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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 19 (Juli 1910)
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Laudon, R: Wider die rote Flut
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Brod, Max: Über die Schönheit hässlicher Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0152

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Höhe Initiative, politisch’er Qeist und Energie seinen
Platz sucht und findet, und daß Verwaltungstechnik
eins und Politik das andere ist.

Noch schlimmer fast als diese irrige Besetzung
bekommen dem Lande die sich daraus ergebenden
Konsequenzen. Die kleinen berufenen Köpfe sehen
nicht, daß sie mit einem Schlage in eine ganz andere
Sphäre geraten sind. Statt zu verordnen und ver-
fügen, gilt es hier zu planen, zu enzipieren; es
gilt, die private Parteirichtung überwinden. Und
dies ist der zweite wichtige Punkt: die Regierung
hat es nicht nötig, konservativ oder liberal zu sein.
Wenn Parteien rückständig werden, so ist die Re-
gierung schlecht zu nennen, welche mit ihnen ver-
trocknet. Sie wirtschaftet, frei überblickend, mit.
den Parteien, sie iäßt sich nicht in ihre Händel
verwickeln. Die Regierung hat völlige Freiheit,
ja ist im Interesse der Gesamtheit wie nicht minder
ihrer eigenen Existenz zum Gebrauch ihrer Frei-
heit verpflichtet; sie kann sich geschmeidig jeder
Volksbewegung anpassen und sie beherrschen. Sie
kann herzhaft zugreifen, sonst wächst ihr das Uebel
über den Kopf. Will die Regierung eine Aerztin
sein, so übt sie sonderbare Kunst, wenn sie den
Patienten so lange vernachlässigt, bis er totschlag-
launig wird. Aber immer wird sich eine mächtige
Partei bemühen, der Regierung die Hände zu bin-
den, und immer geht es der Regierung bald darauf
an den Kragen.

Bei uns wächst die Opposition in keinem meß-
baren Umfang. Wer die schärfste Opposition ver-
tritt, ist jetzt am besten. So drängen Ungezählte
zur Sozialdemokratie und fast identifiziert sie sich
mit Regierungsopposition, nimmt alle Wasser auf,
die nicht rechtshin fließen mögen. Zweifellos ist
diese Stärkung der Linken mit lauter Stimme zu
begrüßen, denn sie soll die Regierung belehren,
daß sie eine grundfalsche Auffassung ihres Amtes
hat. Sie sieht einen feindlichen Körper in denselben
Massen, die sie führen und pflegen müßte; sie
hat längst aufgehört, Regierung zu sein. Die So-
zialdemokraten kommen zu ungeahnter Macht, sie
wissen selbst nicht wie. Einer Volksklasse ange-
hörig, die sich entrechtet fühlt, weil sie, die nie-
drigste, dazu mit Vorliebe Gegenstand der agrarisch-
konservativen Fußtritte und Vergewaltigungen ist,
unter mindestens stillschweigender Billigung der
Pseudoregierung. Leute, die es nicht nötig haben,
sich auf Zeit und Programm zu besinnen; denn
30 Pfennig mehr Tagelohn ist ein rundes Wort, und
der Stoß gegen die Brust ein hartes Gefühl. Da
brauchts keine Stilistik und Phraseologie; das ist
verständlich und wirkt im Handumdrehen. Gegen
die Plastik und Schlagkraft dieses Programms ver-
schwindet beinahe alles, was andere Parteien pro-
duzieren, verschwindet die Schwächlichkeit des
völlig unpolitischen Beamtentums, das national-
liberale Seufzer ausstößt, verschwindet insbesondere
die Kläglichkeit des liberalen Mittelstandes, das
seine Ruhe und keinen Pfennig Zinsverlust haben
will. Nur die Zentrumspartei hält es mit den Sozis
aus. Man könnte fast in diesen Tagen jammern,
daß man kein Katholik ist, um sich dieser mächtigen
und soliden Partei einzufügen. Alle Stände um-
fassend, ist sie unfaßbar, will man sie auf eine
kurze politische Formel bringen; keine Partei, son-
dern eine Gemeinde. In ihr ist am intensivsten
zum Ausdruck gekommen die Unabhängigkeit des
politischen Standpunkts vom wirtschaftlichen; nur
sie stellt sich in Machtfülle höhnend entgegen der
Ganzlinken, der die Lohnerhöhung um drei Groschen
politisches Motiv kät’ exochen ist. —

Wer kann mit ihr, der nicht ihres Glaubens
ist? Alle regierungsabtrünnigen strömen den Sozis
zu. Aber so sehr man mit diesen um ihrer Energie
und Opposition willen sympathisiert, man müßte
blind sein, um nicht zu wissen, daß aus den tapferen
opfermutigen Proletariern Spießbürger in dem
Moment werden, wo sie ihre Lohnerhöhung erlangt
haben. Es ist eine Lächerlichkeit, von dieser Partei
des gröbsten einseitigen Materialismus kulturelle
Förderung zu erwarten. Man gehe einmal mit dem
Geiste, der Goethe Iiebt und sich an Platon ge-
nährt hat, der Beethoven nicht nur gehört hat,
und an der Erscheinung des Nazareners nicht blind
vorübergegangen ist, in die Versammlungen dieser
Leute, und frage sich, was man rriit ihnen teilt.
Und dann frage man sich aber, wohin nun? Wider-
willig treibt das Gros der Wähler zu der Sozial-
demokratie. Wo ist die Stimme, die uns den Weg
zeigt, die Partei — welche Armee und Marine an-

