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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 22 (Juli 1910)
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Kraus, Karl: So schlecht wie einst
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Von teutscher Art und Kunst
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Neumann-Lankwitz, R. K.: Das bespuckte Genie
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Alder, Joseph: Die Eroberung von Norderney
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0178

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wird. Peinlich jst dabei außer der jugendlichen
Freude nur, daß sie sich seit so vielen Jahren
wiederholt, und daß die Dümmsten in der Klasse
am lautesten wiehern. Das ewig neue Erlebais
verführt sie, die Mutter zu beschimpfen, die sie
nur geboren hat, ohne ihnen zu sagen, wie es da-
bei zugegangen ist. Welcher von den Herren, die
heute in Theaterdingen den Mund voller nehmen,
als es ihrem Temperament geziemt, hätte ein Recht
zu leugnen, daß auch er der alten Burgtheaterkunst
seine ganze kleine Oeistigkeit verdankt? Anstatt die
neue Burgtheaterkunst an der alten zu mesSen, Bagen
sie, eS sei dieselbe, und wagen es, dieser Herrn
Reinhardt als Meister zu empfehlen, dessen schau-
spielerischer Fond ein vierter Galerieschall eines
Lewinsky-Tones ist, und dessen dramaturgisches
Imperium bloß die allgemeine Tüchtigkeit eines Ell-
bogennaturells bedeutet, die sich' ebensogut im
Bankfach und im Feuilleton ausleben könnte. Das
Burgtheater aber ist so echtes Theater, daß es eben
in einer Epoche, die keine schauspielerischen Na-
turen hervorbringt, schlechtes Theater sein muß,
während der findige Qeist, der keine Vorurteile und
keine Erinnerung zu besiegen hat, eine praktikable
Verbindung von Ballettschule, Opiumkneipe und
Bildergalerie uns für Theater ausgeben kann. Wenn
nun eine gläubige Kritik das Burgtheater tadeln
will, so sollte man doch verlangen können, daß
ihre Besinnung immerhin zur ErkenntniS des Unter-
schiedes zwischen einst und jetzt reicht, und daß
sie vor den Wundern der Berliner Gastspiele bloß
das heutige Burgtheater verkleinert. Wie mag es
uns nun überraschen, daß wir, auf die hundert-
jähiige Wahrheit gefaßt, das Burgtheater Sei nicht
mehr das, was es einst war, die Meinung zu hören
bekommen, es sei trotz dem Berliner Beispiel so
schlecht wie einst! Einer will einer Burgtheater-
vorstellung das Schlimmste nachsagen und sagt:
„Einen Abend lang war es möglich, sich einzu-
bilden, wir seien noch in den achtziger Jahren des
Vorigen Säkulums. Diese Vorstellung hätte ebenso
gut unter Adolf Wilbrandt stattfinden können.“ Es
wird also gottseidank zugegeben, daß in der Zeit
der Wolter, der Meixner, Baumeister und Sonnen-
thal, der Gabillons und Hartmanns, der Mitter-
wurzer, Krastel und Robert die Sache zur Not
ebenso geglückt wäre. „Was man sah und hörte,
war von einer achtbaren Schablone, von einer re-
spektablen Banalität ... Da war alles' von einer
ganz und gar unwichtigen Bravheit.“ Mit einem
Wort, ganz so wie damals. „Ich habe keinen ein-
zigen Akzent, keine Gebärde, kein Wort mit aus
dem Theater genommen, davon mein Herz schneller
geschlagen hätte, nichts, wodurch ich in meinem
künstlerischen Besitzstand glücklicher und reicher
geworden wäre.“ Also ganz wie in der Theater-
zeit, in deren Erinnerung unser Herz schneller
schlägt und die, wenn Theatereindrücke solches ver-
mögen, unsern künstlerischen Besitzstand geschaffen
hat. Bei manchen Leuten, die später Joumalisten
wurden, scheint es ihr nicht gelungen zu sein. Es
war eine arme Zeit, die ein reiches Theater hatte.
Das Burgtheater schwindelt sich nicht durch die
Zeiten; es kann nicht hochstapeln. Aber es sollte
auch nicht als Bettler den Verkehr hindern.

