot s'ein, wenigstens für uns lbbendige Menschen.

Hier stocke ich und sehe ein, daß das Problem
ohne Sinn und deshalb unlösbar ist; während eine
schöne Tatsadhe Westehen blfeibt; die Freude unci
Duft verbreitet, unwillkürlich wie 'ß.ie Blume, die
man nur küssen, mit der man aber nicht sprechen
kann; die man pflegt, umpflanzt; der man Sonne
und Luft gibt.

Ich habe mit gutem Willen das Wort lügen mit
dichten übersetzt, und ich bin damit dem großen
Qeheimnis ein wenig näher auf die Spur gekommen.
Lügen soll Schwäche in Willen und Verstand an-
deuten; Schwäche ist vorhanden; darum heißt es
auch richtig: Das schwache Qeschlecht.

Deutsch von Emil Schering

Kiinstler

Von Else Lasker-Schüler

Herr von Kudkuck sitzt immer auf dem ! Fenster-
sims und sChnappt mit seinem zugespitzten Mund
afle meine todtraurigen Worte auf, die sbnst im
Zimmer liegen blieben, und ich würde schließlich
in der UebersChwemmung von Todtrauer ertrinken.
AuCh sieht er so spaßig bei der Fütterung aus, ich
muß manchmal hell aüflachen. Mein Mann kann
von KuCkuck nicht ausstehn. „Er ist eine Beleidi-
gung neben dir.“ Aber idi muß immer einen Hof-
narren haben, das ! ist so ein uraltes erbübertragenesl
Qelüste! Er folgt mir überall hin. Auf dem Salzfaß
sitzt er in der KüChe, wenn ich am Herd stehe und
mit dem Quirl dem Feuer behilflich bin — ich meine
wegen des Weichwerdens der Erbsen. Ich trage
goldene Pantoffel, aber in meinen seidenen Strümp-
fen sind sChon LöCher. Herr von Kuckuck wird
merkwürdiig düster, immer wenn er auf dem Salz-
faß slitzt und meinem KoChen zusieht. Er erzählt
von Prinzessinnen, die in Qoldpantoffeln und
Seiidenstrüjnpfen kochen und scheuern müssen,
und siCh die Hände blütig reiben, und aber der
Himmel ihnen alle Sterne sühulde. Ich glaube, ich
bin im Anfang ausl einem goldenen Stern, aus einem
funkelnden Riesenpalast auf die schäbige Erde ge-
fallen — meine leuchtenden Blutstropfen können voi
Durst nicht ausblühen, sie verkümmern immer vor
dem Tage der PraCht, und mein Mann erzählte mir
dassel'be, und darum häben wir uns geheiratet.
„Wenn sich mein Budget besser gestaftet“, sagt
Herr von KuCkuCk, „sb braucht Prinzessin keine
Erbsen mehr kochen“. Er verspricht es feierlich;
zwei große Tropfen fallen aus seinen Augen, die
siind Kla, und die Feierlichkeit kleidet ihn so: eine
Burleske, die plötzlich auf geraden rabenschwarzen
Beinen steht. Ich rieche zu gern Ananas — ich
glaube, wenn ich mir täglich eine Ananas kaufen
könnte, ich würde die hervorragendste Dichterin
sein. Alles hängt von KuCkucks Budget ab. Mein
Mann, der wünscht sich gar nichts mehr, er denkt
morgens sChon heimlich an seine Zigarettc die er
im Bett rauchen wird. Die Lampe zuckt, es ist alles
so dünn im Zimmer. „Herein!“ Eine Erbse klbpft
an meinen Magen. Kteine BeinChen bekommen die
Erbsen und waCkel'n mit ihren dicken Wasserköpfen
— eine plumpst den Berg herunter. „Bist du aufge-
wacht?“ Mein Mann fragt und hebt den Zigarren-
becher vom Boden auf — dann streichelt seine
Ananashand mein OesiCht — die Finger tragen alle
Notenköpfe — sie singen — und immer, wenn das
hohe C kommt, sägt mein Arm über seine Brust und
seinen Leib, iCh nehme die Qedärme hervor — eine
Sühlängenbändigerin bin ich — dudelsack ladudel-
lüdelli liii...! Ich schiebe die Schlangen vorsichtig
wieder in Seinen Körper, die kteinste hat sich fest
um meinen Finger gesogen, aber sie ist die haupt-
säChlichste SChlange, sonst kann er keine indischen

228
 
Annotationen