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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 7 (April 1910)
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Lasker-Schüler, Else: Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup: Zur Kindertragödie in Kopenhagen
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Scheu, Robert: Der Sozialanwalt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0053

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Erscheinungstag: Mittwoch

Einzelbezug: 10 Pfennig

DER

WOCHENSCHRIFT

FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524. Anzeigen-Annahme und
Qeschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 / Amt VI 3444^


Herauageber und Schriftieiter:

HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark / Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig


lrster jahrgang

BERLIN/ DONNERSTAG/DEN 14. APRIL 1910/WIEN

NUMMER 7

^HALT: ELSE LASKER-SCHÜLER: Zur Kinder-
tragödie in Kopenhagen /ROBERTSCHEU: Der Sozial
änwalt / ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit Kalypso
Uber die Musik/JULES LAFORGUE: Gedichte /
S-rEFANTÖMÖRK£NY: Der Kampi mit dem Soldaten/
°SKAR BAUM: Fanatismus der Vcrachtung / DIE
F^CKEL / FROGRESS: Fortschritt/MINIMAX: Der
r° te Sonntag / R. R.: Aus dem Lumpensack / TRUST:
ttefr Lippowitz

^ohann Hansen und Ingeborg
^oldstrup

*-ui In Kopenhasjen

^°n Else Lasker-Schüler

Ingeborg, seine kleine Königin ist tot — Johann
Dansen iebt noch; an seinem Bettchen sitzt eine
h^rmherzige Schwester und betet, daß aer arme,
Verirrte Knabe bald genesen möge. Der Stations-
bfzt hat ihm das Tor des Todes verriegelt, sein
!* erz, das Ingcborgs Namen trägt, kann nicht zu ihr
lns Himmelreich. Nun wird das Kinderspiel erst
e|ne Kindertragödie. Die Beiden wollten ja nur zum
*°d, weii der einen Himmei besitzt in dem sie sich
Ver allen Engeln ohne Furcht vor Strafe herzen
^önnten. Nicht diese Heimlichkeiten der Freude,
'nre Qesichter schienen durch die Spalte der Türen
nnrch das Eisen der Tore. lminer bauten sie auf
'nren Händen gläserne Schlösser, darin sie sich
^Usendbunt spiegelten bis ans Ende der Welt, wo
, er Himmel anfängt. Dort wohnt der Tod.
J°hann Hansen hob Ingeborg mit seinen Knaben-
b’rnen die Treppe zum Einlaß des Todes empor.
^r öffnete und ließ die kleine Königin ein, Johann
^toipgrte rücklings ins Leben zurück. Diese beiden
e*nen Kinder ergreifen meine Seele. Das Leben ließ
s.{ e aus der Haft, der Tod schmückte ihnen rosig sein
l* er. lch möchte der Engel aus Andersens Märchen
und trüge den verwundeten Knaben zu Inge-
?°rg ins Himinelreich. Wie bösmütig s'uju die
penschen, die immer helfen wollen ins Leben zu be-
j? rdern. Es ist Nacht, überall blüht ein Stern. An der
Uecke im Krankensaal stehen viele Sterne, rot-
?°ldene, süßgelbe, wie Honig, und auch matt-
dnkelnde Immortellen. Alle pflückt der kleine,
|l eldenmütige Bräutigam für seine Braut, wenn er im

•üimel mit ihr Hochzeit feiert. Auf einmal schlägt

r die Augen auf: „Ingeborg, ich halte mein Wort!“
M a. st du es gehört, großer Engel aus Andersens
..'^rchen? Oder soll er aufwachen aus seinem
rnum des Himmels — und die Erde ist wieder da,
as Himmelreich verschwunden wie fortgezaubert
! bd Ingeborg liegt im Grabe. Ein Keller wird dann
> e Welt sein, kahl, viel kahler wie seines Hauses
^ eHer. Alt ist er, wenn er aufwacht, jung, wenn
j^‘ ne Augen sich schließen. Was bietet das Leben?