Ton teutscher Art und Kunst

Herr Professor Bartels stellt die Tatsachen auf
den Kopf, um ihnen bequemer unter die Röcke
fassen zu können; sonst käme er nämlich nicht ran.
Und dieser Mann hält sich — ich bin wenigstenS
ziemlich fest davon überzeugt — für normal.

Seine vornehme Darstellungsart — „denn mit
schlechten Waffen dürfen wir Deutsche nicht kämp-
fen“ — ist innerlich verlogen, äußerlich verlogen,
ganz und gar verlogen.

Er greift sich aus der Literaturgeschichte will-
kürlich eine Anzahl jüdischer Namen heraus und
beschnüffelt sie in der allen Hunden eigentümlichen
Weise. Hatte nun einer von diesen Juden keinen
Erfolg, so wird das natürlich herangezogen als
bester Beweis für die spezielle und allgemeine
jüdische Inferiorität. War aber Erfolg vorhanden,
so ist natürlich der Betroffene eben „emporgekom-
men, ohne daß sich ihm die Schwierigkeiten in den
Weg stellten, mit denen wir Deutsche so oft zu
kämpfen haben“. Er läßt sich bei so günstiger
Gelegenheit Leute wie Blumenthal, von den Juden

bekanntlich stets als der wahre deutsche Dichter
gepriesen, nicht entgehen, und mft mit Ueberzeu-
gungstreue: „Daß Blumenthal nicht Didhter, son-
dern Geschäftsmann ist, wird doch keiner be-
streiten“. Und bei dem ungewohnten Gefühl,
etwas Wahres zu sagen, wächst er über sidi selbst
hinaus; klcttert sichtlich auf seinen eigenen Kopf.

Nun scheint es aber unter den Juden noCh
immer nicht genug schleChte Dichter zu geben, um
einen Bartels’schen Vortrag auszufüllen. Damm
fiolt er sich aus dem eigenen Lager Zuwachs.
Lindau, „mit dem die Verjudung unserer Literatur
beginnt“, der arme protestantische Pastors-Enkel
muß zunächst dran glauben. Zwar wird mit
schwerem Herzen zugegeben, daß er „allerdings
kein reiner Jude“ ist, „aber er hat sich doCh ziem-
lich rein zum Jüdischen entwickelt“. AuCh ! Spiel-
hagen, Paul Heyse, Hans Hopfen stellen sich naCh
genauer Untersuchung und Zählung ihrer Bluts-
tropfen als infiziert heraus; von Thomas Mann er-
gibt sich, daß seiner Vorfahren selig Uebertritt
zum Christentum schon ungefähr hundert Jahre vor
Christi Geburt erfolgt ist; doch was tuts: „ein
Jude i s t er“.

Solche Spitzfindigkeit ist sicher nicht auf ger-
manischem Mist gewachsen, doch „ein Deutscher
macht auch aus jüdisChen Stoffen etwas“. Kann
überhaupt alles, der Deutsche, wenn er nur will:
die Juden sind „formal ja ganz groß, aber wenn
ein Deutscher sich aufs Formale legt, kann er es
auch erreichen“. Mit einem Wort also: „die
jüdische Mitarbeiterschäft ist nicht nötig“. Zumal
durch sie ein unruhiger Geist „in uns“ hinein-
komrnt, denn „die Juden sind viel neuerungssüch-
tiger als wir, sie müssen alle paar Jahre was Neues
häben“. Natürlich sind sie „alle radikal“ und neigen
zu „gewissen politischen Richtungen“, deren Namen
auszusprechen der Alldeutsche natürlich nicht wagt.
Bedenklicher wird das Verfahren der unzweideu-
tigen Dreideutigkeit, wenn erklärt wird, daß „unser
deutsches Volk durch Verbrechen und Geisteskrank-
heiten heruntergekommen ist“, und daß „eine Masse
Volkskrankheiten zunehmen“. Was und wen man
mit dieser Andeutung meint, läßt man in diskretem
Bogenlampendunkel. Doch wird die Hoffnung aus-
gesprochen, daß „wir’s schön überwinden werden“;
„haben wir doch schön ähnliChe Perioden gehabt,
wo wir wieder emporgekömmen sind, nach dem
öreißigjährigen Krieg, nach 1806 usw.“.

