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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 15 (Juni 1910)
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Leppin, Paul: Daniel Jesus, [6]: Roman
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Lasker-Schüler, Else: Gedichte
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Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso, [11]: Ueber die Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0122

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Qrund seines Herzens, in dem zwischen grünen,
felsigen Kerkern und wilden Korallenschlössern,
zwischen den schwarzen, gespenstischen Schatten
der Steine und den schaurigen Fahrten der Meer-
frau seit vielen vergeudeten Jahren in einem klei-
nen Haus ein blasses, wunderbar verhärmtes Qe-
sicht mit den verlöschenden Augen der Sehnsucht
sich an die Fensterscheiben drückte und nach dem
Schiffe der Meerfrau sah. An dieses Haus und an
dieses Fenster hatte Daniel Jesus fast schon ver-
gessen. Jene andere große und törichte Sehnsucht
führte ihn durch die Wunder und die blinden Lichter
der Täuschung steuerlos irgendwohin. Es hatte
einen sonderbaren und großen Reiz fiir seine Seele,
daß sie nicht wußte, wohin sie fuhr, und wo das
Riff war, das das Schiff der Meerfrau verschlänge.
Damals, in jener hellen, kostbaren Mondnacht, in
der Nacht Valeskas, war es ihm unter den suchen-
den Augen wie die Barke des fliegenden Holländers
in der Weite verschwunden. Es wäre niemals
wiedergekommen, und er hätte in dem Hause mit
dem weißen Fenster lange und lange gelebt und
seine abenteuernde Sehnsucht — die wäre wie ein
Traum von ihm gegangen. Aber das Blut Valeskas
wollte es nicht. So fuhr er denn weiter ins Dunkle
hinein. Und er erhellte seinen Weg mit den roten
Bränden seiner Wünsche und Taten. Sein Herz war
stark, und er vermochte viele Menschen damit zu
bezwingen. Er konnte das Reich Schuster Antons
wegblasen wie der Sturm ein Boot. Was ging ihn
ihr Notruf und ihr Schrei nach Hilfe an. Die
alternde Frau des Schusters wollte er mitnehmen
ein kurzes Stückchen seiner Fahrt. Er wollte ihr
brandrotes Haar wie eine Leuchte durch den Abend
fiihren, der voll von den stumpfen, glotzenden
Fischen und wunderlichen Wolken war.

Frau Margarete sah umher. Sie sah die Men-
schen feige und geknickt auf der Erde liegen und
atmen. Ihre Qebete kamen wie ein Schluchzen zu
ihr hinauf und rannen über ihren Leib beinahe wie
eine sinnliche Berührung. Sie stand und schaute
zu ihnen hinunter. In viermal zwölf Stunden waren
es sieben Tage, seit Daniel Jesus ihr befohlen hatte,
zu kommen. Sie mußte sich schmücken und schön
sein. Ihr blühendes, glutrotes Haar mußte sie käm-
men und wieder um ihren Kopf wie eine Krone
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für ihn, damit seine Lüste ihr Blut nicht Ieer und
ohne Flammen fänden, damit sie eine rote Stunde
um einen Körper legen könnte wie ein brennendes
Tuch. — Auch der Schuster stand aufrecht und ge-
rade wie ein Baum. Er wußte nichts von dem
Kampfe Margaretens und ahnte nur alles, was sie
litt, wenn er ihre Stimme in den frommen Liedern
taumeln hörte, die sie abends sangen. Es kam eine
Traurigkeit und eine barmherzige Strenge über ihn.
Von den Erlebnissen jenes Abends, da sie in Scham
und Liebe zitternd vor Daniel Jesus stand, nackt
und voll Demut, hatte ihm niemand ein Wort gesagt,
und er fragte auch nicht danach. Er hatte damals
einen großen Schrecken in den Augen seiner Frau
gefunden und gewartet, bis sie zu ihm käme, um
ihm alles zu erzählen. Sie kam nicht und schwieg,
und er überließ sie ihren Zweifeln. So ein bischen
Verachtung erhob sich in ihm für diese Menschen,
die mit Qott und dem Teufel zankten, die nicht
beten und nicht sündigen konnten und mit tastenden
Händen im Finstern standen ohne Licht. Auch Mar-
garete war so eine. Nur besser als die andern und
sie lag nicht auf der Erde wie jene. Sie stand
aufrecht wie er und ließ sich schütteln. Wie hatte
er sich früher groß gefühlt neben diesen allen! Er
war stark, und seine Seele hatte kein Fieber. Er
hob seine Hände weit empor, hoch über alle andern
und rief zu Qott. Und Qott war immer gekommen
bisher und hatte ihm geholfen, seinen Glauben zu
tragen. Er hatte gemeint, daß er wirklich der
Messias dieser Armen und Kranken sei, die zu sei-
nen Füßen weinten wie die Kinder. Nicht Christus
und kein Prophet, aber ein starker und ruhiger
Mensch, der sie durchs Leben hätte führen können
bis zum Ende. —

