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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 39 (November 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [7]
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Lichtenstein, Alfred: Fern
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Lasker-Schüler, Else: Handschrift
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0315

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Was mein ist, ist dein.

Die keinen Mammon mehr kennen, sie haben
etwas köstlicheres. Die Tempelpforte war eine
Pforte zum Vorhof des Himmels. Und alles war-
tete wie einst auf den Heiland nun auf die Jünger.
Die göttliche Heilkraft ihres Meisters ist auf sie
übergegangen — vererbt, und lindert und mindert
das Elend.

Die Mutter hatte wieder einen Sohn.

Pflege, Erinnerung an den gemeinsamen Lieben,
den Oöttlichen und Qebet waren die Tröster und
Vereiniger, die Bildner der neuen Sohnschaft.

Schon begann des Geopferten Saat ergiebig
ZU gedeihen.

Das trostsame Werk seiner Lehre vom Vater,
den Kindespflichten der Menschheit mehrte sich,
wuchs vom Blut der Verbreiter. Wie ein Garten
blüht es.

Vom Schlichten ging die Gnade schon auf den
Lastermüden, der engeselige Glaube Israels warf
seine Satzung ab zugunsten der Heiden.

Das Geisteswesen aber, das damals sich öffnete
die Kirche wird ewig dauern und siegen, und,
immer geistiger gevvorden, die Erde zur Vollendung
führen und seine ganze Seelenwelt zu Gott.

Sie ist jmmer offen, nur unser geschlossener
Sinn sieht sie nicht.

So ein starker, blauer Tag, da ging noch im
ersten zarten Genesungsweh von der qualzermal-
menden Zeit der sanfte Jünger mit der alternden
Mutter, um der Base Elisabeth, die sterbenskrank
die begnadete Base entboten hatte, Beistand in der
letzten Seelenbereitung zu leisten.

AIs sie vor das Tor kamen, wö die weißen
Mauern scharf in den lautern Himmel schnitten,
da erwartete sie eine bunte Menge und erregte
Spannung.

Und sie sahen ein edles Antlitz bluten, ein
Weißes Gevvand durchtränkt, und wilde Steine
flogen noch heftig.

Johannes wollte hinzutreten, Maria aber sprach :

„Laß ihm seine Ruhe! Sieh, wie er lächelt!
Und die Rosen, die linde ihn treffen, sie blühen
duftweicher auf im bosheitslosen Lichtreich meines
Kindes Jesus.“

Paulus

Durchbrochen waren die Schranken des Leibes
und der Völker, Furcht und die Lebensschwere
der Bequemlichkeit schwanden wie Nebel vor der
Gnadensonne glanzweich zündendem Strahl. Es
war offen der Himmel und aufgerissen die Erde
Die Männer des engsten Stammes, der auch im
eigenen Volk .noch Scheidungen errichtete, aber dodh'
später jahrtausendelang ein alle Zersprengungen
über den ganzen Erdball einendes Familiengefühl
sich zü bewahren wußte, die zogen jns Weite,
um die Menschen aller Länder zu laden. Sie gaben
auf all ihr Unterscheidendes, Trennendes, das Ver-
pflichtende bisheriger Satzung, um nur den neuen
Brüdern vom Ueberreich 1 nicht zuviel Beschwer zu
bieten: aus den Jüngern wurden Lehrer, Sendboten.
Aus Todesfurcht und Schwäche sproßte Mut Und
Eifer des Bekenntnisses. Der rauhe Kelch der
schroffen Bergreligion öffnete sich und zu Tage
lag nun zuerst das große, reine, duftigfrische Welt-
gottestum.

Mächtig ging um der Geist, die Steine wurden
Rosen, eh sie den schmerzenverklärten Diakon
Stepbanus berührten.

Verachtend sah man damals nieder auf das
bißchen Sinnesgerümpel, was hatte es für Wert,
Wsenn nicht zum Dienste des Höchsten!

Dies Bewußtsein war es, das aus den Verkün-
dungen sprach und gewaltig traf, Liebe weckte
UHd starken Haß.

Aber auch dort, wo nur Irrtum war, nicht
Verhartung und Verdidkung der Seele, fiel die Offen-
barung, ein blendendes Geistgewitter auch in den
etaunendzerrissenen Sinn der rednen Verfolger.