lcht das Kind braucht den Eltern dankbar sein;
^_ le können die Eltern aber das Nichtgeborensein
'. V:h Kinde ersetzen!! ? S o 1 c h zwei Kindern vor
len Dingen, zwei Engel, die nicht auf die wankel-
btlge Erde gehören. Flügel wuchsen ihnen; die

l Jistole, die sich der Knabe vom Lrlös seiner Qeige
kaufte, war Vortäuschung. Denn es geschah hier
ein Todeswunder. Nicht mehr wäre ich überrascht
gewesen, wenn dieseiben Kinder anstatt für ewig
zu schlummern, auxerstanden wären aus einem
Qrabe. Wie wiii der Lazarus, der den Knaben auf-
erweckt, ihm ein Himmelreich ersetzen? Es werden
keine Landeserholungsheime die „festgestellte“ Neu-
rose (Edelneurose) fortkurieren. Aber ich denke an
Seltna Lagerlöf die herrliche Menschin, an Karin
Michaelis das liebe große Kind, sie könnten dem
Knaben den himmelblauen Veriust ersetzen. Sie
tragen die Bilder des Himmels in ihren Dichterinnen-
herzen — halten sie zwischen ihren Händen. Ich
bin keineswegs sentimental, ich bin traurig. Man
vergleiche nur nicht die unaufgeblühte Liebe dieser
Engel mit den Tändeleien koketter Schulmädchen
'-ind greisenliafter Zwerge auf den Spazie rw°ven
Sonntagmutage. 'DrJkL tTJ/Lch Kinder ergreifen
meine Seele, ihre Lippen sind Himmelsschlüsselchen.

Der Sozialanwalt

Von Robert Scheu

Toistois der Wissenschaft zugeschleudertes
Hohnwort, daß sie auf alle wirklich das Herz be-
wegenden Fragen die Antwort schuldig bleibe, hat
wohl keinen Ewigkeitswert, aber es trifft viel-
leicht zu, wenn man damit den genügsamen
Betrieb geißelt, der an den Pforten aller großen
Probleme stehen bieibt. Am aufreizendsten
wirkt diese Lebensfremdheit bei den Hilfs-
wissenschaften der Staatskunst, weii deren ganze
Rechtfertigung auf ihrer Umsetzbarkeit in Tat, ihrer
Verwertbarkeit beruht. So entspringt eine
gewisse geheime Abneigung gegen die Juristerei
dem Bewußtsein, daß alle Kenntnis und feinste Aus-
gestaltung der Rechtsbegriffe nicht über die tiefe
Erniedrigung trösten kann, der das Recht im wirk-
lichen Leben unterliegt. Es fordert den Wider-
willen heraus, zu sehen, wie sich die Professoren
in der Verfeinerung und Verästelung der Theorie
nicht genug xun können, indes die Rechtsdurch-
setzung eine Chimäre bleibt. Man müßte meinen,
daß es gar keinen Reiz besitzen könne, das Recht
theoretisch auszugestalten, solange die Kunst noch
nicht erfunden ist, den Menschen zu ihrem Rechte
zu verhelfen.

Die Abneigung richtet sich also nlcht gegen die
Wissenschaft, sondern gegen die Richtung, die der
geistigen Arbeit gegeben wird, gegen das Ver-
säumen des Dringenden, das alle Kräfte auf sich
lenken müßte. Qegen diese Forderung wird freilich
eingewendet, daß dies Sache der Verwaltung sei
und die Wissenschaft nichts angehe. Aber es wäre
erst zu untersuchen, ob die mangelhafte Rechts-
durchsetzung nicht der materiellen Rechtsordnung
zur Last fällt, insofern diese von einem geträumten
Zustand ausgeht und deshalb eine lebendige Hand-
habung nicht gestattet. Mit diesem Verdacht also
hätte sich die Wissenschaft auseinanderzusetzen

Das Recht hat ein dr^faches Antiitz. Die
Satzung ist wi*-küciies Recht unter gleich Starken.

