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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 40 (Dezember 1910)
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Unger, Erich Walther: Vom Pathos: Die um George
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [8]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0322

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Vom Pathos

Die um George

Von Erich Unger

„Denken heißt, die Dinge einfacher nehmen,
als sie sind“, sagt Nietzsche in der „Fröhlichen|
Wissenschaft“, und wirklich — genau genommen
ist jede Einteilung, jeder Standpunkt, jede Betrach-
tungsweise, jede Perspektive eine Fälschung —
eine Unterschlagung an der ungeheuren Kompli-
ziertheit, dem enormen Durcheinander der Dinge,
das eigentlich alle jene Perspektiven auf einmal
für sich verlangt.

Dessen bin ich mir bewußt, wenn ich' etwas
zu einem Problem sagen will, das man „Mechanik
des Geistigen“ nennen könnte. Zwei Zustände desl
Denkens trenne ich, die sich, wie ich glaube, zn
psychologischen Gegensätzen gestalten, deren Trä-
ger sich für unabsehbare Zeiten gegenüber stehen.

Die Linie der geistigen Entwicklung stellt sich
dar als eine Reihe von Standpunkten und Reak-
tionen. Eine ganz bestimmte Art, zu den Dingen
zu stehlen, beherrsCht eine Zeit, in der Linse einesi
unersChütterlichen Grunddogmas sammeln sich für
sie die Strahlen der Welt, bis sich andere Generatio-
nen gegen diesen Aspekt empören und, ohhe in dem
Besitze eines anderen zu sein, in fiebernder Unrast
alle Möglichkeiten des Denkens probieren.

Diese Uebergangspartien sind die Bewegungs-
zustände des Denkens.

Im Gleichgewicht hät das denkende Subjekt eine
rdativ große Befriedigung seines Denktriebes er-
langt, es glaubt sich in den Besitz einer grundlegen-
den Wahrheit gekommen, einer Wahrheit, die nun-
mehr immer und iewig die Grundlage alles Forschens
abgeben müsse.

In diesen Zeiten beginnt das Denken nachzu-
lassen, wie jeder befriedigte Trieb, ausZusetzen und
beschäftigt sich nur damit, die Vielheit der unter-
geordneten Dinge in eine Beziehung zu der Grund-
wahrheit zu setzen, bemüht sich nur, die Farbe der
Grundwahrheit an allen Dingen aufleuchten zu
lassen. Die ganze geistige Bewegung ist ein
sChwaches Hin- und Herpendeln in dem durCh so
eine Grundwahrheit abgegrenzten Bezirk. Das ist
das Bild aller sogenannten „umfassenden Stand-
punkte“. Alles zum Beispiel, was Schopenhauer
und seine Anhänger berühren, zeigt seine ganze
hervorragende Qualifikation, Wille zu sein.

Tausendmal bunter als diese Stand- und Ruhe-
srtze des Geistes sind die ErsCheinungen, die das
Denken in der Bewegung erzeugt, in allen ober-
und unterirdischen Posen der Verzweiflung, in Wut
und Gelächter nach Vergewaltigung und Ueber-
legenheit über die Dinge dürstend.

Auch unseie Zeit, der dieser Augenblick an-
gehört, zeigt ein solches Antlitz. Zehntausend
Standpunkte, Ueberwindungen ,im ganzen Bezirk
des Geistigen.

Schwärme schattenhafter Fragen flattern durch
die Nächte der Zeit — eine lautlose Ungeduld liegt
wie drohendes Fieber unter dem Tag — ein ge-
heirnes Zittern durChrinnt die Luft von dem Ge-
töse hoffnungsloser Wallungen — und die Welt-
anschauungen stehen sicli sö gegenüber — wie
Schönheitsm ittel.

Mit einer rasenden Beklemmung starrt der
Intellekt — das Denken, dessen Natur es! ist, zu-
rückzuführen, in IBeziehung zu setzen, zu verein-
fachen — auf diese irrsinnverbreitende Vielheit.

Heftiger als je wird das krampfige Greifen
nach Ruhepunkten, nach einem festen Rhythmus,
nach einer Sicherheit und Bestimmtheit des Er-
lebens und Anschauens.

Ein Ruhepunkt ist: Stefan George.

Es gelang ihm ein Tempo zu erfinden, in
dessen Schwingungen das Bewußtstein, obwohl
es einheitlich bleiben und mit immer glei-
chem Pulsschlag auf die ErsCheinungen blicken
konnte, dennoch 1 eine größere Fülle von Emp-
findungsgebieten umspannen konnte als je zuvor.
Diese Fähigkeit des ZusammenbindenS so vieler und
vordem so wieit getrennter Dinge in eine, kom-
primiert in dem Tonfall einer Zelle, ergab die Höhe
seines Pathös. Er umspannte mehr.

