Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 52 (Februar 1911)
DOI Artikel:
Nr. 53 (März 1911)
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Der Kaiser von Utopia, [13]: Ein Volksroman
DOI Artikel:
Benndorf, Friedrich Kurt: Mystik
DOI Artikel:
Hoddis, Jakob van: Der Tag der Stadt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0427

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Alles so ohne Mühe ins bewusste kleine Augenleben
umgesetzt werden könnte — wenn Alles so leicht kon-
trollierbar wäre — das würde uns doch keine Vor-
stellung von der Qrandiosität des uns sich nähernden
Weltlebens bieten.“

„Schon richtig“, erwiderte Herr Bartmann, „aber
springen wir doch einmal. Gibt es im Traumzustande
unbewusstes Weiterarbeiten der Sinne, so gibt es viel-
leicht im Todeszustand ein unbewusstes Weiterarbeiten
der Sinne. Und vielleicht haben wir mal alle unsere
Todeszustände ebenso gut in das Tageslicht des kleinen
Auges hinüberzuziehen, wie unsere Traumzustände.
Können Sie sich unkontrollierbare Vorstellungsver-
knüpfungen im Traumzustande denken ?

Können Sie glauben, dass die Leiche eigentlich noch
weiter lebt — ein anderes Leben?“

Die Sterne funkelten hoch über den beiden Herren,
die mit ihren Pelzstiefeln durch den hohen Schnee
stampften und sich dabei die Hände in den Pelzhand-
schuhen rieben, da es sehr kalt war. Und Herr Haber-
land sagte leise:

„Wie die Sterne leben, wissen wir auch nicht
ordentlich. Aber dass sie leben ist uns nicht zweifel-
haft. Oh jal Der Traumzustand in dem wir uns so
befinden, ist für uns richtunggebend — das Leichen-
leben wird für uns ein ähnliches sein wie das Leben
im Traumzustande — ein entfernt ähnliches. Ich glaube,
wir werden bald überzeugt sein, dass wir früher schon
sehr oft gestorben sind. Ich glaube an eine Materiali-
sation unseres Geistes — der könnte doch eine Aether-
komposition sein, die wir vorläufig mikrospisch noch
nicht wahrzunehmen vermögen Manche Sterne kommen
uns auch wie Leichen vor — und es ist doch nicht
anzunehmen, dass sie tot sind. Ich glaube überhaupt
nicht an den Tod.

Da stürzten dem Herrn Bartmann die Tränen aus
den Augen und froren auf der Backe an.

Herr Haberland aber fuhr fort:

„Sehen Sie nur, wie prächtig über uns die Sterne
funkeln und blitzenl Was die erst ist Traumzustande
und im sogenannten Todeszustande erleben müssen 1
Aber seien wir nicht neidischl Wir können wahrlich
schon genug mit unseren Sinnen empfinden — wachend
sowohl — wie träumend. Jawohl! Wir müssen immer
weiter aufwachen. Wir müssen auch das Totsein dem
Lebendsein immer mehr zu nähern suchen. Vielleicht
entdecken wir in uns noch Dinge, die wir in früheren
Todeszuständen in uns aufgenommen haben — und
vermögen sie unserm Augen- und Ohrleben anzu-
passen. Oh, wir können tatsächlich noch viel lebendiger
werden — dazu brauchen wir noch nicht einmal neue
Sinne in uns zu entdecken. Es lässt sich doch alles
Mögliche für jeden Sinn vornehmlich gestalten. Was
da ist, lässt sich auch für jeden Sinn empfindbar
machen. Wenigstens sollte mans meinen. Dass das
nicht so schnell geht, ist ganz vortrefflich — denn
wir haben schon genug des Feinen, wenn wir nur
Auge und Ohr genügend schärfen und die anderen
Slnne nicht vergessen.“

„Könnten Sie“, bemerkte da Herr Bartmann, „wohl
annehmen, dass diejenigen Leute, die sich nicht be-
mühen, aus ihrem Leben die denkbar grösste Fülle
eines sogenannten Weltlebens herauszuziehen — dass
diejenigen Leute, die zu faul sind dazu, durch längere
Todeszustände bestraft werden könnten oder überhaupt
von jedem ferneren Erwachen ausgeschlossen werden
könnten ? “