Sie ist ein Werkzeug der Tyrannei in der Hand des
Starken gegen den Schwachen; Maske der Macht,
wie Ihering sagte. Sie ist drittens ein Irrlicht, eine
lllusion, wenn sichs der Schwache einfallen iäßt,
sich ihrer gegen den Starken zu bedienen. Unter
gleich Starken ist das Recht ein wertvolles lnstru-
ment der Verständigung, ein vorausbestimmter
Vertragstext. Es ist eine schreckliche Waffe In der
Haud des ohnehin Mächtigen und ein Popanz in der
Hand des Unterdrückten. In der Mitte liegt wohl
das Recht, aber rechts und links ragen zwei Felsen,
an denen es zerschellt: Rechtshohn uud Rechts-
mißbrauch.

Rechtshohn und Rechtsmißbrauch sind die
beiden Poie, zwischen denen das Recht oscilliert.

lch liabe dich zu Boden geschmettert und be-
siegt. Ich kniee auf deiner Brust, du bist iii meiner

- * v'- n. ■’ '" ■ ~ *** -• <-* -'~ A -■> - • -1- ivj • • ö:._

Oc*aiu Uiwu /.Uaittiia isi aucu ua, uein oicgei,
auf die Dauer unbehaglich ... Ich gestatte dir,
dich unter gewissen Bediugungen zu erheben, damit
ich von meineni Siege ausruhen kann und nicht so
bald eine Umwälzung der Situation zu befürchten
habe. Das ist die eine Grundform des Rechts. Wir
haben wiederholt miteinander gerungen mit
wechselndem Glück, mit einem unverhäitnis-
mäßigen Aufwand von Kraft. Wir beschließen
daher, uns zu einigen; wir kleiden unsere lnteressen
in Satzungen. Das ist die andere ürundform des
Rechts.

Die wissenschaftliche Jurisprudenz befaßt sich
mit dieser Form allein. Sie blickt über die Klassen-
unterschiede hinweg, unbekümmert darum» was
diese aus ihren heiligen Regeln machen, oder sie
überläßt die Ordnung dieser Widersprüche der
Sozialpolitik und der Staatskunst. Die Jurisprudenz
gleicht einer Mutter, die ein Kind in die Welt setzt
aber für die Erhaltung des Kindes nichts fürderhin
tun will, es dem Zufall oder der Mildtätigkeit
anderer überliefert. Sie ist eine Erzstiefmutter
ihres Kindes.

Indem sie es verschmäht, dem eigentlichen Pro-
blem näherzutreten, offenbart sie auch ihre Gleich-
giltigkeit gegen das Klassenschicksal, sie abstrahiert
davon, sie verleugnet es, und wird dadurch sogar
einfältig. Die Einfalt liegt darin, daß sie verkennt,
wie auch innerhalb einer Klasse ihre Absichten nicht
zum Durchbruch kommen, weil der Zustand der
Stärke und Schwäche auch unter Ebenbürtigen zu-
fallsweise wechselt und der Rechtsmißbraucher wie
der Rechtsverhöhner häufig solche lndividuen sind,
die nur eine Augenblickschance in die Position des
Stärkeren rückt. So schützt die Rechtsordnung
z. B. den Wucherer auch dann, wenn er zufällig
gerade jener Qeseilschaftsklasse angehört, die
grundsätzlich unterdrückt werden möchte.

Rechtsmißbrauch ist die Ausbeutung eines
Rechtes zu Zwecken, die außerhalb der Absichten
der Rechtsordnung liegen und der Sittlichkeit
widersprechen. Der Typus dafür ist der Wucher.
Aber jede wie immer geartete Position kann
wucherisch ausgenützt werden, ^er Wucher ist
nicht aüciu auf das Verhältnis Arm und Reich be-
schränkt, sondern jedes auch voriibergehende Ab-
hängigkeitsverhältnis, jede Monopolstellung kann
Ausgangspunkt eines wucherischen Angriffs

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