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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 36 (November 1910)
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu, [4]
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Schur, Ernst: Die Luftseuche
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0292

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mann. Dieser Tatsachengl'auben, dieses Bestätigen,
vornehmKdh in den Handlungen; desi Lebens aber
verfangte als Aeußerungsform eben jene Sdhwächen
und Fehfstellen, weldhe die Jüngerschaft des ern-
sten, giottesfürdhtigen Fisdhers abhebt gegen das
Verhalten seiner Genossen. Auf diesen praktischen
Sinn gehörte die Kirdhe. Diesem ehrfichen Wetk-
mannssinne, dieser großen, schlichten Hingabe des
viel älteren Jüngers steht Fehler und Reue edht,
wie die wilden Sdhönheiten einer Unart lebhaft
gesunder, unter Augenblidkssinnlichkeit jnnigtiefer
Kindesnatur.

Und als nun Simon voller Dankwärme auf des
Meisters Ankündigung, er müßte hinauf gen Jeru-
salem, dort Zeugnis abzulegen, und zu sterben
dafür, um am dritten Tage wieder aufzustehen,
teifnahmsVoll einwandte: „Herr, scbone deiner
selbst, das widerfahre dir nicht!“ Da ward der
geistige Meister zornig über die irdisdhe Störung
und wies den Restürzten sdhier über die Massen
zuredht: „Hebe dich von mir, du bist mir ärger-
fidh, denn du meinst nidht, was göttlich, sondern
' was mensdhliich ist“. Es dauerte lange, ehe die
Jünger das Göttfidhe begriffen und nicht mehr
daneben tasteten. Deshalb wurden sie auch gute
Lehrer später: aus Selbsterworbenem. Die Herb-
heit des Meisters aber war Deutllidhkeit. — Mit
dieser Ansidht foist du mir Satan.“ — Wenn der
Heiland seine innern Stufen erstieg, der Trauer,
der Sammlhng, der Verklärung, so nahm er dreie
mit sich, ganz odei' bis an das Vorzimmer seiner
Einsamkeit.

Es war dies Johannes, der Freund mit seiner
sanften, weiblidhen Jünglingsseele, die treue Zu-
verlässigkeit des Simon, und des Jakobus wortlos-
traute Verwandtennatur. Und nur auf der Höhe
fcgten der Jünger bereite, zitternde Seelen Isidh'
auseinander wie Bllumeblätter vor der Sonne. Der
Sohn aber trat in die Gottheit des Vaters, spradh
aus der Umarmung und redete voller Bedürfnis
der UeberfüIIe nadh Mitteilung zu den menschlichen
Freunden seines göttlidh Gezeugten.

„Dies ist mei.n vielgeliebter Sohn, an dem ich
mein Wohlgefallen habe.“ Und er zog auch sie
in den Kreis des Göttllidhen.

Judas Iseharioth

Judas war kein Jünger. Nidhts von cnnen
heraus bei ihm, kein Verlangen nadh einem
besseren, sittlidh gefesteten Wesen, zu dem es erst
die reinen Unbefangenen und später die Laster-
müden trieb. Judas war trotz der nahen Gemein-
sdhaft ein Bedienter, ein „Lakai des Herrn“, denn
„er hatte den Beutel“. Er war sein Hausmeister
gew'Orden in der Voraussetzung, daß der faszi-
nierende Lehrer etwa wie ein reisender, berühmter
Virtuose gewaftigen, widerstandslos zahienden
Zuläuf hat. Und dieses Virtuosen Impresario wollte
er sein. Die andere gewaltigere Seite des Wunder-
täters hatte er nie im Auge gehäbt. Nur die für
seinen Zweck.

Und als sidh IsCharioths Voraussetzung nicht
verwirklidhte, mußte er auf andere Weise an sei-
nem Herrn verdienen. Der Zorn auf die in den
Augen dieses „vernünftigen“ Mcnsehen geradezu
ruchlose Verschwiendung so vieler Gelegenheiten
verwirrte und erregte ihn.

Nach der von seinem göttlichen Meister aus-
drücklich gebilligten entsetzlichen Verschwendung
der Maria Magdalena ward ihm die Empiörung
des gesunden Menschenverstandes zu viel, und er
ging hin in seiner kalten beleidigten Leidensdhäft
des Geldes und beging das Ungeheuerlidhe. Er
war gestört in seinem Ideälismus, dem einzigen
dieser metaMisdhen Seele. Isdharioth war ein zäher,
fester Philister, ein unerschütterlicher. Er hatte
keine Phantasie, keinen Wertblidk und kein Vor-
aussehen. Erst die greflsten Tatsachen konnten
ihn überzeugen. Zu spät enthülte sidh die gute
"“ l;wJie Seite.

