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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 16 (Juni 1910)
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Scheu, Robert: Leitfaden der Weltgeschichte, [2]
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Ehrenstein, Albert: Tod eines Seebären
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0128

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Mittelalter ist daher mit Recht verhaßt und es ge-
hört zu den erfreulichsten Errungenschaften der
Neuzeit, daß wenigstens die allerüberflüssigsten
Jahrhunderte, wie beispielsweise das zwölfte und
dreizehnte endgültig beseitigt sind. Da es bei der
großen Verwirrung der Völkerwanderung geradezu
unmöglich war, auf alle Völker achtzugeben, waren
plötzlich die Franken da, welche natürlich von den
Merovingern regiert wurden. Das Frankenreich
wurde bald in drei, bald in vier Teile geteilt, um den
Königinnen Brunhild und Fredegunde Qelegenheit
zu allen möglichen Qreueln zu geben, bei weichen
die beteiligten Personen jeweils in ebensoviele
Teile zeriegt wurden. Mit dem Fortschritt der Hu-
manität, der ebenso langsam als unwiderstehlich ein-
trat, wurde die Vierteilung immer mehr von der
Dreiteilung verdrängt. In der Neuzeit werden die
Menschen nur in zwei Hälften zerschnitten, wodurch
sich die Hinrichtungskosten, ganz abgesehen von
der Zeitersparnis bedeutend verringern. Das Fran-
kenreich zerfiel in so und soviele Gaue. Wir haben
sie uns paperlgrün vorzustellen. Die Industrie
stand auf einer niederen Stufe. Man erzeugte sie-
dendes Wasser und glühendes Eisen, die haupt-
sächlich für den Qebrauch der Qottesurteile be-
stimmt waren.

Kein Wunder, daß die Hausmeier unter solchen
Umständen eine ungeheure Macht bekamen. Von
der Kürze Pipins macht man sich nur schwer einen
Begriff. Um vorwärts zu kommen, widmete er sich
der Hausmeierei, damals die sicherste Karriere, in
der auch ein Stöpsel vorzügiiche Chancen hatte.
Die Schlacht bei Tours und Poitiers war noch nicht
trocken, als er schon König wurde und eine Dynastie
von sich abstammen ließ. Es sind dies die Karo-
linger, deren tüchtigster Karl der Qroße fünfund-
vierzigtausend Sachsen umbrachte. Widukind war
davon so entzückt, daß er zum Christentum über-
ging. Als Weihnachtsgeschenk wurde Karl um das
Jahr 800 zum römischen Kaiser gekrönt. Die Zeit
bis zum Jahre 814 vertrieb er sich damit, daß er den
Winden deutsche Namen gab, was mit Rücksicht auf
das vorgerückte Mittelalter höchst dringend schien.

Von den folgenden Kaisern hießen die geraden
Otto, die ungeraden Heinrich. Der berühmteste ist
Heinrich der Vierte, der zur Abhärtung im Januar
mit bloßem Hemd nach Canossa ging. Bald darauf
entstand ein so intensives Bedürfnis nach Land-
partien, daß nichts übrig biieb, als die Kreuzzüge
zu veranstalten. Sie fanden genau in der Reihen-
folge ihrer Nummerierung statt und zwar wie vor-
auszusehen war: sieben. Die geographischen
Kenntnisse nahmen außerordentlich zu, der eigent-
liche Zweck der Kreuzzüge; es gab nämlich damals
roch keine Bäedeker.