Hariä Himmelfahrt

Und sie lebten zusammen Erinnerung und Vor-
berertung auf das Bereitete, die Mutter mit heilig
Heldentum gewordenem Schimerz, ehrfürchtiger
Sehnsucht voll nach dem Kinde, dem Sohne, der
yerklärt ihr Gott und Herr und Richter geworden
war.

Und da die Erdenschicht der Himmelsmutter
vo« den abtragenden Tagen ganz hinabgeholt war
m d&s Reidr, das nichts wird: die Vergangenheit,

die nur in Träumen, in nachgeborenen Sinnen steht,
stand Engeljubel auf der Wacht vor der festlich
zarten Luft her bis hinauf zum heiligkeitverborgenen
Kraftlichturquell. Wie ein Kranz legten sich kind-
liche Fittige um des Gewandes lichtweichen Saum.
Kindheitswichtige Wangen, lang vor Purpurlast,
legten sich seitlich und lehnten still bewundernd
sich auf. Und nun ging es empor.

Es lockten und holten und hoben die stark-
hölden Klänge höher und höher durch die blau-
silberne Luft.

Und es ergoß sich ein grüßendes Licht in ge-
waltigen Garben: die Krone des Himmels.

Die der Verklärung zuschwebendc Heilige
fühlte es, das duftende Licht sang wunderhold,
aber noch verstand die Erdentlassene nicht diesen
sinnreichen Sang.

Knabentraute Blicke, ehrerbietig sohnhaft grü-
ßende Blicke halberwachsener Engel gestalteten
Ehrfurcht; Ehrfurcht auch sprach der Ernst des
sehnigen Leibes, die feste Anmut gedeihender Glie-
der. Hier sprach und diente der Strählenleib. Aus
den Engeljünglingen aber sprühte erkennende Vor-
ahnung. Blitzende Harmonien wehrhafter Engel.

Nun jubelt schon wie einholend hernieder in
den lichtstarkweichen holdgewaltigen Reigen des
Lichtes der Seligkeit All.

Und immer näher wuchsen ihr entgegen (die
Arme des Hiinmels, und in ehrendem Jubel trat
er aus seiner Pforte.

Und vor ihr stand wieder in seinem Strahlen-
geschwinge der Verkünder Gabriel:

„Königin des Himmels, sei gegrüßt!“

Dann faßte er ihre ergebene, frommsch'male,
sich fügende Hand und führte die frommvorsich-
tige Mutter der Heiligen ein in die Halle der Seelen.

Lieblichste Zarthejt der Töne keimt auf |und
empor zu begeistert erschwungenen Blüten der
Freude.

Jauchzend, wie eine Palme, wie ein Baum der
Melodie, stand und starb in Höhe die Feier des
singenden Himmels.

Blässe bezog noch einmal die Wangen.

Sie ruhete erst, ihre Augen schlossen sich, und
ihre erdgewohnten Sinne sammelten sich für die
Ewigkeit.

Nun stand sie im Schäum der Enget und lebte
den Himmel und die stillen Jubelwonnen erhabener
Macht.

Sie lebte sich 1 ejns tait allen und sie sah Und
fühlte das tiefrote Leidensverklärungsfeuer, das aus
der Gottheit kam.

Und zitternd sank sie nieder.

„Jesus, mein Sohn, mein Heiland, mein Gott!“

Dann aber erhOb sie ihr Antlitz, ihre Arme
wuchsen schräg und verlangend:

„Mein Kind!“

Sein schulterschöner Leib, der nur noch jdie
Schönheit des Leidens Weist, in Perlmutterweiche
durchgeistigt, flimmert nun; da er sich vorbeugt,
wachsen wie Trauben die tiefrotklaren Tropfen der
Herzenswunde und kommen reichlicher über den
lippenleuchtenden Rand.

Maria schrie auf, aber die klare Glut des men-
schenfeierlich gütig zarten Auges sagte ihr, daß
nur Freude das Blut trieb und die stärker flutende
Gnade: Gotteswonne.

Dann fühlte sie seine edellautere, jährot durch-
leuchtete Wundmalhand tief in ihrer durchsichtigen
Seele und sie hielt still, als pich der Reif der
Gnadenmacht auf ihrem Haupt rückte, der weiche,
wie duftiger Kranz kühlend belebende Reif. Und
sein von Güte wie Schwermut überlastet geneigtes
Wort klang: „Mutter, Königin des Himmels, der
Gnade und der Milde, meben mir soll dein Platz
sein und nah mein Ohr deiner Fürbitte Mund.“

Da fühlte sie die tiefe Weihe in ihrer Würde
und freute ihrer milden Macht sich imd freute sich 1
in Gott, daß das Wort Fleisch geworden war, in
ihr und allen Menschen der Vollendung zu wohnen.