Judasiut w;' re er e' n gfuter Jünger geworden. Seine
handfun r war wcggenornmen und mit ihrer End-
n°ch u/ife^rledigt. Ein anderer wäre auch dann
2 &rutem Einfluß gut geworden, bieg-

sam und nicht gespannt, aber kein Mensch hüt
zwei Naturen, mindestens nidht ganz entwickelt
nadheinander. Zu spät, sein Amt war abgeschlossen
und hatte abgesdhlossen. vAm Kleinlichsten war

das Hödhste vernichtet — irdisch vernichtet _

Weltsymbol.

Palmen

Ein knisternder Odreif eifert um die breit-
gebogenen, weiblidhen Schläfen des yor Vortreff-
lidhkeit ctwas ungewandt leidend sidh ausnehmen-
den Nazaren'erhauptes!, des sitthdhen Oberhauptes
dfeser Erde und der übrigen. Denn allgemein und
niedertaudhend in jegllidhes' wie die animalen Ge-
setze der Welt sind sidher audh die geistigen, und
das SeelisChe kennt keine Grenzen.

So steht im Siege des Geistes das läutere
Königshaupt, darin immer vom ersten jungen Keim-
gedanken der Kindheit an nur edelfest, bewußt ge-
wadhsene Gedanken gestanden haben. Ernst legt
der gefeierte König der Seelen die deutlidhe, voll-
kommene, weder große nodli kteine, zarünittel-
warme Hand auf den Nacken der Eselin und steigt
würdig auf das gelassensanfte 1 zierlidhe Lasttier.
Anmut spielen, neigen sidh nach unten, federn die
röhrenförmigen Ohren. Nur wenig haben seine
Jünger nadhzuhelfen, aber wie sorgsam legen sie,
um audh nur in etwas am Prachtzug ihres Meisters
beteiligt zu sein, der sie alle mit stolz madht, d,ie
Fatten zuredht. Und schon auch schreitet, wie
innerlidh getenkt, die Eselin weiter mit zierlichen,
vor Straffheit fast ein wenig bebenden, an ein edles
Roß gemahnenden Sdhritten.

Und in der Seele des väterlidh zeugenden Bru-
ders vom Geiste weilt ernstgefügte Bereitsdhaft,
dem tiefen, urplötzlidh wie fremdartig über die
Mensdhen kommenden Diendrange, dein grund-
tiefen richtig durchgefühlten JJiendrange vor dem
Göttlidhen zu entsprechen, wie später dem wilden
Verwüstungsdrange, wenn das Gesetz, das dunkel'-
aufweisende Gesetz es erheischt, dem wüsten Rasen
sidh zu bieten.

Er ist Mensch, aber er ist es nidht für sich
— nicht einem weltbegehrenden, weltverwachsenen
Leibe nadh, sondern Menscli 'für andere — des
Mensdhen Sohn — und heute ist seine Stunde ge-
kommen. Die eine. Die andere wartet. Auch sie
wird sidh erfüllen. „Vater, dein ist die Schickung“.
Und dieser Sdhickung stellt die Seele sich, ob hell
sie klingt, ob dunkel sie töne.

Zwar der Leib, der irdisdh bange Leib, inag
bitten: „Vater, faß vorübergehen diesen Keldh der
Bitterkeiten!“ Doch die Seele tritt hinzu und tritt
ein für den Schwachen. „Doch nicht mein, sondern
dein Wille gesChehe!“ Noch aber ist: „Heil dem
Sohne Davids, dem König Heil, des Herrsdher-
hauses Sprossen!“ so nodh 1 jauchzt eSL

Und ist ein verzücktes Jubeln von Psalmen,
von seelenbefreiender, weihevoll aussdhweifender
verehrungsüppiger Musik.

Dodh da dunkelt es sdhon — und verliert sich
der Boden? — die Mäntell sind es, die kostbaren,
geschwungen und ausgebreitet unter die Tritte des
sdhlichten Königsrappens, des Friedensfürsten Reit-
tiers, und sanft wie Bfumenblätter leudhtet die
Freude femer Höhenzüge'.

Die Luftseuche

Von Ernst Sehur

Die Luftseuehe; foitte zu beachten! Nicht die
Lustseuche.

Ich bin stolz Idarauf, sie entdeckt zu haben
Und idh werde dadurch berühmt werden.

Es kam so.

In einem Lande, in dem bisher immer der Geist
der Ordnung und der Korrektheit geherrscht hatte,
war plötzlich eine Verwirrung ausgebrochen. Die
Temperamente erhitzten sich bis zum Siedepunkt.
Biedere Familienväter fingen an, in Zungen zu
reden. Vertrocknete, alte Tanten begannen vor Be-
geisterung zu lällen. Säuglinge wurden zu Pro-
pheten. Sedhsdreier-Rentiers und Staatspensionäre,

die sonst immer auf dem ebenen Pfad der Tugend
gewandellt waren, sdhlugen mit beiden Beinen aus
und Mütter — idh bitte Sie: Mütter — bekamen
einen Rausdh nach dem anderen.

Was war geschehen?

Als gewissenhafter Arzt, der gewohnt ist, seiner
Zeit den Puls zu fühlen, drängte es midh, diesen
Ersdheinungen nadhzugehen.

