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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 30 (September 1910)
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Laudon, R: Ehrlich-Hata 606
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Dehmel, Richard: Das Rätsel des Schönen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0242

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dalischen Einbruchsmanieren und verhüte, daß Un-
kundige in den rettungslbsen Wirrwarr medizini-
scher Journale, Bedenken und Erwartungen gestürzt
werden. Rüipsen Sie nieht so erheblich, iverehrter
Leser! Sie stehen nteht an, mit Ueberlegenheit ein-
zuwenden: „Von wegen und so. Die Zeiten sind
vorüber. Die Aerzte können mir ja sionst was vor-
reden.“ Was Sie kapieren, teurer Leser, süße
Leserin, weiß ich schon llängst. Was verstehen Sie
von Arsen? Ich erzähte Ihnen eine Qeschichte wie
eitel Schlagsahne und Sie lesen unentwegt Brat-
wurst. Idi weiß, daß Sie, die ich „teurer Leser
und süße Leserin“ zu nennen mich gemüßigt fühte,
trotz aller Dinge, die teh Ihnen vorhalten könnte,
doch stets dieselbe und Ihrer Meinung blieben,
wetehe gar keine ist. Ich kann Ihnen das hellste
reinste Quellwasser übergießen, und Sie sind mit
angeborenem Schmälz eingefettet, und alles fließt
von Ihnen ab. Es fällt keinem ein, Sie zu belehren,
nicht einmal den Zeitungen — denen es auch schwer
werden sollte —, sondern man sagt Ihnen: „Hier
ist Bildung“, und gibt Ihnen Kientopp. Sie merken
den Unterschied gar nicht. Verzeihen Sie, daß ich
so grob wurde, aber Sie beliebten zu rülpsen. Da-
gegen habe teh vomieret, denn ich bin an Ihnen
sehr satt, mein Herr, teurer Leser, süße Dame,
Herrin und Qärungserregerin meines Magens. —

In der Tat, bei aller Schätzung des herauf-
kommenden I'iberal-roten Regiments und in Er-
wartung, den Zukunftsjakobinern zu verfallen, muß
man die entschiedenste Skepsis gegen Volksbeleh-
rung und jenen Aufkliäricht äußern, der jetzt fuß-
hoch auf den Straßen liegt. Was die linken Parteien
Gutes leisten in der Zurückdrängung eines über-
lebten Kastenregiments, machen sie wett in der
Züchtung einer erbärmltehen gottlosen Mittelmäßig-
keit von Mensch. Man schaue in diesen Zeiten
des Empordrängens auf die abenteuerlfche geistige
Sterilität in DeutsChland; man überblicke das Re-
sul'tat der Massenbelehrung, überblicke den Durch-
schnitt unserer belletristischen Literatur, fliege durch
die Zeitschriften, (Und vornehmlich, sehe unsere
Theaterezttef durch; — denn ein ernsthaft gemeinter
Theaterbesuch bedeutet für mich versuchten Selbst-
mord, kann ich keinem zumuten; ein Theatergenuß
ist so unwahrscheinlich wie das große Los. Wo ist

