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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 32 (Oktober 1910)
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Przybyszewski, Stanisław: Das Geschlecht, [2]
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Hille, Peter: Das Mysterium Jesu
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0258

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Der Juäaismus hat der schönen nienschlichen
Seele das Oift eingeimpft, das bis auf den heutigen
Tag die Menschheit zersetzt; er ist es, der die
Schönheit widerliich und ekelhaft gemacht hat, der
ihr ein Q'ottesgesdhenk mit Unrat und Kot be-
schmutzt und die höchste, göttliche Offenbarung
mit Aussatz beworfen hat.

Aber schon braust von Ferne die rückkehrende
Woge, sChon schlägt sie hier und da ans! Ufer,
und der Tag naht, da die Seelb sidh' von dem Unrat
des Judaismus zu reinigen beginnt und in neuer
SinnenherrliChkeit und Schönheit ihre Auferstehung
feiern wird.

*

* *

Aber was bedeutet, wenn man meine kurze
rhäpsodisChe Ausführung gel'ten läßt, unsere älte,
verfaulte Ethik, die unser GeschleChtsleben regiert?

Was ist iiberhaupt Ethik? DoCh nichts weiter
afe: das ist mein, das! ist dein, das darfst du nicht
anrühren. Stehle nicht, töte nicht, begehre nicht
das Weib deines N(äChsten.

Viel Schwereres verlangt man sclion in dem
Satze: Du sollst dem anderen das niCht antun, was
du nidht möchtest, daß dir angetan wird. Aber
audh das Befolgen dieses Gesetzes ist ein sicherer
und bequemer Weg zu einem wohlgeordneten und
hoChgeachteten Leben.

Das ist so ziemliCh das Wesentlichste, worauf
sich die alte Ethik beschränkt. Der Dekalog konnte
zwar einige tausend Paragraphen in dem deutsChen
ReiChsgesetzbuche gebären, aber all das juridisChe
Geplärre läßt siCh auf ein sehr armseliges Schema
zurückführen.

Wie anders wird sich das Leben darstelkn,
wenn die Menschheit sich nur inach einem ein-
zigen ethisdhen Prinzip richten wird:

Lebe so, wie es deine SChönheit
v e r I a n g t!

Schönheit! Ja — Schönheit!

Aber was ist SChönheit?

ICh weiß es niCht, ich weiß nur was die mei-
nige ist, dje deine, die eurige die kenne ich
niCht.

Darf iCh sagen, was meine SChönheit ist?

Sie ist das Gefühl einer heißen Begeisterung,
die mich alles ringsumher vergessen läßt, die meine
Augen blind maCht, aber um so weiter die Fenster
meiner Seele öffnet; sie ist der fiebernde Auf-
schwung meines ganzen Seins in einem Orgas-
mus afler meiner Seelenkräfte, der kalte Schauer,
der mich durchläuft: das einzige Kriterium, daß
ich etwas Großes anschaue; slie ist die tiefe Angst
und daS Grauen vor unbekannten MäChten, die iCh
in weitester Ferne wie ein schwaches, Milliarden
Meifen entferntes Sternenlicht aufleuchten und
wieder verschwinden sehe, und sie ist das feier-
liclie Pathbs am Tage heiliger Feste, oder das
Entsetzen des GeriChtes am jüngsten Tage, oder
der SChrecken, der den MensChen in eine Safe-
säule verwandelt.

Alles, alles, wias nur die Augen von sich nicht
lbsreißen läßt, alles, wlas miCh am Bioden fest-
sehmiedet, was mlch mit Verehrung oder mit Grauen
durChsChauert, das mein ganzes Sein in die hef-
tigste Vjbration versetzt,

das jst „meine“ Schönheit!

Das einzige M,aß für mejne SChönheit ist die
Intensität und Dauer des GefühlS oder vielmehr
der ErsChütterung, in die iCh durch sie fversetzt
werde.

SChönheit ist nur indijviduell, sie kann nur immer
„meine“ Schönheit Sein.

Ein objektives Schöne ist Unding, man kann
höChstens seine eigene Schönheit einem anderen
suggerieren_

Nur das Eine:

Alles ringsherum kann zur SChönheit werden,
und um wie !viel mehr die größte, geheimhisvollste
MaCht, die das Leben von einer Ewigkeit zur an-
deren beherrscht —!

Die höchste Ethik besitzt derjenige, der alles
zur SChönheit umzuwerten versteht, weil nur und
einzig allejn |das Schöne ethisch sein kann.

Und so aufgefaßt, ist das Geschfecht mit allen
seinen Abgründen, mit seiner furChtbaren Tragik,
mit seiner jaudhzenden Lust und seinem unsäg-
lichen Jammer, mit all den unentwirrbaren Rätseln,
Geheimnissen, Ab- und SChleichwegen im höchsten
Sinne ethisch, und die Bestätigung des GesChfechts-
triebes im höChsten Sinne ethisch, weil schön.

