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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 52 (Februar 1911)
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Böök, Fredrik: Strindberg
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Pukl, Marie: Gedichte
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Rittner, Tadeusz: Rettungsaktion, [2]: Aus dem Tagebuch eines sehr gewöhnlichen jungen Menschen
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Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [12]: Ein Volksroman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0419

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nichts von germanischem Heroismus, von prometheischem
Zweikampf mit den Göttern. Sie hat einen dunklen,
uralten Zug von Unterwerfung unter rachsüchtige Mächte,
sie wird von Spuk und Drohung und Vergehungen um-
woben, und ihr Sinnbild ist die Iappländische Zauber-
trommel, in der Hexenkünste und Prophezeiungen
schlummern.

Durch ihren unerhörten Umfang und Reichtum,
durch ihre elementare Kraft erhebt sich Strindhergs
Dichtung zu den Höhen der grossen Kunst. Wenn
sie nie jene Erhabenheit und sublime Grösse erlangt
hat, die den höchsten menschlichen Lebensäusserungen
vorbehalten ist, so beruht dies auf den vulkanischen
Urgrund der Affekte, der die langsame und definitive
Synthese unmöglich macht. Strindbergs Kunst Iässt
sich nicht mit einem Baum vergleichen, der aus ge-
heimnisvollen Tiefen Nahrung saugt und sich, allen
Stürmen zum Trotz, langsam zum Himmel erhebt.
Besser könnte man sie mit dem Meer vergleichen,
blau und hell im Sonnenschein, aschgrau unter den
Fittichen des Orkans, mit unbekannten Fabeltieren in
der Tiefe, reich an Märchen und Zauber, an den
Strand donnernd, mit der Brandung schäumend, salzig
und erquickend, mit lächelnden Idyllen in den schim-
mernden Sunden zwischen den Schären, und tiefen,
unergründlichen Liedern, denen die Menschen mit Ent-
zücken und Grauen lauschen.

Gedichte

Von Marie Pukl
Versuchung

Wohin lauscht die Nacht?

Dem Dämmer nach,

Der in der Grases Kühle kroch ?

Sie lauscht nach uns!

Verwegene Hände langen
Leiselind aus Dunkeltiefen
Nach uns.

Verschleiern unsere wächterklugen Augen.

Da sinken blasse Grenzen
Und goldene Wellen brechen aus,

Die tänzelnd überufer schlagen
Dahinter saust die Flut-

Sie reisst an tönendem Gehäuse,
Krystallen singt die Luft,

Vom Föhn gepeitscht ....

Mütterlichkeit

Noch glänzt des Frührots Feuerschimmer
Auf dunstverhangenen Höhen,

Noch locken die blauen Blumen —

Und schon erklommener Mittagl
Sanftgeböschte Tiefen,

Und Hänge, drauf die Heerden grasen.
Wehre deine Zukunft ab,

Die bänglich Schritt und Tritt erwägtl
Du bist der Schatten deiner Tritte,

Es rankt an ihnen

Das neue Werden in die Welt.

Rettungsaktion

Aus dem Tagebuch eines sehr
gewöhnlichen jungen Menschen

Von Thaddaeus Rittner

Schluss

Wir sassen gestern beim Nachtmahl wie ge-
wöhnlich in folgender Ordnung: Oben sie, rechts
Kohler, links ich und unten der Bucklige und der Kassier.

Es gab Schweinsbraten mit Kraut, und dann brachte
man eine sehr schöne gelblichweisse Mehlspeise.

„Das gehört nicht zur Pension“, sagte der Kassier,
das ist sozusagen umsonst. Ihr könnt soviel nehmen,
als euch beliebt.“

Nach der Mehlspeise liess der Kassier eine Flasche
Wein holen.

„Anton!“ rief die Kassierin und wechselte Blicke
mit ihren Nachbarn.

„Wir trinken nicht,“ sagte sehr bestimmt Kohler.
„Schon gut,“ dachte ich „das kennen wir.“ Und
ich fühlte schon im Munde den süssen Geschmack
des Weins.