i** 1 Ui lovimu; v»-uui Diuuain.! OUlW aUisimi

wird produziert, und noch schfimmer, konsumiert!
Dies in {den gehobenen Qeseflschaftskreisen; die
mittleren und iniedrigen, das Qros der Bourgeois
und Proletarier, strebt nach denselben Idealen, und
begnügt siteh (vorfäufig, aus Mangel an Qeld, mit
abgestandener Kfassizität. Besserer Jahrmarkt, Sen-
sation, Kientopp, der Rest Staub. Im geistigen refi-
giösen Leben herrscht die fadeste rationafistische
Aufgekfärtheit und fordert das GeläChter eines jeden
heraus, der Religiosität kennt. Es wäre ganz ent-
setzlich, ,wenn (diese Armseligkeit von Qefühl in
der Tat den Namen „WeftChristentum“ verdiente.
Und es wäre zu bedauern, wenn sie, die rnoder-
nistische, micht die Nasenstüber und Zurechtweisun-
gen erführe, die man ihr sio tausendfach gönnt.
Machtsi nur kein Geschrei mit „Beschränkung Üer
Geistesfreiheit, Gewissenszvvang“; bei EuCh kommt
Qeist immer auf Redenhafteu und BüCherschreiben
hinaus; Euch schadet der Maulkorb gar nichts.
Und die, die Freiheit gebrauchen und ohne sie
nicht leben können, haben Euch den Teufel anzu-
gehen; die kennt Ihr nicht, die pfeifen auf Euch,
und haben $ich auch zu aflen Zeiten, trotz aller
Enzykliken und trotz Euch, genau sö viel Freiheit
und noch zwei Meter mehr genommen afs sie
brauchten. Luther hat aber Euch die Mittefperson
abgenommen, Ihr braucht nicht mehr im Himmel'
zu antichambrieren, Ihr seid sehr dicht dran. Das
fehlte Euch noch, daß Ihr jetzt von der Presse, dem
zweiten Luther, in das Qeheimzimmer der Wissen-
sChaft und Medizin geführt werdet. Qott ist all-
gütig ;und hat siCh Eure Zudrimglichkeit gefallen
l’assen. Die Wissenschaften sind besser und mensch-
licher gegen Euch gesChützt, teures profanum
vulgus! Kommt Ihr heran, so gehts EuCh schlecht,
und es regnet sehr wenig gute Gewitter. Eure
Freiheit jn 'die Qosse! Bteibt mir zu Hause |mit
Eurem Hata 606, und wenn esi tausendsechs wäre,
sö hüffe es mir doch nichts, ich ginge zu meinem
Arzt und fragte ihn. Verdammte Profanierung der
Wissenschaft, verdammte Qroßzucht des Hafb-
wislsens, der Pfuscherei, der Hypoöhiondrie. Ver-
bifdung statt Bildung. Qeht vielmehr hin, haltet
Euer ungewaschenes Mundwerk, verstopft Eure

Ohren mit Pech, kniet nieder, betet an, betet an!
Schweigt andachtsvofl! Werde wieder zu dem Kind,
das du bist, so wifl iöh didi lieben, süßer Mob!

Das Rätsei des Schönen

Kritischer Streifzug von Richard Dehmel

„Das Rätsel des SChönen“ ist bekanntlich immer
noch nicht gelöst, und einem armen Mann |wie
Hamtet maCht es darum wirklich Freude, daß die
Qelehrten siCh noch immer die Köpfe darüber zer-
breChen. Diesmaf freute ich mich ganz besonders,
denn das Opus, das mir unter jenem rätselvollen
Obertitef eine „Studie über die Prinzipien der
Aesthetik“ verhieß, war nicht zu dick, und neben
dem Verfassernamen — er tut hier nichts zur Sache

— stand die Bemerkung: DoCtor Philösophiae,
Assistent am physikalisChen Institut der Universi-
tät. Da gab eS afso hoffentlidh etwas „Exäktes“.

Meine Hoffnung wuchs durCh die Vorrede.
Zwar schwor sich der Herr Doktor auf die Systeme
von Kant und Spencer ein, und fühlte sich ge-
drungen, auc'h slonst noch „vief Bekanntes“ vorzu-
tragen, aus Aristoteles, Lessing, Schiller, Fechner,
Helmholtz und so weiter. Aber es ist ja stets ier-
freufich, gute Bekannte zu begrüßen, und obendrein
verhieß der Herr Verfasser doch sehr viel Eigenes,
zum Beispief eine „tiefgehende Unterscheidung“ im
Bereich der Assoziationen, eine „neue Einteifung
der Künste“ und ein „Fundamentafgesetz“ über
die Verbindung mehrerer Künste zu einer Gesamt-
wirkung. Und dasl afles nur zu dem Zweck: „die
Künstter, Kritiker und Kunstliebhaber zu weiterem,
eigenem NaChdenken anzuregen, gteichgültig, pb
in zustimmendem oder widerspreChendem Sinne.“
Wirklich höchst erfreulich.

Das BuCh regte mich in der Tat zu eigenem
NaChdenken an — über seine Einteitung. Sie ist
geradezu mustergültig für die Kunstgelahrtheit
unserer Zeit, und viefleicht sogar aller Zeiten.

