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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 10 (Mai 1910)
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Scheu, Robert: Radikalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0077

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug: 10 Pfennig

DERSTURM

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE


Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / AmtVI 3444


Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark J Halbjahresbezug 2,50 Mark/ 1
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions- 8
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1910 BERLIN/DONNERSTAG DEN 5. MAI I9I0/WIEN NUMMER 10

INHALT: ROBERT SCHEU: Radikalismus /
f’AUL LEPPIN: Daniel Jesus / Roman / HERBERT
IHERING: Gedichte / ELSE LASKER-SCHÜLER:
üer Kreuzfahrer/ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit
Kalypso überdie Musik/OTTO STOESSL: Eine Vor-
rede/WILHELM ALTMANN: Indianeroper / TRUST:
Afaberpantomime / MINIMAX: Politlk und Luftschiff-
*ahrt / R. R.: Eröffnung der Berliner Kunstausstellung /
A L.: Achtungl Dichter!/OSKAR BAUM: Ballade aus
^em Leben der Begriffe

Radikalismus

^on Robert Scheu

Das jeweiis letzte Wort der wissenscliaftlichen
Erkenntnis und die überragenden Erfolge einzelner
Zeitgenossen vereinigen sich zu jenem geheimnls-
vollen Effekt, den man geistige Mode nennt. Die
Summe der Qrundsätze, Methoden und Alluren, die
sich aus diesen beiden mächtigen Quellen ableiten
lassen, bilden den Zeitgeist. Die letzten faktischen
Erfolge, wie beispielsweise glänzend gelungene
^ommerzielle Operationen, überwältigende Waffen-
siege, überraschende Verbreitung eines Buches in
vielen Auflagen, durchschlagende Wirkung eines
^heaterstückes — diese stellen den variablen,
Schwankenden, den psychologischen Bestandteil
cles Zeitgeistes dar. Dei%letzte Standard der
Wissenschaft ist sozusagen die fixe Qröße, die
Enterlage, das Kapital des Zeitgeistes. Die gegen-
seitige Durchdringung dieser Elemente schafft jene
Qgentiimliche Atmosphäre, deren Qewalt sich nie-
üiand zu entziehen vermag, die über der ganzen
Eroduktion der Zeitgenossen wie ein Schicksal
A'altet. Sie schafft eine natürliche Zuchtwahl, die
lur Qleichartiges und Verwandtes durchdringen
läßt, indem sie auf der einen Seite Hemmungen er-
2eugt, auf der andern hinwegräumt.

Das in den feinsten und vorgeschrittensten
Köpfen geistig Errungene setzt sich in Volksbewe-
Sung um und wird in entsprechend verflachter
Eorm populär. Die allgemeine Volks- und Zeit-
stimmung ist das nachhallende Echo der Qipfel-
erscheinungen und entsteht nach denselben Qe-
Setzen wie der ästhetische Geschmack. Qenau so
^ie die üppigen Frauen Makarts, die schlanken Qe-
stalten Burne Jones, ursprünglich gewählt von
Qnem individuellen malerischen Geschmack aus der
Sexuellen Notwendigkeit einer eigenartigen Per-
sönlichkeit, eines Tages auf dem Straßenkorso
Eleisch und Blut gewinnen, — oder wie das Volk
Seine Toiletten von der Aristokratie, dem Theater
und einzelnen führenden Beautes aus zweiter und
äritter Hand bezieht, — wobei Mißverständnis und
Kebertreibung ihre verzerrende Rolle spielen —,
Senau so wird die Denkleistung der führenden
Köpfe im Wege der Nachahmung und Auslese in
äen allgemeinen Volksgebrauch übergeleitet.

Wie vollzieht sich das? Zuerst, indem ein ge-
' ungenes Werk, ein schöpferischer Qedanke durch

starke Wohlgefallen, das er auslöst, zur Nach-

zeugung reizt. In jedem produzierenden Menschen
ringen die verschiedenen Impulse, Qeschmacks-
richtungen, Ausdrucksmöglichkeiten miteinander
und hemmen sich gegenseitig. Das wohlgestalte
Vorbild bringt die gleichgestimmten Nerven zum
Klingen. So kommt es, daß beispielsweise lite-
rarische und malerische Moden wie Epidemien um
sich greifen. Alle diese Schriftsteller könnten eben-
sowohl klassisch als romantisch schreiben. Eines
Tages schreiben sie alle romantisch. Warum?
Weil das siegreiche Vorbild als Stimmungsreiz den
romantischen Neigungen und Regungen das Ueber-
gewicht leiht. Eine ähnliche Erscheinung wie in der
Natur. Auf einem Hügel streiten junges Laub und
Nadelholz. Eine einzige Nacht des Frostes — das
weniger widerstandsfähige weiche Laubholz geht
ein und nach zwanzig Jahren erhebt sich dort ein
prächtiger Nadelwald. Wäre der Frost um einige
Tage später gekommen, so hätte das Laub gesiegt.

Hat sich einmal die Mode in den oberen Re-
gionen durchgesetzt, so wirkt sie weiterhin auf den
bewußten Geschmack, es gilt alsdann für unelegant,
die anderen Stimmungswerte durchbrechen zu
lassen, sie hat ihre Alleinherrschaft etabliert. Jetzt
kann es so weit kommen, daß schwächere Be-
gabungen zurückgedrängt und in ihrer produktiven
Kraft gelähmt werden, weil sie in der Zeitstimmung
den ihrem Talent günstigen Stimmungsreiz nicht
vorfinden.