Und nun kam dieses Mädchen da, diese blonde
Heilige, deren Verstand von Visionen zerrüttet war,
und sagte ihm, es sei alles umsonst gewesen. Es
sei ein andrer und schlimmer Prophet gekofnmen,
um sie zu züchtigen. Und sie alle würden unter
seiner Peitsche den Rücken krümmen, hilflos und
bereit, ihm zu dienen.

Auch er! Auch er!

Schuster Anton sah umher. Ueberall sah er
Lippen, die Qebete sprachen, und Hände, die sich
falten wollten vor der Qnade. Wo war nur der
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Feind? fragte er sich wie jene, wo war er nur? Und
sein totenbleiches Qesicht zuckte vor Qual.

Ihm zu Füßen lag Hagar, die Zigeunerin. Seit
dem Abend, da sie dem Baron mit der Hand ins
Qesicht geschlagen hatte, war das Qift in ihreni
Blute wie ein böses Kraut toll und verderblich ge-
worden. Es wuchs und bliihte unter ihrer Haut und
nahm ihr das Lachen aus der Kehle und quoll unter
ihren heißen Nägeln hervor, wenn sie in Qier und
Entsetzen ihre Zähne in die Finger grub. Sie war
damals noch am selben Abend aus dem Hause des
Barons gegangen, und keiner wußte, wo sie seit
jener Zeit aß und schlief, und was sie tat. Jeden
Abend kam sie zu dem Schuster Anton, wenn alle
die Menschen da waren, um zu beten, und legte sich
neben ihn zu Boden. Sie sah ihm zu, wenn er sprach
und sang, und ihre Augen tranken seine Qeberden.
Ihr Mund sprach wie im Irrsinn alle Worte mit, die
er zu seinem Qotte sagte, und keuchte nach seiner
Liebe. —

Schuster Anton sah die Zigeunerin. Er sah, wie
sie den Kopf zurückwarf und aus ihrem klopfenden.
gespannten Halse ein Röcheln kam. Er sah ihren
magern Leib, der sich zu ihm hinaufbog wie der
einer Katze. Da war es ihm, als ob er heute zum
erstenmal in ihre Augen schaute. Tief und schim-
mernd brannten sie auf seiner Wange, auf seiner
Stirn und seinem breiten, häßlichen Mund. Sie
kietterten an seinem Körper empor und machten
ihn zittern. Sie brachten ihm Glut und Kälte und
machten seine Qebete lahm wie die seines
Weibes. —

Da kam ein Entsetzen über ihn, sinnlos und un-
geheuer, daß er schrie. Die röchelnde Zigeune; in
wand sich am Boden und küßte seine Fiiße. Der
Schaum stand vor ihrem Munde und flog hinauf zu
den harten Händen des Schusters und war heiß wie
siedender Schnee. —

Er schleuderte sie mit einem einzigen Tritte
weit in die Stube, daß sie mitten unter die Beter fiel.

Das war der Feind — ging es durch seine Seele,
die voll Angst und Schrecken hing. Jetzt war er
verloren, das fühlte er, und er hob noch einmal
hoch und mächtig seinen Leib und trug seine
großen, roten Fäuste in die Höhe und rief:

Komm niemals wieder, Zigeunerin, komm nie-

x /jw r a biucn i luui i i^uii

lllclis WlfcUCi.