Da wird zunächst der metaphysischen Speku-
lation heimgeleuchtet, mit ihren „allumfassenden
Theorien“, ihren „weitgreifenden Hypothesen“. Die
seien nur „dogmatisch formuliert, ohne das Be-
vvußisx,;.! n..c. jw'iiiKtiiiiciiKeit;" settr ricntig! tin
HauptkennzeiChen ihrer Methode, insbesondere auch
in Diingen der Aesthetik, Sei d|ie „unbereChtigte Tren-
nung von zusammengehörenden Begriffen und Er-
sdieinungen;“ abermafs sehr richtig! Schelling,
Hegef, Vischer werden kaltgestellt; sehr tüchtig!
Sefbst Qoethe wird als Metaphysiker entlarvt; aber-
mal$ sehr tüchtig! Nur Schopenhauer wird um-
gangen; sehr vorsichtig!

Jene Aesthetiker aften SChlages hätten in dem
Wahn gelebt, ein Kunstwerk könne, ja müsse ge-
söndert von seiner Wirkung auf den Qenießenden
betraChtet und erforscht werden; die Kunst sei in
und an sich selbst i'ollkommen, wie die Natur,
die Wirkung nach außen sei nur etwas Zufälliges.
Qanz anders die (Verzeihung, deutsCher Leser, das
Wort ist niCht von mir) „positivistisChe“ Wissen-
schaft. Sie weiß, daß eine Betrachtung gesondert
vom Betrachter unmögfich jst, und daß wir über
ein natürliches Ding, also auch über ein Kunstwerk,
im Orunde stets nur aussagen können, wie es auf
und in uns wirkt, nicht was es an und für sich ist.
Demnach sei auch die Erforschung des „Schönen“

— das Wort ist stammVerwandt mit „schäuen“ —
ohne Voraussetzung eines Zuschauers unbewußte
Selbsttäuschung.

Und nun überfäflt unsl der positivistisChe Herr
Doktor imit fofgenden Sätzen: „Unter dem ZusClhauer
ist zu Verstehen ein DurChschnittsmensch, be-
gabt mit normaten Geisteskräften und der einer
bestimmten Epoche eigentümlichen Bildung; es
gibt vie Ie solche, und an sie wendet steh
der Künstler (siC!) mit seinen Schöpfungen. Die
für ein Kunstwerk charakteristische Wirkung auf
dieSen Normafzuschauer tritt mit Notwendig-
keit ein; sie ist bei aflen Zuschauern die
g le iCh e.“ Ich habe nichts 1 äm Wortläut geändert;
nur die Sperrungen sind von mir.

Hand aufs Herz, Herr Doktor, Philösoph und
Physiker: ist Idieser Ihr Nonmafzuschauer niCht
„dogmatisCh formufiert“ ? Ist er gar vielleicht ein
Abkömmfing der Schopenhauerschen Einbildung
vom genialen Normalmenschen? Bloß: Schopen-
hauer hatte das „Bewußtsein ihrer Wiflkürlichkeit“
und das scheinen Sie nicht zu haben.

Oder sollten Sie sich wirklich unter Ihrem
Durchschnittsmenschen, da Sie doch behaupten, daß
es „viete solche“ gibt, den großen Haufen der so-
genannten Gebifdeten mit ihretn sogenannten ge-
sunden Menschenverstand vorstellen? Glauben Sie
tatsächlich, daß es einen Menschen mit „normalen
Qeisteskräften“ gibt, üer die ganze „seiner EpoChe
eigentümltehe“ Bildung besäße, sie überhaupt sich
anzueignen vermöChte? Nein, Herr Doktor, sol-
Chen DurChschnittsmenschen hat es nie gegeben,
söfche Geisteskräfte waren stets sehr unnormal.

Oder stellen Sie sich etwa unter der eigentüm-
lfchen Bildung einer bestimmten Epoche ganz etwas
anderes vor als ich? Etwa gar die jämmerliche
Zweifünftelbildung, die dem Normalzuschauer un-
serer .Epoche eigentümfich ist? Und an diese
„Viefen“ — VielzuVielen, slagt NietzsChe — vvende
siCh der Künstfer mit seinen Schöpfungen ?? Sie
scheinen nette Begriffe vom Küinstter zu haben.