Die Gesamtsumme des geistigen Materials in
einem bestimmten Zeitmoment läßt nur eine be-
stimmte ideale Zusammenfassung zu. Nicht jede
Zeit ist in der Lage, einen beliebigen Denkprozeß
auszuführen, die jeweils mögliche Synthese hängt
von dem erreichten Standard der Erkenntnisse und
Methoden ab. Der Gedankenreichtum der Mensch-
heit gleicht einem großen Anlagekapital, dessen
Rente nur zu gewissen Terminen fällig wird. Das
in einer bestimmten Zeit Erreichte begünstigt
jeweils eine ganz bestimmte Kristallisation. So
hat beispielsweise die in der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts einsetzende historische
Rechtsbetrachtung das Erscheinen konservativer
Köpfe angekündigt. Die anders veranlagten Köpfe
werden entweder nicht erzeugt oder finden in dem
vorhandenen Zeitinhalte kein Auslangen, sie sind in
sich zerfallen, fühlen sich unglücklich. Ein be-
stimmtes geistiges Materiale des Zeitalters gibt den
Nährboden und die Unterlage für das Emportauchen
der adäquaten Persönlichkeiten, deren Anlagen
gerade auf die Ausbeutung des vorhandenen Denk-
stoffes zugeschnitten sind. So wird beispielsweise
in Zeiten, wo die Naturwissenschaft noch kindlich
stammelt, selbst ein starkes naturwissenschaftliches
Talent nicht die Zeitherrschaft an sich reißen
können, sondern innerhalb seiner Wissenschaft
künftige Siege vorbereiten. Damit eine Persön-
lichkeit und Begabung zeitbeherrschende Qewalt
erlange, muß sie das nötige Rüstzeug vorfinden,
muß sie einen solchen Stand der Erkenntnis an-
treffen, daß sie durch deren Zusammenraffung und
Vereinigung überhaupt produktiv werden kann.

Die Entwicklung der Menschheit, der Wissen-
schaft und der Geschichte schafft abwechselnd
Konstellationen, die einen bestimmten Typus der

Qeister in ihrer Fruchtbarkeit und Herrschafts-
möglichkeit begünstigen oder hemmen.

Insofern verlangt das Volk instinktiv und mit
vollem Recht, daß eine Idee ihre macht- und blut-
vollen Repräsentanten entsende, sich durch solche
erweise. Mit Recht werden Ideen an ihren Re-
präsentanten gemessen. Denn die jeweilige Phase
der Entwicklung eines geistigen Systems drückt
sich mit verräterischer Klarheit in seiner Fähigkeit
aus, Vollpersönlichkeiten zusammenzuballen; der
Qeist erweist sich erst durch seine Fleischwerdung,
durch seine Apostel. Darum verlangt das Volk
einerseits Zeugen, Blutzeugen, andererseits Per-
sönlichkeiten, die durch ihre Vollkommenheit die
Kristallisation des Qedankens zur plastischen Er-
scheinung bringen. Selbst Stil und Sprache müssen
Beweis machen. Wenn der Zeitpunkt für eine be-
stimmte Kristallisation reif ist, dann schafft er sich
seine markigen Repräsentanten und verleiht ihnen
eine ,mit rotem Wein gefüllte Sprache, eine pralle
gesunde Haut, unter der das heiße Blut pocht.

Das Anschwellen konservativer oder reak-
tionärer Volksgesinnungen wird sich daher auch
stets in dem Erscheinen machtvoller und frucht-
barer Persönlichkeiten nachweisen lassen, die den
Akkord angeschlagen haben. Das Steigen der
radikalen Welle hat das vorhergehende Auftreten
synthetischer Freigeister zur Voraussetzung, die
ihrerseits wieder von dem Vorhandensein aufge-
speicherter unverwerteter Materialrückstände be-
dingt sind. Nicht die Persönlichkeiten machen den
Zeitgeist, auch nicht umgekehrt, sondern sie sind
der lebendige Zeitgeist, die sichtbare Inkarnation,
die Sprachrohre der Idee.

In dem ewigen Widerstreit der konservativen
und freien Qeister wallt auf und ab, webt hin und
her wie Ebbe und Flut das Leben der Geschichte.
Die wechselnde Regierung der Whigs und Tories
hat ihre allgemeinen ewigen Qründe.

Ein Voltaire, Rousseau, Diderot, Helvetius
waren der volle restlose Ausdruck ihres Zeitalters,
sie fanden in dem Gesamtmaterial ihrer Zeit
keinerlei innere Hemungen vor, sie konnten mit
fröhlicher Energie die Kristallisation ihrer Zeit voll-
ziehen und sich Enzyklopädisten nennen. Sie
konnten bezaubern und siegen; aber das Hochzeits-
kleid kann man nicht an jedem Tag anziehen. Es
müssen feierliche Zeiten da sein, es muß hoch an
der Zeit sein. Aber der Schatz der Zeit erschöpft
sich, er läßt nur eine gewisse Ausbeute zu, die
silberne Ader gibt nur während einer begrenzten
Periode blinkende Stufen, später verarmt sie, der
feurige Strom erkaltet und erstarrt. In geistigen
Dingen haben feste Resultate keinen Wert und
keine Berechtigung, der Geist besteht nur in der
Bewegung, im Qegensatz. Darum kann uns der
Rationalismus eines Voltaire hinreißen, weil er
noch vom Qegensatz gespeist ist und seinen
strahlenden Regenbogen auf der purpurnen Wand
des Ancien Regime spannt. Heute denselben gei-
stigen Inhalt einfach wiedergeben wollen, ist kein
Verdienst, es bedeutet Flachheit.

Denn gerade von der höchsten Perspektive aus
muß gesagt werden, daß die konservativen Mächte

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