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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 37 (November 1910)
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Soyka, Otto: Schule
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Altenberg, Peter: Englische Tänzerinnen
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Walden, Herwarth: Die Woche
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Fixlein, Quintus: Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0301

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etwa vorhandene Gehässigkeiten des Lehrers ge-
schaffen wird, die sich hier weit harmldser manj-
festieren, als wenn sie bei der Note im Gegenstand
mitsprächen. Blbß der Name der Rubrik führt irre;
die Schufe maßt sich auch nur scheinbar eine
Ktassifikation über einen Gegenstand an, den einer
Prüfung auszusetzen ihr nicht gestattet ist.

Gerade der Punkt aber, in wefehem nichts er-
lässen werden kann, das ist die Arbeit des Schülers,
sind die Ansprüche an seine Leistung. Hier stellt
die Zeit ihre Forderungen, und sie treibt sie auch
später im praktischen Leben ein, ohne nach ider
Zahl der Unterrichtsstunden von einst zu fragen.
Ein gehirnldses Mitfeid, das gegen die Beschwerden
der Vorübung eifert, die Aufgabe selbst aber nidht
erlefehtern kann. Es ist unnötig, die Schar der
Geistesproletarier von heute noch ,um solche zu
vermehren, die im Reich des Geistes den Rang
von Profetariern haben. An welchem LehrfaCh die
Arbeitsfähigkeit des Schüfers entwickelt wird, ob
an alten oder neuen Sprachen, ist von geringer
Wichtigkeit, notwendig nur, daß sie geübt wird,
und heute: daß sie mehr geübt wird, denn je. Die
Entwicklhng will aber vor allem eine ernstere
L e h r z e i t, eine an Gefahren und Erlebnissen rei-
chere. Sie wird deshalb iweit eher auch eine an-
genehme sein. Die Forderungen, die für das tränen-
feuchte Schüferideal der Gegenwart erhoben wer-
den, widersprechen dieser Notwendigkeit. Per
Lehrer kann nicht „der Freund des Schüfers“ sein;
schon deshalb nicht, weil der begabtere Schüler
sich eine beliebige Freundschaft nicht aufzwingen
läßt. Der Lehrer kann nicht Individualitäten berück-
sichtigen, denn dem begabten Schüfer gegenüber
geht das vielleicht über seine Kräfte, und man könnte
es ihm audh nicht verdenken, wenn er sich ener-
gisch dagegen wehrte, seine Individualität zum
Ueberfluß von ungeschickten Händen betasten zu
lassen. Der Lehrer möge der Vertreter der Arbeit
sein und das allein. Sein Gebiet bleibe Wissen und
Verstand. Man braudht sidh nicht darum zu sorgen,
daß bei größerem Ernst und strengerer Sachl'ichkeit
die Poesie der Jugend zu kurz komme. Die läßt
sich künstlich nicht erzeugen, aber auch nicht ver-
bannen. Sie wohnt zwisdhen den Ereignissen und
nur die Langeweife tötet sie. Man verschone den
guten Sdhüler mit der Langeweile der Erleichte-
rungen. ! I ! I

Daß man von den Reformen, deren Notwendig-
keit fühlbar wird, in der Regel die Entbürdung zur
Verwirklic'hung ausersieht, wirkt seltsam. Die an-
deren Erfordernisse, die Separierung des DiszipKnar-
wesens, das Aufgeben der Sittenkontrolle, die grö-
ßere Sachlichkeit, das sind Rechte, die die Zejt
geltend madit; und an ihrer Stelle will man ein
Gesdhenk geben. Fast erscheint es wie eine Be-
stedhung. Als wolle man für den kleinen Mann des
Geistes den stets Bedürftigen, etwas tun, und siCh
dafür die Anhängersdiäft und das Zuwarten seiner
Freunde erkaufen.

Englische Tänzerinnen

Von Peter Altenberg:

Ich habe diesmal lange gewartet, um zu schrei-

ben. Ich wartete-auf meine Begeisterungen;

auf diese seltenen leidenschaftlichen, fast religiösen,
da sie einen wirklich momentan entrücken den tra-
gischen Unzulänglichkeiten des eigenen Verwörre-
nen und verfehlten Daseins und der Heimtücke des
ganzen uns umgebenden Lebens selbst! So wartete
ich und wartete ich, bis endlich die „RoCking girls“
kamen, vier englische Tanzsängerinnen, IBarfuß-
tänzerinnen. Lizzie und Esther sind das überhäupt
Vollkommenste an kindlicher Lieblichkeit, unermeß-
licher Natürlichkeit, Zartheit und Originalität! Der
Ausdruck ihres Antlitzes allein beweist es während
des Tanzes. Man wird gerührt, ergriffen, wie wenn
eigene geliebte Töchterchen Meisterleistungen voll-
brächten in irgend einer zarten Kunst! Man glaubt
gar nicht, daß es nur Tanz und Gesang sei, man
glaubt, das ganze zarte, mysteriöse Maeterlinckiesge
Leben dieser überzarten Seelen zu erleben, zu er-
träumen! Von der Pracht dieser Gazellenglieder
gar nicht zu sprechen! Sie tanzen in weißen ge-
stickten einfachen Kinderkleidern, ohne Silberflitter
und gestickten Seidenrosen, entsprechend gekleidet
nach ihrem kindlich-süßen Gebaren, nach einer Art,
die man nur in Gärten bei spielenden edlen Kindern