„Von jedem nicht“, versetzte Herr Haberland,
„denn der Geist, der uns schuf und uns sicherlich
immerzu führt, hat ganz bestimmt keine kleinlichen
rachsüchtigen Gedanken. Er straft nur, wenn wir ihn
nicht empfinden, durch trübe Stimmungen. Aber diese
trüben Stimmungen sollen uns nur wieder veranlassen,
seine Nähe zu suchen.“

„Also“, rief nun der Herr Bartmann, „ist es jeden-
falls ganz richtig von mir gewesen, wenn ich immer
sagte, man müsse das Leben überall heftiger sehen;
ich wollte ja nur populär ausdrücken, dass wir immer
wacher — immer wacher leben sollten.“

„Ja,“ versetzte Herr Haberland, „nur stellen Sie
sich aber vor, was mir eben einfällt: Sie müssten zu
dem Kaiser Philander nach Schiida fahren und ihn
wacher machen. Der Kaiser müsste für Ihren Be-
lebungsplan gewonnen werden; er müsste, so wie Sie,
Herr Bartmann, überail herumfahren und den Leuten
klar machen, dass sie zuviel schlafen und zu wenig
dabei die Traumzustände ins wache Augenleben über-
setzen. Und Sie müssten dem Kaiser Philander sagen:
so schlaf doch nicht hier in Schilda — der grosse

Sumpf an der Sturmküste ist In Bewegung. Wer weiss,
was daraus wirdl Schlaf nicht, Kaiserl Jetzt kannst
Du zeigen, dass Du nicht bloss zum Spass Kaiser ge-
nannt wirst. Jetzt kannst Du zeigen, dass Du ein
Führer der Geister bist — ein Gedankenkaiser I Einer,
der auch des Volkes Gedanken leakt — so ähnlich
wies der grosse Geit tut, den wir Volksgeist nennen
und als Gott verehren.“

Herr Bartmann blieb stehen. Die Sterne funkelten.
Herr Haberland blieb auch stehen, und dann sagte der
Herr Bartmann ganz Ieise und sich scheu umblickend:

„Kann uns hier niemand hören? Können Sie mir
schwören, über das, was ich Ihnen jetzt aavertrauen
will, zu schweigen — unter allen Umständen?“

„Ich schwörel“ gab Herr Haberland leise zurück.
„Ich bin,“ erwiderte da der Herr Bartmann noch
leiser als vorhin, „selber der Kaiser Philander. Aber
Sie dürfens keinem sagen. In Schilda sitzt der Flug-
techniker Sebastian und tut so, als wäre er Philander.
Der Sebastian schweigt auch und ausser uns dreien
weiss keiner von dieser Geschichte.“

Der Herr Haberland machte grosse Augen, sah
den Kaiser fest an, reichte ihm die Hand und sagte
einfach:

„Das freut michl Das ist kaiserliche Artl So
hätt ich’s an Ihrer Stelle auch gemacht.“

Die Herren schüttelten sich die Hände in den
Fausthandschuhen, und ein Unterbeamter steckte den
Kopf zu einem naheliegenden Fenster hinaus und
rief:

„Meine Herren, es sind fünfundvierzig Grad Kältel
Sie müssen hereinkommen, sonst passiert Ihnen was.*
„Kommen Sie nach Ulaleipu?“ fragte der Kaiser.
Aber der Herr Haberland schüttelte den Kopf und
sagte leise:

„Ich bin hier dem Nachthimmel so nahe. Ich
möchte nicht — wirklich nicht.“

Da gingen die beiden Herren Arm in Arm in die
warmen Stuben hinein.

Fortsetxung folgt

Der Tag der Stadt

Von Jakob van Hoddis

Am Abend

Ach! die glitschig nasse Planke
War ihm mächtig unbequem.

Sass er doch auf einer Banke
Und bedachte ein Problem.

Dachte, dachte; er war wichtig
Denn er gab sich das Gebot:

„Löse jene Frage richtig
Oder mach dich, bitte, tot.“

In der Bülowstrasse war es.

Ja, es war ein Abenteuer
Heldisch war und voll Gefahr es
Ward er dümmer? Ward er schläuer?

Ja! er sass auf einer Banke
Und er hatte ein Problem
Und die pitschenasse Planke
Ward ihm auch sehr unbequem.

Die Stadt

Ich sah den Mond und des ägäischen
Grausamen Meeres tausendfachen Pomp
All meine Pfade rangen mit der Nacht.