Nie hatte sie vordem gedacht, daß sie eine
Krone zu tragen vermöchte, doch die war Gnade
nur und Zeichen der Gnade, und so trug sie ganz
das Wahrzeichen weiblicher Hilfe, trug es zur Ret-
tung, zu Macht und Frommen der Bedrängten.

Und ihre Redite trug als Herrscherzeichen die
Lilie.

Um ihrer Ruhe Füße aber kauerten, lebendig
trauter Schmuck, die Enget.

Und wieder keimt es tief auf, wird starker Ton
und geht noch eimmal über in die brausenden Jubel-
blumen, himmeldurchwogenden Willkommens.

Wie müde schloß noch einmal die so Emp-
fangene die Augen: noch empfand sie das lauter
zu höchst verklärt Gewandelte wie in scharfem
Rausch.

Und froh schon schwankte ihre Seele, die fest-
lich bleiche, wundertätig holde Wundmalhünd des
Sohnes umschließt ihre Fjnger und gibt ihr Halt
yor der Seeligkeit, und jhre Sinne werden heilig.

Es zieht vorbei ringelhaarig um die klare Stirn
sich verneigende Engelsscharehrfurcht.

Nun ist sie, fühlt und sieht sich innerlich ganz:
Maria.

Da, aus einem Antlitz leuchtet still selbstlose
Treue, liebevoll verehrend, traulich voll heimischen
Glückes, und dieses Antlitz sagt: ich bin Josef.

Und sie freuen sich aneinander.

Die matronenhaft gütige, derbmilde Basenseele
und der amtsschlichte Priestergeisit mit frohstiller
Miene: Anna und Zacharias!

Gottlohnend, voll kraftwilden, treuherzigen
Feuers: Faustkampf der Buße — des stillen Prie-
sters Sohn.

Und an die Sehnigheiße wallt die weiße, rosen-
scheindurchhauchte Liebesgestalt des anderen Jo-
hannes.

Die Blutrosen wie der frohe sanfte Helden-
blick, der Triumpfblick des willig hingegebenen
Lebens, ein frohruhender Siegesblick: Stephanus'
ist da.

Werkmannsfreude, wie Einer hat ein Haus ge-
baut und es ist ihm gelungen: so Petrus.

Wieder Einer, der hat angesiedelt und ver-
pflanzt, ein edelbartiger Weltbürger und Ordner
von hüben und drüben: Paulus.

Auch der Himmel wächst. Das Reifen lund
Recken geistiger Glieder verklärter Jugend ist da
und bräutliche Stille, heiliges Forschen und Denken,
Danken und Senden geistiger Güter: das ist der
Himmel.

Das Wort war FleisCh gewörden und hatte
gewohnt in ihnen allen.

Nun waren auch sie Geist geworden und nach-
gegangen dem wieder Vergeistigten.

Und Liebesholdlaut reinster Engelsstimmen war
Gespräch und Tat und Duft und Wärme und Farbe,
Leuchtkraft der innigsten Seele.

Schluss folgt

Fern

ICh 1 möchte in Nacht mich bergen
Nackt und scheu

Und um die Glieder Dunkelheit decken
Und warmen Glanz...

Ich möchte weit hinter die Hügel der Erde

wandern —

Ti-ef hinter die gleitenden Meere,

Vorbei den singenden Winden...

Dort treff ich die stillen Sterne,

Die tragen den Raum durch die Zeit
Und wohnen am Tode des Seins,

Und zwischen ihnen sind graue,

Einsame Dinge...

Welke Bewegung vielleicht

Von Welten, die lange verwesten —

Verlorener Laut —

Wer will das wissen_

Mein blinder Traum wacht fern den Wünschen

der Erde.

Alfred Lichtenstein

Handschrift

Von Else Lasker-Schüler

Für den Künstler der Handschrift
ist der Inhalt seines Schreibens
nur ein Vorwand, wie für den Maler
das Motiv seines Bildes.

Ieh 1 hübe beobachtet, daß Kinder und Große so
recht in Gedanken versunken, mit der Feder, mit
dem Bleistift an zu kritzeln fingen, dann ganz un-
bewußt bemüht waren, schöne oder verschnörkelte
Buchstaben und Worte zu schreiben; sich dann
später selbst über die Bedeutung des Geschriebenen

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