erblickt. Es sind zartadelige Geschöpfe, die jdie
groben Sinnen der meisten fast Haß und Abneigung
einflößen. Desto mehr sollten die Edelkultivierten
hinpilgern, um den einfachen Triumph des fast
Ueberzarten mitzuerleben mit ibren Augen, mit jhren
Seelen! Maeterlinck muß unter solchen Impressio-
nen seine Seelen-Königstöchter erdichtet haben!
Prinzessin LiZzie, Prinzessin Esther — — —

Casino de Paris / Wien

Die Woche

Der Klüngel

Karl Kraus und mit und nach ihm alle Ein-
siChtigen erhoffen die Entliterarisierung der Presse.
Denn nichts ist fürchterlicher, als wenn Journalisten
literarisch oder gar lyrisch werden. Die Aufgabe
der Presse, Nachrichten zu vcrmitteln, vermag sie
heute noch nicht zu lösen. In dem Prozeß einer
Wiener Dame gegen einen pathologischen Roman-
schmierer war eine einstweilige Verfügung er-
gangen, die die Verbreitung des die Dame schwer
beleidigenden BuChes bei einer hohen Geldstrafe
untersagte. Im ordentlichen Verfahren wUrde die
Verfügung wieder aufgehoben. Das stand in den
Zeitungen. Der Leser muß also annehmen, daß
die behaupteten Tatsachen, die diesen Beschluß her-
beiführten, sich später als unrichtig erwiesen. Wer
soll aus dieser Mitteilung entnehmen können, daß
die Aufhebung dieses Verbots der Verbreitung aus
f o rm a I - j u r i s tii s ch e n Gründen crfolgte. So
kann eine Tatsache durch sachliCh ungenaue Bericht-
erstattung entstellt werden. Das Berliner Tageblatt
leistete sich noch ein übriges, indem es von „zwei
bekannten Satirikern“ sprach, die sich gegenüber-
standen. Der „eine“, Arzt, der aus dem Berufsge-
heimnis literarische „Anregungen“ holt, ist der Ver-
fasser des gänzlic'h wertlosen Machwerkes, der
„andere“ ist der größte febende Schriftsteller in
deutscher Sprache, Karl Kraus. Das nennt das
Berliner Tageblatt „zwei bekannte Satiriker“. In
der Sache selbst reparierte es in einer zweiten Notiz
den Schäden, was anzuerkennen ist. Dennoch bleibt
besteben, daß auf der Redaktion einer großen
Tageszeitung der Name eines großen Schriftstellers
so wenig bekannt ist, daß man diesen Namen nicht
einmal richtig schreiben kann. Noch ungeheuer-
lichter, daß selbst der Verlag einer angeblich literari-
schen Zeitschrift (das Literarische Echo) von ihm
nichts weiß. Ihr Rechtsvertreter spricht von einem
Klüngel, der mit Karl Kraus ein Interesse an dem
Nichterscheinen des Machwerkes habe. Er trat als
Zeuge für die beleidigte Dame auf. Daß man ihn
in Deutschland nicht genügend kennt, ist nicht seine
Schuld. In Oesterreich herrscht er. Und wer seine
Schriften gelesen hät, wird niemals glauben, |daß
dieser Mann etwäs gegen ein Buteh unternehmen
wird, das ihn „satirisch behändelt“. Er ist zu klug,
um nicht zu wissen, daß er erst dadurch dem Buch
eine Bedeutung geben würde, die es an sich nie
besitzen k a n n. Recht humorig wirkt die Ansicht
des Retehtsvertreters von dem „interessierten
Klüngel“. Eine landesübliche Journalistenidee,
deren Uebernahme das Hirn dieses dreisten Juristen
kennzeichnet.

Diese Leute können sich eben eine Persön-
1 i c h k e i t nicht vorstellen. Alles muß immer in
Massen, Vereinen oder wenigstens Klüngeln auf-
treten. Es sei den Herren gesagt, jdaß Künstler
weder Masseninstinkte noch gemeinsame Interessen
besitzen. Woraus sich die Unmöglichkeit des
Klüngels ergibt. Diejenigen „Künstler“, die solche
Institute bilden, sind keine. Da sie sich unbewußt
der Biedeutungslosigkeit ihres „Iteh's“ bewußt sind,
treten sie stets herdenwteise auf, hälten fest und
treu zusammen und bescheinigen sich' gegenseitig
ihr Vorhändensein. Sie sind nicht monarchisch ge-
simnt die Hammtel. Sie wüfden jeden Ober-
oder Leithämmel unbarmherzig den Wölfen aus-
liefern, um das Recht zu erlangen, mit ihhen zu
heulen. Aber auch die ,Wölfe sind noch keine
Künstler, denn sie treten gleichfalls in Klüngeln auf.
Zoologie, für Juristen bearbeitet.