„Et tout est effrayant lbrsqu’on y songe“, sagt
Maeterlinck, und in diesem Ausspruch steckt die
Quefle aller Schönheit. Denn dies furchtbäre
„effrayant“ ist der Urgrund der SChönheit.

Nur was mich auf die Kniee wirft, was mic'h
mit Grauen und Angst yor unbekannten Mächten
erfüllt, was miCh zur demütigen EhrfurCht und dem
Gefühl meiner elenden Kleinheit zwingt, ist schön.

Man muß nur verstehen, sich in die geheimsten,
verhorgensten Wnkel jeder Sache zu vertiiefen, den
entlegensten Urgrund aller Gründe zu erfassen
suehen, jedem Ding bis an seine unterirdisChe Quelle
zu folgen, und Von den Untergrundswellen siCh
durchbeben lässen, wenn auch ! das Meer spiegelglatt
Vor unserem Augen fiegt.

Man muß sich mit einem Wort in dies ent-
setzlidie „effrayant“ Versenken, dies unfaßbäre, dies
geheime Grauen, das auf dem iBoden eines jeg-
liChen Dinges liegt, üm in seiner Seele die heftigste
Vibration hervOrrufen zu lässen, den heiligen
Schäuer, der, ich ! wiederhole es: das einzige Kri-
terium der SChönheit ist.

Und was ist die SChönheit der Konvufeionen
eines Ozeans während des Taifuns. Was ist die
Schömheit des Feuergischt, den ein Vulkan her-
aussdhleudert, was ein DiluViium, das eine ganze
Welt unter seinen Fluten begräbt, gegen die SChön-
heit der geheimnisvollen Macht des Geschlechtes! ?

Und darauf kommt es an:

Das einzige moralisChe Gesetz für den neuen
Mensdhen, Viefmehr für den Menschen, der seine
Auferstehung feiert, ist die SChönheit.

Sobald der Mensdh lernen wird, das Geschlecht
afe schön und heilig zu betrachten, wird seine
Betätigung 'des GesChlechtstriebes schön und heilig
sein; und nur der wird seine Seefe beschmutzen
und besudelh, der in dem GesChlecht Sünde und
Unrat findet, und doch der „ekeilhaften“, „siündigen“
Kraft des Ffeisdhes folgt. Und ein solcher Mensch,
nur er allein ist — Schwein!

Und jeder seiner Geschfechtsakte wird widerlich
und ekelhäft sein, weil er gegen das einzige Prinzip
der Ethik, gegen die SChönheit bündigt.

Der einzige, der die lbgische Konsequenz seiner
AnsChauung gezogen hat, war Weininger. Mit Üer
Verneinung des GeschleChts war für ihn jegtiche
Distanz zulm Leben Verlbren. Heil dir, o Strindberg!

Freilidh, freilich werden Jahrhunderte vergehen,
bis Üie MensChheit sidh von dem Schmutz wird
reinigen können, bis sie die Himmelfahrt der reinen,
der geheiligten Sinnenlüste wird feiern können und
eine Wiedergeburt in SChönheit durch — das
Gesdhleciht!

Ende

Das Mysteriuin Jesu

Von Peter Hille
Aus dem Nachlass

Atheistisehe Falter

Ein Vorsymbol

Auf reichweichem, tiefgrünem Moospofeter liegt
ein Totenschädel. Er liegt da wie Kroninsignien
auf einem SammetkisSen, das vorsichtig, selbst-
gefällig ein blonder Page trägt, und hebt auf seiner
üppigen Unterläge so mager sidh ab, sieht so
kiägendhohl aus, sauber dürftig. Aus den Augen-
höhlen aber sprießen ihm fröhlich je eine Aurikel,
deren wie schöner Mädchcnhals feinstrotzende
Stengel als Augennerv den Sehgang füllen.

GesChäftig wiie eine Untersuchungskommission
oder kundigbeflissene Ardhäologen suchen zwei
Falter, ein Admiral und ein Pfauenauge, die ge-
heimnisvoHe Lebensruine ab.

Sie durchwühlen den tiefrotsammtenen Augen-
stern der Aurikeln, kriechen in die engsten fföh-
lüngen und achten dabei nicht ihres gefährdeten
Pradhtgewandes. Nun erblickt der Admiral die
Pfeilnaht. Entrüstet, naChdenklich, nachdrucksam
entrüstet hält er jnne : „Und hier ist audh geflickt!“
Und noc'h bedeutsamer sieht er seine Genossin an.

„Voltaire!“ haudht diese.

„NiCht Voltaire, meine Gnädige, Büdhner.
Voltaire war noch Deist, und wir sind dodh
Atheisten!“

Und entrüstet, mit kräftigen Bewegungen stutzt
er 'die beim Denken etvvas in Unordnung geratene

Uniform wieder zurecht, und beide machen sich
davon.

Atheistisdhe Falter!