Aber ich vvifl christlich sein; vielleicht hat sich
der „tiefgehende“ Herr nur oberfläChlich aus-
gedrückt. Vielleicht hat er nur sagen wollen, auf
diese Viefen NormalzusChauer wirke der Künstler
mit seinern Werk, und die Art dieser Wirkung
kennzeichne das Werk, weif — so meint der Herr
Doktor weiter — die dem Kunstwerk eigentüm-
fiche Wirkung bei „allen“ NormafzusChauern „mit
Notvvendigkeit die gleiche“ sei. Meinen Sie das
positiv, Herr Positivist? Nun, dann freitich müssen
Sie den Künstler, der siCh mit seiner Schöpfung
nicht an die Vielten wendet, obwohl er eine Wirkung
(nac'h dem Qesetz der Krafterhaltung) auf die ganze
Welt ausübt, für einen kompletten Narren halten.
Solange Sie aber einem solchen Künstler nicht min-
destens zwei ganz bestimmte MensChen zu präsen-
tieren vermögen, auf die ein ganz bestimmtes
Kunstwerk ganz bestimmt gleiChartig wirkt: so-
lange wifd er Ihren NormalzusChäuer bestenfalls
für eine jener „weitgreifenden Hypothesen“ halten,
die Sie den Metaphysikern aufs Konto setzen.

Sie müssen nun nicht etwa gfauben, ich hätte
selber metaphysische AbsiChten. Die habe ich
unter Umständen freilich, aber nicht in Sachen der
Wissenschaft; die Methaphysik ist Sache des reli-
giösen Erkennens und mehr noch viefleicht des
poetischen Denkens. Ich bin durchaus mit Ilinen
cinvcrstande.., daß im SiJlPe der Wissenschaft kcinc
Naturkraft, also auch keine menschliche Schaffens-
kraft, anders als aus ihren Wirkungen erkennbar
ist. Sie soflten daraus nur die richtigen Schlüsse
ziehen.

Ateo mit dem NormalzusChauer ist es nichts;
er kommt nicht vor in der Natur. Jedwedes Kunst-
werk vvirkt, wie jede Naturerscheinung, jedes
menschfiche Erzeugnis, auf jeden Einzelnen ver-
schieden, je nach dessen Sinnlichkeit, Qemüts- und
Qeistesbildung, ja sogar nach seiner augenblick-
lichen Stimmung, seiner örtlichen Umgebung, sei-
nem wirtschaftlfchen Zustand und so weiter. Dies
ist niCht bfoß — wie der Herr Doktor uns später
einreden wifl — „zum Teil“ der Fall, sondern in
jeder Beziehung, auch vvas die sogenannte Bifd-
lichkeit (Anschaulichkeit) des Kunstwerks betrifft.
Denn auCh diese ist nfcht „unabhängig von dem ge-
nießenden Subjekt“, so vvenig wie es „Bewegungen
von Aetherteifchen“ gibt, „wenn jedeB empfindende
Auge fortgedacht wird“ (oh, oh, Herr PhilbSbph) —
sondern ein Kunstwerk ist nur insoweit anschaulich,
ate es unmittelbar die Sinne reizt; Sinne aber ohne
ein „Subjekt“ und Subjekte ohne „slubjektive Sinn-
lichkeit“ sind nur für den Metaphysiker denkbar.
Wenn jedes empfindende Auge weggedacht wird,
dann gibt es höchstens noch aflerlei Kraftstoff, oder
eigentlfch bloß noch die WeltmaSSe x; und ob die
bewegt oder unbewegt, teifbar oder unteilbar,
ätherisCh oder fäkalisch ist, dafür fehlt dann eben
jede Empfindung.

Daß es „anerkannte“ Kunstvverke gibt, ändert
daran nicht das geringste. Denn auch diese wirken,
selbst auf anerkannte „Kenner“, höchst verschieden;
und mancher Kenner häft manch anerkanntes Kunst-
werk überhaupt nicht für ein sofches, sondern flür
ein Machwerk. Und wie kommt die Anerkennung
zustande? Nicht dadurch, daß ein großer Haufe
von Normafzuschauern eine Wirkung bejubelt, die
bei allen sofort die gleiche ist; solche Wirkungen
pftegt nur die Afterkunst zu erzielen. Sondern ein
sehr kleines Häuflein, teils von außeror'dentlich
gebifdeten, teils von ungewöhnlich veranlagten
Leuten, nämlich Leuten, die ein anerworbenes Ver-
ständnis oder angeborenen Qeschmack für Kunst

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