Die Welfen und Ghibellinen lebten wie Hund
und Katze. Sie drückten das in den Worten aus:
Hie Welf, hie Waiblingen. Besonders der letzte
Ausdruck ist sehr treffend. Friedrich Barbarossa,
der, um das Italienische gründlich zu erlernen, fünf-
mal nach Italien zog, wurde in der Schlacht bei
Legnano aufs Haupt geschiagen und infolge dieses
Verdienstes als deutscher Kaiser anerkannt. Wegen
der vielen Kämpfe hatte Friedrich Barbarossa keine
Zeit, sich zu rasieren, so daß sein Bart durch einen
Marmortisch wuchs. Bald darauf zog Konradin
nach Italien. Dort ließ er sich als Stoff für die dra-
matische Dichtkunst hinrichten. Richard Löwen-
herz war auf die verschiedensten Kaiser und Könige
abwechselnd gut und wieder bös. Friedrich der
Schöne, wurde in der Gefangenschaft so gut ver-
pflegt, daß er sich, in Freiheit gesetzt, gleich wieder
als Qefangener stellte, um Kostgeld zu sparen.
Endlich kam das langersehnte Reichsgrundgesetz
zustande, es war dies ein goldener Bullen, der einen
ungeheuren Wert repräsentierte und im Versatzamt
sehr hoch taxiert wurde. In der Schlacht bei Sem-
pach ersuchte Arnold von Winkelried die Feinde,
ihre ganze Munition auf ihn zu verschießen. Diese
gingen auf den Leim und wurden nun wie die Mai-
käfer zusammengefangen. Sigismund einigte sich
mit Papst Johann dem XXIII. — wo sind die übrigen
zweiundzwanzig hingekommen? — zur Berufung
einer Kirchenversamlmung nach Konstanz am
Bodensee, weil Johannes Huß die Leute gegen eine
so nützliche Institution wie die Transsubstantiation
aufgehußt hatte. Huß konnte sich nicht beklagen,
daß er verbrannt wurde, da er mitten im Mittelalter
auf freies Qeleite vertraut hatte! Er sah seine
Naivität ein und verschied mit den Worten: sancta

simplicitas. Die Hussiten, ein im Norden wohnendes
Volk, welches wahrscheinlich von der Völker-
wanderung übrig geblieben war, machten in ihrer
Wut verheerende Züge in die betreffende Umgegend,
und verwendeten Schießpulver, indem sie erklärten,
es sei zum Schießen. Dem Qutenberg wurde
schließlich das Mittelalter zu dumm und er erfand
die Buchdruckerkunst. Was so leicht war, daß sich
das ganze Mittelalter genierte, sie nicht schon längst
erfunden zu haben und schleunigst verfloß. Knapp
vor Toresschluß erschien noch Qoetz von Ber-
lichingen, ein Krüppel mit einer eisernen Hand, der
sich was darauf einbildete, der ietzte Ritter zu sein.
Er war übrigens nahe daran, zu verbauern, weil er
Urfehde geschworen hatte, wodurch seine Hand zu
rosten begann. AIs man ihn darauf aufmerksam
machte, wurde er kotzegrob und tat jenen sattsam
bekannten Ausspruch, von welchem man nicht weiß,
ob man ihn als Abschiedsgruß an das Mittelalter oder
als Bewillkommnung der Neuzeit auffassen soll.

Tod eines Seebären

Von Albert Ehrensteln

Seit Kaiser Schnurbart diese Mode auf dem
Kontinent kreiert hatte und auch im Königreich
Kujavien jene reizenden Qaleeren, die man Dread-
noughts nennt, eingeführt worden waren, kannte
der Hochmut der Marineoffiziere dieses Landes
keine Qrenzen. Daß Jeremej, der junge Herrscher,
niemals in einer anderen ais der Admiralsuniform
gesehen und photographiert wurde, mußte die
frevelhafte Ueberhebung der Seeleute steigern,
namentlich aber den Neid aller Kasten hervor-
rufen, die bis dahin den Großherrn mit einiger Be-
rechtigung den Ihrigen hatten nennen können. Du-
brogin, der Oberste der Spione, welcher übri-
gens dieser Bezeichnung den Titel eines Polizei-
ministers vorzuziehen liebte, ergrünte vor invidiöser
Wut. Hatte doch früher er den um seine Sicher-
heit bangenden Fürsten besessen und reichen
Sold und große Ehrungen zur Strärkung seiner
dem Regenten teueren Lebensenergien bezogen.
Nun hingegen hatte der treuiose Monarch den
Schutz seiner Existenz den Seefahrern anvertraut,
in deren Gesellschaft er die Tage seines Lebens
verabschiedete.