Doch sieben Fackeln waren mein Geleit
Durch Wolken glühend, jedem Sieg bereit

„Darf ich dem Nichts erliegen, darf mich quälen
Der Städte weiten Städte böser Wind?

Da ich zerbrach den öden Tag des Lebensl“

Verschollene Fahrtenl Eure Siege sind
Zu lange schon verflackt. Ah I helle Flöten
Und Geigen tönen meinen Gram vergebens.

Der Traum

Jawohll Wir träumen oft von grossen Prünken
Und durch die goldene Stadt, als Triumphator
Kutschieren wir erhaben dem Senat vor
Und nackte Mädchen stehn auf Marmelstrünken.

Der Wagen fliegt den Vogelfug der Möwen
Trotzdem er köstlich teure Beute führt
Und diamantenes Geschirr umschnürt
Die Löwin und den Tibetaner-Löwen.

Da stürzt der Wagen. Plötzlich! Weh, verlieren
Die Löwen sich zu Wut der Wüstennächte
Wehl wer ist nahe der uns Hilfe brächte
Wehl in der Notl — Die Bestien coitieren.

Am Morgen

Er spricht: „Nicht ängstlich an Gestaden
Auf offnem Meere will ich baden —

Ha! der Vergleich ist ein gewagterl
Ich werde frei vom Frohn der Zeiten
Zum kosmisch-schöpferischen schreiten.“ —
(Kosmisch, sagt er).

Er wandelt kühn um seinen Tisch, er wandelt
wohl die ganze Nacht
Beglückt in seiner Lampe Licht,

Das jetzt am Tag am Blau zerbricht.

Die ganze Nacht hat er umgebracht!

(So ein Kerl!)

Mystik

Von Friedrich Kurt Benndorf

Zu den Erlebnissen aus der Region des Unter-
bewusstseins gehört jenes kosmische Fühlen, das jeder
wahre Künstler besitzt. Aber während es für diesen
nur Peripherie des geistigen Hervorbringens ist, weil
sich sein Schaffen auf bestimmte Lebensausschnitte
richtet, bedeutet es für den reinen Mystiker Zentrum,
weil ihm die allgemeine Lebensanschauung, aus der
Perspektive der Identität aller Kreatur, wesentliches
Erlebnis ist. Frühere Mystik (zum Beispiel die sufi-
tische Weisheit) nannte diese Versenkung ins Hyper-
individuelle „Vereinigung mit der Gottheit durch Ver-
nichtung des Ichs“. Die „Gottheit“ in solchem Sinn
steht auch bei den neuesten Mystikern, bei Mombert
und Rainer Maria Rilke, im Mittelpunkt ihres Sinnes
und Trachtens. Alle Mystiker sind Pantheisten, sofern
sie Gott und AIl identifizieren, und zugleich Atheisten,
sofern sie wiederum All und Ich (nebst dem Werden
dieses Ichs) gleichsetzen. Während der re'ligiöse
Dichter Gottsucher ist, ist der mystische Dichter
Gottverkünder; währendjener Gott als transzendente
Wirklichkeit auffasst, als Urquell des Daseins voraus-
setzt, verlegt ihn dieser ins Menscheninnere zurück,
macht ihn im Menschen bloss bewusst, — schafft ihn
erst. Ihm ist Gott das ötTisipov, das Unendliche, dessen
Immanenz im Endlichen durch die Tatsache des Tiefen-
bewusstseins und seiner ekstatischen Erkenntnis ge-
währleistet erscheint. In den Urgrund des Zeit- und
Raumlosen hinabzutauchen, — das persönliche Ich
gefühlsmässig zum universellen Ich zu erweitern, —
Welt und Ich als dieselbe „denkendschaffende“ Substanz
zu empfinden, — jenen Zustand aes Rausches zu er-
reichen, wo alles Naturgeschehen in der eignen Seele
sich noch einmal abspielt, wo der Kausalitätsgedanke
sinnlos wird und schwindet, wo der Geist vibriert in
der Uebereinstimmung zwischen dem Ewigen der Aussen-
welt und dem Ewigen menschlicher Innenwelt: — das
ist der Grundtrieb jedes Mystikers.

Schon in der Darstellung mystischer Ideen durch
die islamitischen Sufi, im „Masnawi“, wird gesagt, dass
man niemanden „zum Ewigen bekehren“ könne.
Mystik, als eine Sache innerer Sammlung des einzelnen

421
 
Annotationen