Arnold Schönberg

Aus Wien kommen nicht nur „Genies“. Arnold
Schönberg wird dort niaßlos überschätzt. Ein guter
Musiker, kein Künstler. (Ihm fehlt die Fähigkeit

des Gestaltens, er ist keine Persönlitehkeit, vielmehr
ein Homunculus aus Wagner, Mahler und Debussy.
Die Väter sind gliedhaft nachzuweisen. Mit
„Pelleas und Melisande“ hat seine Symphonie gar
nichts zu tun. Musik ohne Struktur, mahlerisches
Barock aufgekleistert.) Die Presse benahm sich
hilflos. Einige jubelten. Die nicht „verkennen“
wollen. Andere tobten über die „Disharmonien“.
Also üiber das Rei n musikalistehe, was bei Schön-
berg über dem Durchschnitt steht. Laien und „Be-
rufskritiker“ verwechseln stets Handwerk und
Kunst. (Schufen sogar „Kunst im Handwerk“.)
Ganz deutlich: Der vollkommene Handwerker wird
nie Künstler. Bei ilfm ist Manuelies, auch im Gei-
stigen, Voraussetzung. Kunst kann nicht „verstan-
den“ und erklärt werden. Wer sie nicht in sich
trägt, wird sie nie begreifen. Also: Hände weg!

Neues Schauspielhaus

Programm : Residenztheaterstücke, mit Literatur
versetzt. Bisson mit Psytehologie. Ernsthafte Ab-
handlungen in der Tagespresse. Die Fuldaianer
zischten Wegen ides glücklichen Ausgangs. Im Foyer
diskutierten Ganghofer und Oskar Blumenthal mit
Rudolf Lothar über das Wesen der Kunst. (Gute
Schauspieler: Ida Wiist, Gertrud Arnold und Erich
Ziegel.)

Der Literatur=Normalmensch

Herr Walter Turszinsky kann in Berlin seinem
gequälten qualvollen Gehirn nicht genügend Luft
machen, trotzdem er gewOhnt ist, mit dem Hute
in der Hand zu antichambrieren. Die Literatur
will ihn durchaus nicht empfangen. Selbst die
besten Beziehungen zu der Presse scheinen in
diesem Fall nichts zu nützen. In solcher Not wendet
man sich verzweif 1 ungsvol 1 nach Breslau. In dieser
literaturfreien Stadt hofft Herr Turszinsky wenig-
stens als Literatur-Normalmensch anerkannt zu wer-
den. Oder zum Mindesten seinen Aerger über die
bösen Berliner auszukramen, das einzig Echte, was
er zu verkaufen hät. Die Breslauer Zeitung nimmt
ihm die Ware gern und billig ab:

„Gründeutschland“, das auf den Blocksberöen der
Berliner Literaturcafes haust — mit langen Haaren,
schmutzigen Kragen, allezeit hohntriefend, Wenn ein
Literatur - Normalmensch ein bisschen Glück hat —
„Gründeutschland“ hat diesen Ludwig Fulda, Von dessen
neuestem im „Deutschen Theater“ gespielten Versstück
in drei Alrten „Herr und Diener“ mein Telegramm
bereits kurz gesprochen hat, längst zum alten Eisen
gelegt Das ist natürlich undankbar und böswillig zu-
gleich. Denn mehr als je lebt in diesem scharfsinnigen,
erkenntnisreichen Manne. . .

Mit dieser Meggendorferphantasie stellt sich
Herr Turszinsky die unzugängliche Literatur vor.
Er ahnt nicht, daß Alfred Kerr bereits vor zehn
Jahren dem geschäftigen Fulda die Tiir gewiesen
hat.

T r u s t

Umschau

Dauerbäder

Herr Rudolf Presber, der Lyriker, ist jmmer
noch sehr beliebt. Sinniger Humör. Liebe deutsche
Poesie. Individuelle Eigenart: lyrische Betonungen
durch Sperrdruck. Hier sechs Zeilen aus dem Ge-
dicht „Ein Wunsch“:

Zu deinem Munde blickt’ ich zag und scheu,

O lehr’ mich reden, was ich nie bereu!

In deine Augen schau dch, liebstes Weib —

O, daß ich würdig solchen Spiegels bleib!

Und diese H a n d — o, daß es Gott mir fügt,
Daß sie als letzte auf der Stirn mir liegt!

f

Herr Presber ist ausdauernd; er läßt soeben
wieder einen neuen Band erscheinen: S p ä n e. Der
Verlag empfiehlt die Späne mit diesen Worten: „Die
Lektüre der Presberschen Bücher gibt uns ein Wohl-
gefühl wi e bei einem B ade... Erlebnisse, wie
sie jeder hat, in jenem seltenen Litehte gesehen, das
nur von diesen wenigen ausstrahlt, die man die
Huinoristen nennt.“

DaS Wohlgefühl hängt zumeist von der Dauer
des Bades ab; man frage Herrn Heyermanns, den
Spezialistein für Dauerbäder. Er wird bestätigen,

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