*

* *

Eine Gruppe will ich von den Menschen tren-
nen, die die großartige Stille aufhorchen machte,
die durch die Erstarrung, die George über ein
wahnwitziges Chäos gtoß, eintrat:

Die Eine, die glaubte, Georges Erleben sei
„die“ Art, zu den Dingen zu stehen, die absolute.

Gegen diese richte ich mich.

Eine absolute Betrachtungsweise — also eine,
außer der es keine andere geben darf — müßte
entweder alle andern Perspektiven in sich ver-
schmelzen oder die, welche sich nicht vereinen
lassen, ausschließen, aufheben, vernichten.

Es ist nicht zu leugnen, daßi in d,er Musik
Georges ein Ton fehlt — ein Ton, aus dem ein
Ja zü dem hastigen, verzerrten, geschmacklos
sChreienden, sicb bizarr überbietenden Kräfte-Durch-
einander herausklingt, das als Hintergrund unserer
überaus wunderbaren Zeit erscheint. Die Ein-
druckslosigkeit, ins Immense getrieben, hät für uns
den Schein der Groteske angenommen — wir haben
inzwischen die ästhetischen Qualitäten deS phan-
tastischen Gemenges von Bewegungen sehen ge-
lernt, zu dessen Ueberwindung George gesandt war.

Daß Stefan George selbst kein Organ für die
Dämonie dieses Chaos hatte, kompensiert sich
durch die Intensität, mit der sein Blick auf Ent-
gegengesetztes gerichtet war. Aber dieses! Nicht-
wahrnehmen, dieses Nichtsehen einesl Aspekts zum
Prinzip zu machen, zur Moral zu erheben, einen
Mangel als Forderung proklamieren, eraChte jch
als verlogen imd lehne es ab.

Es begab sich' nämlich, daß; die Fehler Georges
sich' objektivierten und Menschen wurden. Als
solche aber gaben sie Jahrbücher heraus.

Ebenso wie ihnen die Macht eines ästhetischen
Ja zu dieser ehern-wirklichen, jagenden Monotonie
fehlte — und aller Blick für das Diesseitige, So-
Seiende ist naCh Nietzsche eine Frage der eigenen
Macht — steht es im innersten Zusämmenhang
damit, daß sie das fröhliche, tötende Gelächter,
mit dem das seiner eigenen Existenz GewjsSe die
Gegenkräfte vernichtet, nicht ertragen.

Ein widerlicheres Zeichen der Schwäche ist
nicht leicht zu denken.

„Würde“ proklamieren sie in ihren Jahrbüchem

— und wissen nicht, daß bewußt erstrebte Würde
ein psychologisches Monstrum ist.

Aber diese FurCht vor dem Gelächter ist niCht
nur das Symptom totaler Existenzunfähigkeit, es
ist das schlimmste Zeichen der inneren Verlogen-
heit, der Unanständigkeit vor sich selber.

Nietzsche hat uns dieses Kriterium des Wertes
im Zarathustra gegeben:

„Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist:
ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muß

— über euCh hinweg tanzen! Was liegt daran,
daß ihr mißrietet!

Wie vieles ist noch möglich! So lernt doch
über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen,
ihr guten Tänzer, höch! höher! Und vergeßt mir
auCh das gute Lachen nicht!

Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-
Krone: euCh, meinen Brüdern, werfe ich diese
Krone zu! Das Lachen sprach ich h'eilig ;ihr
höheren Menschen, 1ernt mir — lachen!“

Der um George darf niCht lachen. So leicht
„lacht er sich — tot“.

Denn das Gelächter ist darum ein Zeichen der
MaCht, die Wirklichkeit zu ertragen, wie sie ist,
weil es als unmittelbarste, unkorrumpiertesjte
Aeußemng unseres Bewußtseins' die vollkommenste,
redlichste Gleichgültigkeit gegen jede Perspektive
ausdrückt.

Zwischen jeder Auslegung des Geschehens, das
ist: zwischen jeder pathetischen Umspannung, die
das Denken selbst ist, und dem Aspekt des All-
tags klaffte bisher eine Lücke, ein Unüberbrück-
bares.

Unvermittelt standen sich Alltag und Pathos
gegenüber. Und jedes Pathos zerbraCh bisher an
der Gewalt des Alltags. Nur das Pathos, Idaä
diese Lücke ausfüllt, ist slo sicher vor dem Um-
fallen als alles Alltägliche.

Jedes andere ist verlogen.