Dies war so gekommen: die Küste des Reiches,
die Qestade des Blutigen Meeres, beschmutzten
Stämme der Skiapoden und der Monokotyledonen,
und um deren Sprach- und Futterstreitigkeiten
und daraus erfolgenden Aufruhr im Zaume zu
halten, bedurfte es einer stets paraten, bewaffneten
Macht. Da die Seebehörden die nächsten am Platze
waren, hatten sie wiederholt eingegriffen und durch
ihre geräuschlosen Qewalttätigkeiten die Aufmerk-
samkeit des Landesherrn auf sich gelenkt und sie
schließlich in dem angegebenen Qrade zu fesseln
gewußt. Der Oberste der Spione aß vor Wut dar-
über seinen Bart, ja, er ward der Freuden der
Welt überdrüssig. Solches wurde also sichtbar.
Im Königreiche Kujavien wie überhaupt in der ge-
samten Biosphäre sind die meisten Wesen ge-
nötigt, durch Einsatz und Preisgabe einzelner Kör-
perteile und Fähigkeiten die übrigen zu ernähren.
Dieses Lebensgesetz führt zu fast grotesken Nutz-
anwendungen. Zum Beispiel eine verhältnismäßig
große Anzahl von Mädchen kann nicht anders als
durch jedermann anheimgestellte Benützung ihrer
Leibesöffnungen den Magen mit Speisen füllen.
Diese nichts als tragikomische Beschäftigung hatte
aber irgend ein alter Prophet, der sich von
Gurkensalat nährte, scheinbar verurteilt. Demzu-
folge und aus vielen anderen ebenso triftigen
Qründen müssen die Mädchen, wenn sie trotzdem
auf die beschriebene Art zu eiweißhaltigen Sub-
stanzen gelangen wollen, Tribut zahlen, die Qrau-
samkeit der über sie verhängten Gesetzesdrachen
einlullen, in Schlaf wiegen. Also mußte, gleichwie
jedes einzelne der Weibchen Körperteile zugesetzt,
prostituiert hatte, auch die Qesamtheit, die Zunft,
eines ihrer Qlieder opfern, es den Spionen zum
Fraße hinwerfen. So ward denn eines Tages nach
alter Sitte ein Mägdlein namens Lisaweta seiner
Schönheit wegen zum Opferlamm auserkoren.
Mit Blumen, Bändern und Edelsteinen aufs herr-
lichste geschmückt, einen Myrtenkranz auf dem
Haupte, wurde sie von ihren weißgekleideten Qe-

1

nossinnen unter frommen Qesängen unsere^
Dubrogin dargebracht, daß er segnend seine Hän^
auf sie lege und die Blüte ihres Leibes verkost
Er aber befahl ihr nicht, ihren Körper zu entblößi
und sich zu lagern, der Tyrann gab ihr keinen se'
ner Blicke, die Lieder ihrer Augen und der Qesai ,!
ihrer Schenkel rührten ihn nicht, und das arrf’
Kind, sich so verschmäht sehend, vergoß reichlid*’
Tränen und es brach ihr das Herz.