„lch (Professor Adolf Bartels) predige also ganz
ruhig den Kampf gegen das Judentum in der
Literatur“.

Nun, ich schließe mich aus vollem Herzen an.

B e r 1 i n, Anfang Heuerts 2023
(Nach teutonischer Zeitrechnung).

L. L.

Zum Berliner Vortrag des Herrn Professor Adolf Bartels aus

Weimar iiber Judentum und deutsche Literatur

Das bespuckte Genie

Das Inquisitionstribunal gehöre der Vergangen-
heit an, sagte man mir unlängst, als ich auf Ferrer
zu sprechen kam. Wirklich? Aber ein Psychiater
hatte ja gesagt, daß die Aerzte die Richter der
Zukunft sein würden. Diese Perspektive ist ent-
setzlich! Dann lieber Daumenschrauben und spa-
nische Stiefel als die Zwangsjacke in der Isolier-
zelle, denn das Fangnetz beider ist engmaschig,
sei es nun aus Paragraphen oder psychiatrischen
Theorien gesponnen. Damit aber die Gegenwart
nicht ohne Spuk sei, entdeckte man eines Tages
in Wien das Unterbewußtsein, das man aus einem
Hirne Hiram Witts wie einen Blinddarm heraus-
schnitt. Ich dachte erst, eine neue Groteske von
Gustav Meyrink zu lesen, aber nein, Alfred Holz-
bock sollte recht behalten, daß nämlich nichts roman-
hafter als das Leben sei. Die Psychöanalyse war
erfunden — und wem es nicht darauf ankäm, für
die Sitzung 25 Kronen zu bezahlen, der konnte
bald entdeöken, welchen Reichtum er in seiner Seele
trug. Es war keiner, dem der Analytiker nieht
einen Inzest mit seiner Mutter und Schwester, eine
homosexuelle Liebe zu dem Vater und Bruder nach-
weisen konnte. Aber nicht genug damit. Da die
Untersuchten sich gegen derartige Peinlichkeiten
wehrten, welche die Richter der Gegenwart nicht
dulden durften, so wurden die Richter der Zukunft
zu Nekrophilen und Nekrophagen — und auf den

literarischen Friedhöfen, die in letzter Zeit von AaS-
geiern und lichtscheuem Gesindel ausgeraubt wur-
den, sah man die psychöanalytische Hyäne ihr Un-
wesen treiben.

Leonardo da Vinci ist das neueste Opfer.
Herrn Professör Dr. Sigmund Freud ist es geglückt
„Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“
(„Schriften zur angewandten Seelenkunde“ Heft 7)
über Jahrhunderie hinweg zu entdecken. Freud
weiß, daß Leonardo ein „homosexuell Fühlender“
gewesen ist. Freud weiß aber noch viel mehr!
„Seine Bilder“, behauptet er, „atmen eine Mystik,
in deren Geheimnis einzudringen man nicht wagt;
man kann es höchStens versuchen, den Anschluß an
die früheren Schöpfungen Leonardos herzustellen“.
Er wagt es nicht, die Bilder zu betasten, weil ihm
sonst Herr Bode, der seine Kenntnisse beim Ent-
dedken der Florabüste bewieS, auf den Kopf kom-
men würde. Er wagt es nicht, lieber greift er dem
Leonardo an die Genitialien. Aber nirgends steht
bei ihm, daß die Flora ein Strichjunge ist oder eine
Lesbierin, oder zum mindesten ein Transvestit.

