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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 52 (Februar 1911)
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Hiller, Kurt: Gegen "Lyrik"
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Wolfs, John: Der Dogmatiker und der Voraussetzungslose
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Walden, Herwarth: Von der Technik des Totschweigens
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0421

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tausend morgenländisc'nen Rosenblättern ein einziges
Tröpfchen Rosenöl presst, so aus einer Unzahl von
grossen, kleinen Erlebnissen (Erfahrungen und Erfahr-
barkeiten der Sinne, geliebt-gehassten Problemdurch-
schnüffelungen, Vibrationen des namenlosen — „meta-
physichen“ - Zentrums) einen einzigen kleinen Kom-
plex von Worten zusammenzustampfen; Komplex von
Worten, der ein geordnet holdes Vagieren ist und worin
die allerhand irdischen Sensationen — von den op-
tischen bis zu den tastnervösen —, das allerhand Cere-
brale, die allerhand Wollungen ineinanderschmilzen und
einig zusammenfliessen mit dem Weltgefühl, das unsere
Seele kennt. All dies kraft einer Vision gemischt und
gefasst in das Gesetz einer Form —: das Gedicht
ist da

Warum aber der Name „Lyrik“? Hat denn der-
gleichen mit Lyra und Lied etwas zu schaffen? Mit
fahrenden Sängern und dem pfeifenden Handwerks-
bursch ? Mögen immer die strengen Magister der
Fröhlichkeit, die behaglichen Lobpreiser einer gemein-
verständlichen Melancholie, kurzum die (so aufrichtigen)
Verfechter des klassischen und romantischen Volks-
gedudels diese Frage bejahen: das Beste von Goethe
und die tränentreibende Wunderpracht, die Hölderlin,
George, Rilke uns geschenkt, „Lyrik“ zu nennen —
darüber lacht mein Ohr und krümmt sich mein Sprach-
gefühl. Wenn wirklich Bezeichnungen wie Gedicht,
Dichtung, Wortkunst nicht genügen, dann ziehe ich der
„Lyrik“ immer noch die „Poesie“ vor — trotz allen
Anklängen an Goldschnitt und Goldschmidt. „Poesie“
kommt schliesslich, ohne sich zu zieren, von rtoietv”,
machen, und heisst (falls das Einzelwerk gemeint ist)
immerhin Machsal. Wogegen sich garnichts einwenden
lässt; da doch jedes Gedicht komponiert, ziseliert, ge-
meisselt werden . . da jedes Gedicht am Ende qual-
voll „gemacht“ sein will. Wenn steifbeinige Propheten-
söhne dies Fakt bestreiten und kühn behaupten, ein
Gedicht müsse „nicht gemacht, sondern gewachsen“
sein, so zeigt das nur, wie leicht Masochismus sich in
alberne Theorien umsetzt . . .

Nun brauchte man sich ja über eine inadäquate
Bezeichnung nicht besonders aufzuregen; aber diese
hier birgt Gefahren. Sie ist gefährlich der Kunst jener
Ersehnten, Kommenden, Köstlichen, welche Bedichter
sind unserer grausig geliebten Städte; Gestalter unserer
intellektischen Ekstasen, eisigen Gluten, süssen Flagel-
Iationen; unerhörte Zusammenraffer alles in letzten
Menschen unerhört Durcheinanderwirbelnden. Diese
kommende Kunst wird den Assoziationen von „Lyrik“,
die der mittlere und auch der bessere Bürger notwen-
digerweise hat, noch heftiger zuwiderlaufen als selbst
der Georgesche Brokat und die erschütternde Konden-
siertheit Rilkescher Gesichte. Dieser kommenden
Kunst, aus der auch die allerletzten Rudimente von
Waldesgrün und Lerchensang, von Herz und Schmerz
und Lust und Brust, von Sinnigkeit und lnnigkeit und
Kühen auf der Weide verduftet sein werden — : jeder
schöngeistige Advokat und jede Lyzeumsziege wird
dieser Kunst einfach das Dasein absprechen Und ich
höre schon, als Argument, entrüstet gefistelt die rhe-
torische Frage: „Ist denn das noch Lyrik?l“

Man wird dem Schöngeist und der Ziege sich sehr
konträr fühlen, und wird dennoch sagen müssen:
„Nein, Euer Liebden; Lyrik nun freilich ist dieses nichtl“
— worauf dann der fatale Begriffsstreit entbrennt.

Rotten wir jedoch den dämlichen Terminus bei-
zeiten aus, so werden Schöngeist und Ziege sich schon
ein anderes Argument suchen müssen; und der Nach-
weis, dass sie Zulus sind, gestaltet sich dann be-

quemer.