Wir ersehnen ein Pathos, das dem Alltag eben-
bürtig ist.

Das Mysteriuin Jesu

Von Peter Hille

Aus dem Nachlass

Der Priester

Und erst, als der Sohnespflicht genügt war, uni
die Verantwortung Zeugnis zu geben vom Ewigeit,
das drei Jahre die Zeit durchschienen hatte, stark
in ihm ward, erst da fühlte er die leitende Wärme
des Hirten, nun erst wußte der Jüngling, der ver-
trauend und schmiegsam zum Höchsten hinauf-
gesehen hatte, bringend und tröstend liebessanft
sich zu neigen.

Und all sein Wort und Auge und Lippen und
Antlitzstille war warme Zärtiichkeit im göttlichen
Meister für den Herrn, war Werben und Lieben in
seinem Namen.

Der Seher

Und wie die Erde ermattete, seine Seele und
die Erinnerungen abblichen auf ihr, da rötete sich
sanft wie ein Kind, das erwachen will aus sonne-
gekrautem Schimmer, des Himmels blasse, weiten-
edle Wange.

Es kroch zusammen wie in den Schrein ge-
borgnes Gewand der Raum und die Zeit: der
Stundengeist für die Erde sah auf Gott, und Gottes
Lächeln strahlte und sie verklärte sich für das
seelengeschildete Auge des erglühenden Greises.
Und er sah das Licht, das die Erden alsi Schatten
umwog, sah und fühlte mit seinem flutstark auf-
steigendem Leben die holdgewaltigen Melodieen
weichfeurigen Glanzes. Das alles ist ein Genießen,
eine Gefühlstat, ein Schauen und geht bis ins
Reiriste — weit, ,weit bis tief ins Gottesherz, ins
Weltherz, wo Gott wohnt.

Ihn aber, den Gefährtenlosen, erreicht kein
Menschenauge, das wallende Licht aus stillen Tiefen
ist nur die Miene, die ihn kündet und die Regungen
seines Willens.

In der ruhenden Weltkraft kreist das Voll-
kommenvollendete, das Unendliche weiter erfassend
ohne Ende.

Und die Verklärten aller Erden verstehen ein-
ander und reden die höldduftleuchtende Sprachel
aller Seligen, die sanft wie streichelnde Hand die
Seelen rührt.

Hoch, jugendhoch schlägt sein starkes AlterS-
herz, das nun den größten Umfang erreichte, sieht
seinen Meister und Freund und erkennt aus |der
Gottheit ihn an der weichen, tiefen, rotdunkel durch-
glühenden Kraft der Liebe und des mensch-
gefärbten Leidens. Neben ihm, nur ein wenig voran
ins Menschliche, die Mutter, die Königin der Milde,
deren Fürbittseelenkraft starre, lange Läuterungs-
wege scbmilzt, denn die Gerechtigkeit ist
Güte, und Güte d i e Gerechtigkei t.

Nur Starkes, selbstlos, großtätig Starkes, groß-
tatig auch in stiller Seele, kann dem Weltgeist
zuWachsen, dem Himmelsall. Alles übrige läutert
die nagende, ungenügende, selbstgeliemmte Qual
der Selbstgehemmten, über die das helle Licht des
Bewußtseins die Fernen wirft, welche es noch zu
durchmessen hat, ehe zur Ruh es gelangt.

Der selbstentstandenen Hölle aber in sö einem
erniedrigten Geist ist alles übrige gleichgültig.

Aller Umstand, und sei er noch so selig, kann
nieht hinein in die unfertige, vemnstaltete Seele.
Die wirft alles Glück hinaus, solange ihr Zustand
nicht Iauter ist und alles äußerlich Gute annimmt
und es verklärt, das Lebensholde.

Keine Seele ist ewig unbrauchbar, denn sie ist
erneurungsfähig, und die BewCgung der Ewigkeit
unendlich.

Aber der Seelen Wert ist verschieden, und der
Weg nach dem Werte.

Und jede allandersgebildete Verklärtengestalt
leuchtet verschieden, und dieser Glanz ist ihr Glück:
sie wi!I, sie kann nicht anders sein. Ganz genau
ist so auch der Weg, ist er auch tief drunten, von
tief drunten nach oben.

Mißbrauch will Zuwachs, streng muß gefüllt
sein das Maß, aber schmelzende, stärkende Vor-
gänge drängen viel langsamen Weg in eine ge-
preßte brustbeklemmend herbvolle Honigstunde an-
genommener Gnade.

Das Schauen ermüdet, J-ohannes Augen sinken
zu. Sanft schläft der irdische Leib nach der Er;-

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