„Die Gestalten sind wieder mannweiblich, aber
nicht mehr im Sinne der Geieiphantasie, es 1 sind
schöne Jünglinge von weiblicher Zartheit mit vveibi-
schen Formen, sie schlagen die Augen nicht nieder,
sondern blicken geheimnisvoll triumphierend, als
wüßten sie von einem großen Glückserfolg, von
dem man schweigen muß:; das bekannte berückende
Lächeln läßt ahnen, daß es ein Liebesgeheimnis ist.
'Möglich’, daß Leonardo in diesen Gestalten das
Unglüdc seines Liebeslebens verleugnet und künst-
lerisch überwunden hat, indem er die Wünsch-
erfüllung des von der Mutter betörten Knaben in
solch seliger Vereinigung von männlichem und weib-
lichem Wesen darstellte.“ Leonardos Mutter muß
auch dran glauben, und ihr „verzücktes Lächeln“
und ihr „sinnbetörendes Auge“ reizen den Meister
zu dem „ideellen Inzest“. Nur daß Leonardo beim
Stuhlgang Wollustempfindungen gehabt habe und
der Defäkation eines Pferdes nicht ohne Erektionen
zusehen konnte, bleibt uns erspart, denn beide sind
Glanznummern des psychoanalytischen Programms.

Professor Freud weiß aber auch, daß: „die
Hauptzüge der organischen Konstitution eines Men-
schen durch die Vermengung männlicher und weib-
licher Anlagen im stofflichen Sinne zu erklären sind;
die Körperschönheit wie die Linkshändigkeit Leo-
nardos gestatten hier manche Anlehnung.“

Es sei den Psychoanalytikern hier noch einmal
gesagt: Der Künstler schafft unabhängig von Zeit
und Raum. Er kann Liebesgedichte schreiben, wenn
er impotent ist, und Mäßigkeitslieder im Rausch.
Er durchbricht die Grenze der Sexualität, die die
Psychiatrie gebaut hat; es gibt da keine Norm.
Nur wie er es mit der Defäkation hält, weiß ich’
nicht. Die Analytiker lassen natürlich die Finger
nicht von dem Stoff. Doch ist es jetzt Zeit, an
einen Ausspruch von Kari Kraus zu erinnem:

„Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäfti-
gung geiler Rationalisten, die alles 1 in der Welt
auf sexuelle Ursachen zurückführen, mit Ausnahme
ihrer Beschäftigung.“

R. K. Neumann -Lankwitz

Die Eroberung von Norderney

— und Journale sind unsere Festungen / Heine

Die Herren der Festung „Morgenpost“ haben
ein Fort in Norderney errichtet. Zur Besingung
dieser neuesten Attraktion wurde Norbert Falk ans
Meer geschickt.

So tief kann die Nordsee nicht sein, daß ein
Journalist an ihrer Küste standhaft seicht zu bleiben
nicht fähig wäre, und so viel sie auch lockt und
spiegelt, er wirft die Sandschüufel fort, taucht die
Feder tief in den Wellenschaum, bricht die See-
zungenstummheit und sucht Erholung in mensch-
licher Beredsamkeit vom schweigenden Genießen
des Ins-Meer-Starrens.

Aber die Windstille des Witzes greift nicht in
die schlaffen Gedankensegel, und die Canseriebarke
bleibt im Dünensande der gewöhnlichsten Reklame
stecken.

Ja die „Lesehalle der Berliner Morgenpost“!
Dem Börsenjobber wird sie den Aufenthalt i*
Norderney dadureh genußreicher machen, daß sie
ihn von den letzten Kursen der großen Börsen
informiert, unzähligen Liebenden gibt sie süße Ge-

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