Und doch blüht frühlingsgrün die zarte Luft
des jungen Lenzes und andächtige Hummeln spielen
die Orgel.

Und dazu atheistisChe Falter!

Mariä Empfängnis

Das Kind des Tempefe war niemals irdisch,
nie stofflidh Verdunkelt gewesen.

Nidht einmäl Spiel und Scherz, Reihentanz, Be-
wegungs- und Stimmenfreude an sidh und den Ge-
spielinnen hatte sie vorbesdhäftigt, die heitere
Dienerin des Tempels, die demütig beflissene Ge-
hilfin. Kein Verlangen nadh dem saftprallen
Herzen einer Frudht, eines Kindes aus dem Pflän-
zenreich, kein Schönheitsdrang nach dem duften-
den Liede aus Farbe und Duft, der blühenden
Weiise Ider Blume hätte dem jungen Willen auch
nur eine Regung entzogen. Nur dem himmlisdhen
Vater, dem Gotte Israefe, Öem Herrn der Heer-
sdharen, der niederwirft die Hochmütigen und die
Bedränger seiner Kinder, die Hafestarrigen und Un-
besChnittenen des Herzens, aber erhebt die Ver-
demütigten, ihm, vor dem die Blitzie sdhreiben die
Sprüdhe seines Zürnens und die Donner bläsen
die Posaunen seines Nahens, dunkfe, wudhtig
schmetternde Posaunen. Er aber nahet lieblich wie
das Säuseln im Rosengebüsdhe des Tales von Saron,
ihm allein war ihr Wesen ergossen.

Und das Erste, Einzige, was in ihrem jungen,
züchtigen Kinderhirne groß und sicher sich ein-
grub unter dem deutenden Finger der Mutter Anna,
das war das Buch des heiligen Gesetzes.

Und ihr erstes Lallen war Gebet.

FeierliCh war ihre Kindheit aufgewachsen jn
der heiligen hodhgetönten Einsamkeit des Tempels.

Nur Frömmigkeit sah sie, Opfer und Gebet,
hin zum gütig erhörenden Vater. Und ihr frommer
Fleiß, die ernste Anmut ihrer weiblichen Kunst-
fertigkeit wob äm Sdhmuck des Hauses, in dessen
Dienst sie sich gestellt hätte.

Und ruhete sie ihre Finger streckend aus, sie
legte sie zum Gebet zusammen. Und neben ihr
betete die Blüme des frommen Gebetes: die Lilie,
die Blüte unantastbarer Reinheit.

Deren makeWoser Keldh war der heranwachsen-
den Jungfrau audh hier an heiliger Stätte ein
sdhärferer Mahher zu unausgesetzter Flücht und
Wadhsamkeit, die ja ist die Tapferkeit der Seele.
Die Seefe kann stäubdhenloser sein als irgendwas
in der Welt, und den König und Meister der Seelen
erfreuen und erquicken in seiner wunschfosem
Heiligkeit.

Und je mehr Tugend, so mehr Pflege, so kost-
barer wird siie, um so mehr wird i,hr naChgestellt,
um so mehr muß sie behiitet werden.

Maria betet, sie hät ihre zarten Finger vor
den gesdhlbssenen Augen und sieht nach innen,
zurück nach Üdm Urquell ihrer in Andachtsglut
zitternden ßeefe.

Un,d dieses Lidht ihres Geistes, das schbn afe
kleines Flämlndhen so hell gebrannt hat vor dem
Herrn und stündlich langsam gewachsen ist wie
Gestalt und Alter, und heller geworden zugleidi
mit der Einsidht — nun atmet es tief und dehnt
sidh höher vior Üen stilein, den sanften, heitern,
Iden leiser spiegelnden Augen des Hödhsten. Sein
Herz bewegt sich. Und seine himmefergossene
Urkraft gjänzt heller hervor, aus ihrer heiligen
gütigen Strenge, die Gottheit wallt, und aus der
Allmadht flutender ZufrieÜenheit sprießt wie ein
Stengel Üer Geist: hellfeste Tat.

Auftragahnende Engel glühen vor Lust des
Gehorsams, flügstraffem Eifer. Wangenzarte
Freuüe aber glüht in den Antlitzen der Bleibenden
still. FröhliCh schwingen des Göttlichen Zweige
und werfen ihren Strauß aus Geisterwelt der lau-
tersten Seelengestalt, dem edelsten Gruße aus
Erdenland.

Da voflendet ein Strahlenbogen den dunkelent-
schlummerten Blick der Betenden.

Vor ihr steht eine helle, freundliChweiche, wie
Befehl' einer gütigen Gotthcit weichhärteste Licht-
gestalt, und lodert reine prüfende Züge.

Es atmet hier Jenseits und sieht mit den dün-
nen, strengen Nüstern, die wie Geisterlüft zittern,
aus wie Zorn. Und ist doch kein Zorn, sondern Ruh
und Wesenheit.

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