Scheu und geduckt schlich Hagar aus der Tür.
Und alle wußten, daß sie trotzdem kommen werde,
denn alle hatten ihre Augen gesehen und fiirchte-
ten sich.

Qedichte

Von Else Lasker-Schüler
Abend

Hauche über den Frost meines Herzens

Und wenn du es zwitschern hörst

Fürchte dich nicht vor seinem schwarzen Lenz.

Immer dachte das kalte Wundergespenst an mich
Und säte unter meinen Füßen — Schierling.

Nun prägt in Sternen auf meine Leibessäule
Ein weinender Engel die Inschrift.

Ein Lied der Liebe

Seit du nicht da bist
Ist die Stadt dunkel.

Ich sammle die Schatten
Der Palmen auf,

Darunter du wandeltest.

Immer muß ich eine Melodie summeu
Die hängt lächelnd an den Aesten.

Du liebst mich wieder —

Wem soll ich mein Entzücken sagen?

Einer Waise oder einem Hochzeitler,

Der im Widerhall das Glück hört.

Ich weiß immer
Wann du an mich denkst.

Dann wird mein Herz ein Kind
Und schreit.

An jedem Tor der Straße
Verweile ich und träume;

Ich helfe der Sonne deine Schönheit malen
An allen Wänden der Häuser.

Aber ich magere
An deinem Bilde.

Um schlanke Säulen schlinge ich mich
Bis sie schwanken.

Ueberall steht Wildedel
Die Blüten unseres Blutes.

Wir tauchen in heilige Moose,

Die aus der Wolle goldener Lämmer sind.

Wenn doch ein Tiger
Seinen Leib streckte

Ueber die Ferne, die uns trennt
Wie zu einem nahen Stern.

Auf meinem Angesicht
Liegt früh dein Hauch.

Die Stimme Edens

Wilder, Eva, bekenne schweifender,

Deine Sehnsucht war die Schlange,

Ihre Stimme wand sich über deine Lippe,

Und biß in den Saum deiner Wange.

Wilder, Eva, bekenne reißender,

Den Tag, den du Qott abrangst,

Da du zu früh das Licht sahst

Und in den blinden Kelch der Scham sankst.

Riesengroß

Steigt aus deinem Schoß
Zuerst wie Erfüllung zagend,

Dann sich ungestüm raffend,

Sich selbst schaffend,

Gottseele.

Und sie wächst
Ueber die Welt hinaus,

Ihren Anfang verlierend,

JJfibfLä.Ue .7-tit hjnaus.

Und zurück um dein Tausendherz.

Ende überragend.

Singe, Eva, dein banges Lied einsam,

Einsamer, tropfenschwer wie dein Herz schlägt,
Löse die düstere Tränenschnur,

Die sich um den Nacken der Welt legt.

Wie das Mondlicht wandle dein Antlitz
Du bist schön ....

Singe, singe, horch den Rauscheton

Spielt die Nacht und weiß nichts vom Qeschehn.

Ueberall das taube Qetöse —

Deine Angst rollt über die Erdstufen
Den Rücken Qottes herab.

Kaum rastet eine Spanne zwischen ihm und dir.
Birg dich tief in das Auge der Nacht,

Daß dein Tag nachtdunkel trage.

Himmel ersticken, die sich nach Sternen bücken —

Eva, Hirtin, es gurren

Die blauen Tauben in Eden.

Eva, kehre um vor der letzten Hecke noch!

Wirf nicht Schatten mit dir,

Blühe aus, Verführerin.

Eva, du heiße Lauscherin,

O du schaumweiße Traube

Flüchte um vor der Spitze deiner schmalsten

Wimper noch!

Qespräche mit Kalypso

Ueber die Musik

Von Alfred Döblin Fortsetzung

Siebentes Gespräch: Giesst Wein in meinefl
Becher/Von den unteren Tonordnungen

K a 1 y p s o :

Du stockst; und ich versteh’ es. Deine Liste
dünkt uns beiden nicht ganz vollständig; nicM
wahr? Ich vermisse das Wort; wie die Sprach-
kunst zur Wirklichkeit steht, hast Du verschwiegen,
 
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