Aber der Wein wurde nicht geholt.

Der Kassier lächelte wie ein krankes |Kind. Dann
fuhr er das Mädchen an.

„Hören Sie nicht? Was heisst das?"

Das Mädchen schaute auf ihre Frau und zuckte
verlegen mit der Achsel.

Eine neue Ordnung? dachte ich ainangenehm ent-
täuscht — jeden Tag hatte man seinen Wein und

jetzt, auf einmal.

„Ich liebe ungemein Bourget,“ sagte die Kassierin.
Der Kassier lachte überlaut und scharf.

„Auroral Jetzt ist vom Wein die Rede.“

„Es gibt keinen Wein,“ flüsterte milde die Kassierin.
Da liess sich plötzlich der Bucklige hören:

„Und ich hätte grosse Lust darauf,“ sagte er ganz
deutlich.

Seine Stimme hatte etwas Herausforderndes, wie
bei brustkranken Fanatikern.

„Worauf?“ fragte Kohler indigniert.

„Auf Wein“, antwortete Knopf, so bestimmt, als
spiele er Karten und sagte „rekontra.“

„Es gibt keinen“, wiederholte Aurora.

Da stand der Kassier auf, ging zum Buckligen und
küsste ihn auf die Stirn.

Ich errötete vor Scham. Und es herrschte tiefes
Schweigen.

„J . . . ich liebe auch Bour . . . get,“ stotterte
Kohler.

Der Kassier ging auf sein Zimmer.

* *

*

Kohler ist überall. Er tut ungemein wichtig und
macht das ganze Haus unsicher. Er hat die Ge-
schäftigkeit eines Komiteemitgliedes am Tage des
grossen Volksfestes mit Feuerwerk und Tombola.

Er war auch bei mir.

„Ich ersuche Sie um ihr Ehrenwort, dass Sie dem
Kassier keinen Heller leihen.“

„Bitte sehr, nur möchte ich wissen . . . . “

„Die Sache ist die . . . . “

Die Sache ist die, dass es sich um die Existenz
einer armen unschuldigen Frau handelt. Abgesehen
davon, dass dem Kassier das Delirium tremens droht.
Bei Frau Aurora habe ein Beamter vorgesprochen und
ihr erklärt, der Kassier würde unbedingt seinen Posten
verlieren, falls er sich nicht baldigst das hässliche Laster
des Trinkens ahgewöhnt.“

Ich verstehe.

Frau Aurora und Kohler sind angeregt, ich möchte
sagen: feierlich gestimmt. Denn sie haben einen
Menschen vom Untergang zu retten. Sie sagen sich
sogar aus Zerstreutheit „du“ vor fremden Leuten. Sie
konfiszieren gemeinsam alle auffindsamen Flaschen, durch-
suchen alle Kleidungsstücke des Herrn Kassiers.

Kurz es ereignen sich Dinge. Man agiert eifrig.
Im ganzen Hause darf es nichts Alkoholisches und im
Besitze des Kassiers keinen Kreuzer geben.

. . . . Ich verstehe und bin selbst angeregt.

Die Frau Kassierin und Kohler rauschen gleichsam
mit den Flügeln, wie zwei Engel.

Der Bucklige sitzt im Salon, auf dem Sofa, lächelt
merkwürdig und denkt.

„Ja,“ sage ich zu Kohler, „der Bucklige leiht ihm
Geld.“

Kohler klopft mir beruhigend auf die Schulter.
„Knopf reist heute weg.“

„Ah ? I “

„Auf Ferien.“

.... „Ausgezeichnet.“

* *

♦ * '

Der Bucklige ist glücklich fort. Wir sind jetzt
sozusagen entre naus.

Der Herr Kassier geht gerade unten auf der
Strasse. Und ich schaue vom Fenster aus zu. Denn
das Mädchen, das eben in meinem Zimmer aufräumt,
machte mich darauf aufmerksam.