Kurt Hiller

Der Dogmatiker und der
Voraussetzungslose

Dialog von John Wolfs

Personen : K u r t, voraussetzungsloser Forscher. Hat
eine untersetzte Oestalt, goldene Haare,
goldene Brille und treue Augen.

F i t z, Dogmatiker.

Kurt: Halt, Fitz, wie beweisest Du Deine Behaup-
tung der Existenz Gottes?

Fitz: Ich kann sie nicht beweisen.

Kurt: Dann treibst Du keine wahre Wissenschaft
und kannst nicht zu den Quellen der Wahr-
heit dringen. Denn das kann nur die wahre,
die voraussetzungslose Wissenschaft.

Fitz: lch will garnicht voraussetzungslos sein, sinte-

malen ich Dogmatiker bin.

Kurt: Warum denn? Warum bist Du Dogmatiker?

Fitz: Wenn man den Dogmatismus beweist, wider-

legt man ihn. Wie kannst Du, Fanatiker der
Logik, solche Unlogik von mir verlangen?

Kurt: Jetzt bist Du gefangen! Du wolltest Deinen
Dogmatismus nicht begründen, um ihn nicht
aufzuheben. Also: die Ablehnung der Be-
gründung begründetest Du Du argumentierst
logisch, selbst wenn Du logische Argu-
mentationen ablehnst. Mithin: Rechtfertigst
Du Dein Prinzip, so verleugnest Du es, recht-
fertigst Du es nicht, so verleugnest Du es.
Ergo ist Dein Prinzip falsch.

Fitz: Es kann inir egal sein, ob es falsch ist, da

es garnicht richtig sein will. — Aber, o Vor-
aussetzungsloser, warum bis Du denn vor-
aussetzungslos?

Kurt: Denke an die Macht des Logikers über die
Geisterl Kann er nicht seine Gegner zu
„folgerichtigem Denken“ zwingen, ihnen die
eignen, wohlbegründeten Ueberzeugungen auf-
nötige n?

Fitz: Ist er nicht selbst der Logik blind ergeben ?

Nur als Sklave hat er Macht. Kurt, beweise:
Warum soll man logisch denken? Warum
soll man Sklave der Logik sein? Warum
soll man Macht über die Geister haben ?
Warum soll man voraussetzungslos forschen?
Das alles sind ethische Postulate. Beweise
sie, bitte, doch.

Kurt: (schweigt)

Fitz: Du kannst sie nicht beweisen. Also bist Du

Dogmatiker, Du Voraussetzungsloser. Je-
doch, Du weisst nicht, dass Du Dogmatiker bist.

Kurt: Aber widersprichst Du Dir nicht selbst, wenn
Du fortgesetzt aus Logik an der Autorität der
Logik zweifelst?

Fitz: Ich gebe das zu. Aber spricht es wider mich,

wenn ich mir widerspreche ? Mein Dogma-
tismus beansprucht keine logische Geltung.
Also kannst Du die Logik nicht gegen ihn
ausspielen.

Kurt: Du sagst, Dein Dogmatismus beansprucht

keine logische Geltung. Diese Behauptung
rechtfertigst Du logisch Das bleibt ein
Widerspruch. Schaff’ ihn hinweg.

Fitz: Habe ich gesagt, ich bekämpfe die Logik?

Ich verhalte mich ihr gegenüber neutral. Ich
ehre sie, wenn ich will, ich verachte sie,
wenn ich will. Ich kann meinen Geist tanzen,
ich kann ihn die Gedankenbahn hinschleichen
lassen. Niemals falle ich aus der Rolle und
verstosse gegen Prinzipien. Du aber, Vor-
aussetzungsloser, kannst Dein Prinzip nicht
vertreten, ohne es zu leugnen, nicht voraus-
setzungslos forschen ohne Voraussetzung.
Du denkst logisch — aus Unlogik. Das
Resultat unserer Unterredung? Nicht der
voraussetzungslose Forscher, nur der Dog-
matiker hat das Recht auf Logik.