Die Späher in ihren Höhlen sannen vergeberj
darüber nach, was wohi die Mißstimmung ihrt ’
Häuptlings hervorgerufen haben möge? Aber eint !
unter ihnen, der bislang noch nie eine Erhöhur'j
der zu seiner Mast bestimmten Speiserationc 1
liatte bewirken können, im Qegenteil von jede
diesbezüglichen Bittgang mit zertretenem Zylind i
heimgekehrt war, besaß ein kluges und ehrgeizigc
Weib. Sie erriet die Ursache der Verstörtheit d
Qewaltigen, und nicht genug an dem: es fiel il
ein Mittel ein, wie geschaffen, dem Regenten d
Freude an dem Umgang mit den Wassermännef
zu zerstören. Wenn nämlich die Seebären nac
langer Fahrt ans Land steigen, befälit sie rege
mäßig eine unendliche Sehnsucht nach Seebärinne
Viele aber unter ihnen, nicht fähig, eine groü
Ewigkeit enthaltsam zu überstehen, hatten ih«
Lust mangels an so vollendet angepaßten Materief
wie es Mädchen sind, an minder geeigneten 01
jekten gebüßt und fürchteten nun, dadurch f
Liebenswürdigkeit verloren zu haben, die Pr
fungen bei ihren Damen nicht zu bestehen und df
Strenge des Auswahlgesetzes zum Opfer zu fallei
Obgleich manche aus ihrer Mitte berufen ware
dereinst an der Spitze ganzer Geschwader i
stehen, hatten sie doch nicht so viel allgemeifi
Bildung, um zu wissen, daß diese Verstimmuü
ihrer Generationswerkzeuge nur kurze Zeit ai
halten, späterhin, kraft eines Weltprinzipes, d»
Funktion das Organ tauglich schaffen würde. Uf
wissend lechzten sie nach Qewaltmitteln, die ihre
Liebeswillen ins Ungeahnte steigern könntef
Diesem ihren Wunsche kam die Frau jenes beföf
derungssüchtigen Unterspähers entgegen. Sie ef
innerte sich der Tage, an denen sie sich zu ihre
höchsten Befriedigung gemeinsam mit dem uralte'
Fürsten Yohimbin jenen transversalen Schwingm 1
gen überlassen hatte, deren innerer Qang un (
Rhythmus vielleicht dem der Bewegungen sehfi
süchtig an- und auseinanderprallender Sterb'
gleicht. Tückisch sandte sie zahlreichen Kapitämf 1
magische Zigarren, die angeblich ein vortrefflich^
Aphrodisiakum waren, in Wirklichkeit jedoch ein« 1
Stoff enthielten, zu dessen nebensächlichen Eigeh
schaften es gehörte, das menschliche Leben wesen ('
lich abzukürzen. Ein Meergreis versuchte eine df
Zauberzigarren und sein Leib gab sich den Wif
kungen des Qiftes hin.

Dies geschah gerade zu der Zeit, da ein atf
sehnliches Kometenmännchen sich der Erde
Liebe zu nähern begann. Er wollte ein zart£ :
Liebesspiel spielen, die Veteranen aber und di'
Bürger beschlossen aus einer Art Patriotismus, ihf'
Schädei recht hart zu machen, um, soviel an ihne*
lag, Widerstand zu leisten, die Erde zu verteidigei*
Vielleicht ganz gegen die Absicht ihrer Herrin uh‘
Ernährerin, die wohl Iängst von solchem Zusammefi
stoß geträumt hatte . . .

Trotz der Koinzidenz mit einem so seltene’
Ereignisse rief der Tod des Admiralaspirante’
großes Aufsehen hervor, von den Spionen b e\
stochene Qazetten führten den Meuchelmord
avancementslüsternen Brotneid zurück, und Jer e‘
mej, der junge König von Kujavien, entsetzt üb« 1
so niedrige Qesinnungen und für sein Leben baff
gend, mied die Gesellschaft der Seeteufel uü (
flüchtete eilends in die Windeln, die Dubrogin
ihn bereit hielt. Doch bald ermannte er sich wied 6'
und verließ seinen Schlupfwinkel, ja! er konnte d e\
Augenblick nicht erwarten, da ihm der Leibdien^!
die Admiralsjacke ausgezogen haben würde. Uf 1*
jetzt geht der glorreiche Monarch auf und ab, ras 1'
los auf und ab, Extraausgaben der namhaftestßj
Zeitungen sind in Vorbereitung, alle Untertan^
harren in gespanntester Aufmerksamkeit des M ö',
mentes, der ihnen die Nachricht bringt, welcl*j
Uniform er nun tragen wird — anläßlich des
fruchtungskometen.

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