Es gab nur einen Gott, und der fuhr durch
die Lüfte, ünd die GloCken läuteten, wenn er kam.
Arm und Reidh, Jung und Alt glaubten an ihn
— unbedingt, und lihre Herzen sdhlugen höher,
wurde sein Name genannt.

Zwar war seine Allmacht etwäs unsicher, sie ließl
ihn des öfteren im Stidh und Heider meist immer
da, w|o |es äuf Entsdheidungen ankain. Die Elemente
waren taädhtiger ats er und sein Triumphwagen
ging (oft jn die Brüche.

Er war schlau. Alle Götter sind schlau, sonst
würden sie es nidht so weit gebradht haben. Sie
verstehen sich auf die Mittel der Massensuggestion.
Er wartete, bis die Winde ihta günstig waren.
Dann kam er und die Mensdhen standen auf den
Diädhern, und Mütter hoben ihre Kinder fooüh, und
er goß seinen ßegen herab von oben.

Trotzdeta hatte er Unglück über Unglück. Ja,
es kam so weit, daß, seine Pradhtgiondel, die „Be-
herrsdherin der Lüfte“, nicht mal auf Erden sicher
war. Der Wind kam, pustete und siegte.

Audh (meldeten sich bald allenthalben Neben-
götter; die waren fllinker, gewändter, sidherer als
er. Jedes foand, jede Provinz hatte sdhließlich seinen
National-Luftgott. Aber das sdhadete dem 1 Ansehen
nidht. In den Zeitungen war von nidhts Anderem
zu lescn. Wo er sidh zeigte, ergriff die Gemüter
ein Taumel. Der Erfolg des 1 Nationalgottes: |ein
Sieg der Nation. Es war wie in den Zeiten der
Vielgötterei (und des Fetisdhdienstes. Sdhon sah
man Leute mit den Abzeidhen dieses Gottes, einer
Art Nadhbifdung seines (Luftpalastes, einhergehen.
Es entstanden Sekten, die speziell seinem Dienst,
der Durdhsetzung seiner Ideen gewidmet waren.
Kaiser und Könige beugten sidh ihta wiliig, aber,
was !nodh Imehr jbedeutet, selbst Leute, denen Pflicht-
erfüflung über alles ging, die sonst nur über Akten
brüteten und Kinder zeugten, verließen Amt, Stel-
lung, Familie, und „folgten ihm naCh“.

„Auf“, sagten einige findige Köpfe, „griinden
wir Akademien zur Ausbildung von Luftgöttern.
Das v/ird sidh rentieren. Wir schicken sie nach
den Kolbnien, und wenn sie aus den Lüften herab-
kotamen, fafflen alte Neger auf die Knie. Einen
senden [wjr vor allen Dingen naCh dem Nordpol,
das ist durchaus jnötig; sdhon damit die Eskimos
die frohe Botsdhäft Vernehmen und die EisblöCke
Gefühl bekomtaen. Dann wird in der rauhen Brust
des im Eise sdhweifenden, verstoCkten Lappliänder
das Eis sdhmefeen, er wird auftauen und mit ihm
vielleicht das Eis, und neue Gebiete werden für
die Menschheit urbar gemächt. Mensdhheitsfrüh-
ling! Gründen wir also eine G. m. b. H.!“

Dies alles, meine Herren, bildete die An-
zeidhen, daß eine Seuche im Anzuge war. Es gibt
auch geistige Seuchen, seelische Epidemien. Meine
Spannung stieg aufs hödhste. Ich arbeitete fieber-
haft.

Mit der Vielgötterei kam der Haß der Nationen.
War ein Krieg in SiCht? Man tat, afe müsse man
nur darauf sinnen, den einen Gott gegen den an-
deren auszuspieten. Da passierte dem heimisdhen
Nationalgott das Unglüdk. Aber — aus der Nieder-
lage wurde eine nationald Erhebung! Es war wie
zur Zeit der größten Schmach Deutechlands, als der
Befreiungskampf begann. Die Frauen rissen ihre
Ketten vom Halse und opferten den Erlös dem all-
gemeinen Wohl. Kleinodien und Betten wurden
zur Pfandteihe getragen; das Gold, der stolze Be-
Sitz after Fatailien, (wurde eingesdhmolzen. Wer
keinis hatte, riß sich die Goldgebisse aus dem f
Munde, um Seinen Obofus beizutragen. Lieber
rannten sie taiit leerem Munde herum. Scbmach
dem, der beiseite stand. Man lief Gefahr, gesteinigt
zu werden.

So kamcn Millionen zusammen und der Gott
konnte seine Gottherrlidhkeit wieder aufbauen.
jDieses Unglüdk hatte ihm nidht geschädet, es hätte
die Bande fester geknüpft.

Meine Herren, ich war glücklich! Atemlos
hätte idh hinausstürzen, es jedem ins Gesidht rufen,
ihm meinen Fund mitteiten mögen.
 
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