Hermann Essig: Die
Glückskuh

Die Pan-Bühne versuchte neulich im Modernen
Theater Hermann Essigs Lustspiel „Die Glückskuh“
aufzuführen. Das Stück spielt in einem Dorfe unter
plumpen habsüchtigen Bauern. Sein Inhalt: Der Kuhhandel
zwischen den brutalen und den zärtlicheren Instinkten;
beide Parteien werden betrogen, denn sie sind un-
trennbar ineinander verstrickt. Am meisten vergnügt

mich Hermann Essig durch die Umkehrung einer ge-
wohnten psychologischen Perspektive. Er stellt die
Frauen als die Geistigeren dar, als die bewussteren
Tiere, deren Entschlüsse in grösserer Helligkeit wachsen,
ferner von besinnungsloser Dumpfheit; aber er
empfindet sie auch als die Boshafteren, Härteren, Ver-
logeneren. Man würde den Hermann Essig einen grau-
samen Psychologen nennen, wenn man nicht fühlte:
er liebt die Frauen viel zu sehr, um sie zu ide-
alisieren; er kann noch da lächelnd geniessen, wo ein
Strindberg tobt und anklagt. Zum Schluss aber, als
man dem „Rebekkle“ die gestohlene Kuh wieder nimmt
— die schöne braune Kuh mit den Ringelhörnern, die
ihr so sanft über [die Bühne gefolgt war —, als die
Strafe droht und die Verlobung aufgelöst wird, ver-
suchte mich der Dichter zu allerhand Mitleid zu ver-
führen. Auf Grund der Tatsache, dass die Heldin
ein Kind unter dem Herzen trägt. Und ich solite
mich freuen, dass dann doch der Oberamtmann mit
der Aktenmappe durch einen wohlwollenden Machtspruch
der Kleinen zu einem Mann verhilft. Hermann Essig
also, der uns so lustig zu erschrecken verstand, ein
Zergliederer menschlicher Seelen, hat Respekt vor dem
Wohlwollen der Oberamtmänner und den Ideen des
Bundes für Mutterschutz. Dieser Gedanke bedrückte
mich auf dem nächtlichen Heimwege vom Theater.

Jakob van Hoddis

Von der Technik des
Totschweigens

Am 7. Juli 1910 stellte ich in dieser Zeitschrift fest,
dass die Berliner Presse über die Ausstellung des
Malers Oskar Kokoschka im Salon Cassirer sich
ausgeschwiegen hat. Am 6. Februar 1911 steht in der
Abendausgabe des Berliner Tageblatts folgendes zu
lesen:

Der Aufreizenaste unter diesen Kommenden
ist der Maler Oskar Kokoschka. Er trat
mit Führeraplomb aufs Schlachtfeld als Dichter,
Maler, Stückschreiber und Regisseur. Die
Leute über fünfundzwanzig waren zu einigem
Misstrauen berechtigt, denn er hatte die Geste
„Epatir les bourgeois.“ Wer aber den Bürger
bluffen will, befindet sich noch in innigster
Abhängigkeit von ihm. Dem Reifen kommt’s
ebensowenig darauf an, dem Bürger zu
schmeicheln, als ihn zu „giften“. Auch in
der neuen Ausstellung, die diese jüngste
Künstlergruppe soeben in Wiener Hagenbund
eröffnet hat, lebt sichtlich noch das Bedürfnis,
lieber Empörung als Beifall zu wecken. Im
grossen Ganzen aber haben es die jungen
nicht nötig, um den Hass der Menge zu
buhlen, denn sie haben, hinter allerlei ab-
sichtlichen Posen versteckt, Talent, und das
ruft schon Zorn genug hervor Kokoschka
hat diesmal eine Menge Porträts ausgestellt,
die auf den ersten Blick grotesk wirken. Ab-
sichtliche Unproportionen fallen ins Auge,
koloristische Willkürlichkeiten reizen auf.
Aber jedes dieser Porträts ist von einer Un-
barmherzigkeit, wie sie nur ein ganz junger
Mensch aufbringt, und je länger man um
Bilder wirbt — und warum sollte man um
die Dokumente der Jugend nicht werben? —,
desto deutlicher liest man aus jedem dieser
Gesichter und Fratzen die Tragödie eines
Lebens. Gewiss, Herr Kokoschka ist nicht
sehr gütig, aber seine Porträts sind doch keine
Karikaturen, weil er seine Objekte durchaus
nicht Iächerlich machen will, indem er aus den
Gesichtern ernste.zuweilengrauenhafteTragödien
herausliest. Edward Munch ist neben Kokoschka
ein jovialer alter Herr.

Nun glaube man ja nicht, dass der Herr Kunst-
kritiker vom Berliner Tageblatt sich seine Ansicht bis
zu diesem Tag überlegt hat. Diese Besprechung
schrieb der Wiener Korrespondent des Berliner Tage-
blatts anlässlich einer Ausstellung von Oskar Kokoschka
im Hagenbund. Nun frage ich: Was hat die Taktik
des Totschweigens grosser Künstler in Berlin für einen
Zweck, wenn man es über Wien unterbrechen kann?
Ueber Wien! Vielleicht wird den Berliner Kunstkritikern,
die ja angeblich den „Kunstmarkt“ beherrschen, das
Blamable ihres Nachgehens begreiflich.

Trust

3i«r
 
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