„Da geht unser Herr . . .“

Dann fügte sie hinzu:

„Aber . . . . er wackelt wieder.“

Unglaublich, er ging tatsächlich ein wenig unsicher.
Wiewohl er doch kein Geld bei sich haben konnte.

„Dies dauert nicht lange, beruhigte mich Kohler,“
jetzt gewährt man ihm noch Kredit . . . Aber dies

dauert nicht lange.“

.Nur die Abende sind jetzt langweilig.

Bei Tisch erzählt der Kassier mit Unlust Anekdoten.
Dabei schaut er zuweilen auf seine Frau und auf
Kohler, die sich aus Zerstreutheit „du“ sagen.

.Ich selbst sehne mich nach Wein.

Es ist zwei Uhr nachts und ich kann nicht schlafen.
Denn ich vertrage keinen Karbolgeruch.

Ich erlebte heute folgendes:

Am Abend — in meinem Zimmer war es schon
dunkel — kam zu mir der Kassier. Ich erhob mich
hastig.

„Leihe mir einen Fünfer,“ bat er leise.

Erst jetzt erkannte ich ihn.

„Eigentlich hättest du vorher anklopfen können,“
sagte ich aufgeregt.

„Entschuldige,“ flüsterte der Kassier.

„Zum Teufel,“ dachte ich, er sagt „entschuldige ? “
Und ich versuchte die Lampe anzuzünden.

„Lass es,“ hielt mich der Kassier zurück und ich
fühlte, dass seine Hände kalt waren.

Wir standen uns gegenüber, sein Gesicht
konnte ich bei der Finsternis nicht sehen.

„Ich kann dir nichts leihen,“ sagte ich.

„Nicht?“

„Ich habe mein Ehrenwort gegeben, dass ich dir
nichts leihe.“ Dann wollte ich wieder die Lampe an-
zünden. Aber er fasste mich wieder bei der Hand.

„Wozu? Lass eslll Mir ist so, als hätte ich ein
anderes Gesicht.“

„Was?“

„Nichts. Ein Scherz . . . . Ich wollte nur sagen,
dass es schwer gehen wird.“

„Was wird schwer gehen?“

„So zu leben .... Ohne alles.“

„Er ist nüchtern,“ dachte ich ängstlich.

Ich begann laut und natürlich zu sprechen.

„Hör mal, wie war das mit den beiden . . . .
Ungarn? Du weisst ja. Du hast einmal davon zu
erzählen begonnen, von den Ungarn, die gewettet

hatten.“

Er schwieg.

Ich wiederholte nervös:

„Dul . . . Hör mal! Wie war die Geschichte
von den . . . .?“

Ich dachte, er ist nüchtern. Und ich konnte nicht
länger aushalten.

„Willst du Wein ? “ fragte ich munter, zähneklappernd.
Und ich lief zu Tür.

„Warte hier,“ sagte ich schnell, „ich komme sofort
zurück! Willst du Wein? lch werde nachsehen, viel-
leicht finde ich welchen . . . Ich frage das Mädchen.“
Ich lief hinaus. Ich suchte im ganzen Hause nach
Aurora und Kohler.

Plötzlich bemerkte ich, dass ich nur immer die
Treppe hinauf und hinablief .... Ganz sinnlos.

Dann hörte ich Stimmen . . . Ich suche überall
herum und sie sind in meinem Zimmer.

.Wie im Traum.

lch kehre auf mein Zimmer zurück, denn ich höre
von dort die Stimmen.

Im Zimmer sind viele Menschen. Aurora, Kohler,
die Dienstboten.

Und überall Blut, Blut ....

Auf dem Boden liegt der Kassier. Er hat sich
mit meinem eigenen Rasiermesser ....

Es ist zwei Uhr nachts. Und der Leichnam ist
längst wo anders.

Aber ich kann trotzdem nicht schlafen.

Ich vertrage keinen Karbolgeruch.

Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman

Von Paul Scheerbart

XXXVII

Das unterseeische Ereignis

Die grünen Streifen verloren allmählich ihre grade
Form und zogen sich bald im Zickzack durch das

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