erkennt und doch die Konstitution ausbauen will —
welche jene Reformen anbahnt, die sich für ein
hochstehendes Volk ziemen, — welche die toten
Religionen aus der Schule verweist und so frische
Luft und wahrhafte Gewissensfreiheit bringt —,
welche der lähmenden Kastenherrschaft entgegen-
tritt, — welche, wie das Zentrum um die Fahne
des Katholizismus, sich sammelt um die Fahne des
möglichen kulturellen Fortschritts ? Der alte Libe-
ralismus hat in Schönrednern, sterilen Akademikern
und feigen Börsianern geendet. Könnte es einen
neuen geben, der sich die uralte Macht von Ideen
wieder zu eigen macht, der uns die widerwillig
angetretene Verbindung mit der Sozialdemokratie
erspart ?

Über die Schönheit hässlicher
Bilder

Von Max Brod

„Acb, warnm Ist alcht altes operelteabaft“. Laforjoe

Noch heute, wenn aus der bronzierten Netz-
fläche einer Dampfheizung lauer Hauch von un-
gefähr mich befällt (o Erinnerung, erfolgreiche
Schmutzkonkurrentin des Gegenwärtigen!) . . .
dann fällt mir jene Kunstausstellung im Künstler-
haus zu Wien ein, die mich erzogen hat. Das war
reizend, damals. Schon unterwegs im rauhen März-
wind der Straßen, der allen Damen längs empörter
Frisuren die Hüte in die Höh’ trieb (Balzac würde
sagen: in diesem Wind, der für Wien ebenso cha-
rakteristisch ist wie u. s. f.) . . . schon unterwegs
freute ich mich auf dieses Künstlerhaus, das ich
mir warm und nach seinem Namen als einen Ver-
sammlungsort hochgemuter Künstlerecken vor-
stellte, ja lauter solcher Tiziane, die dort auf- und
abgehn, patrizisch und in Prunkwämsern ohne Farb-
flecke mit Königen Gespräche führen. Doch ich
war kaum enttäuscht, als ich nur Bilder vorfand,
Bilder ohne Zahl, und an manchen Stellen der Wand
zwischen zwei Bildern diese braven Siebe der
Zentralheizung, die unversehens mit Garben tropi-
scher Witterung überschütten. Ich blieb immer
zwischen den Bildem. Doch meine Gefährtin war
von künstlerischen Entzückungen schon umzingelt,
attackiert, überwältigt. Die Luft deutlich gemalter
Sonnenuntergänge atmete sie, wiewohl in dieser Luft
fettglänzende Wolken aus Himbeerlimonade hingen,
mit Vergnügen ein, sie fuhr in sauber-wuchtige
Fjordkulissen, wurde durch Charlie Stuarts Hin-
richtung erschüttert zugleich und belehrt. . . „Aber
das ist doch lauter Klitsch! Wie kann Ihnen so
etwas gefallen?“ rief ich lächerlich-ernsthaft, indem
ich meiner durch Wärmebedürfnis erklärbaren Stel-
lung ein satirisches Cachet zu geben bemüht war.
Sie sah mir gekränkt zu und ging in den nächsten
Saal. Ich folgte . . . Auch hier Korbsessel, Tep-
piche, Palmen, Oberlicht, und an den Wänden
führten Schutzengel mit aufgereckten Gänseflügeln
kleine Mädchen über Stege unpraktischer Bauart,
ein Lohengrin, dessen Bewegungen trotz seTnes
SiJLberpanzers wie unter geselligstem Frack sich
zierten, küßte sein kokettes Elschen, nebenan sagten
gesund und doch melancholisch aussehende Hand-
werksburschen in vormärzlichen Kostümen ihrer
aber schon sehr poetischen Heimatstadt Ade, blon-
deste Backfische, rosarot, frisch vom Konditor,
hatten Noten und eine Lyra und einen auch im
Schlafe blassen Dichter, den sie amüsant bekränzten,
auf Schneelandschaften (weiß, fraise, perlgrau) er-
schienen krächzende Raben durch das ein für alle-
mal feststehende Zeichen zweier aneinander ge-
fügter Beistriche angedeutet, und das 1 Exotische war
vertreten durch Beduinen, Schwerttänzerinnen, slo-
wakische Bauern, Szenen aus Buchara, Zentauren
im Galopp, Fellahfrauen neben den bekannt
schrägen Raen der Nilbarken. Ja, dieser Orient,
das ist doch noch was . Indes mit mehr als
meinem Tone der Entrüstung „Und das gefällt dir
nicht?“ führt mich meine Gefährtin vor die rei-
zendste Zofe der Welt, die ihr Händchen so ge-
schickt hinter eine Kerze zu halten weiß, daß die
heraufsteigenden Lichtstrahlen rotgelb ihr Gesicht
schminken . . . Und nun bin ich besiegt, nun ge-
fällt mir schon alles. Ich vergesse die Franzosen,
den Fortschritt, Meier-Graefe, die Verpflichtungen
eines modernen Menschen. Schon zurückgetaucht

in Jahre unverantwortlicher Jugend, freue ich
über die Zahnlosigkeit eines gutmütigen Mö
der rechts-links umflochtene Weinflaschen a)
preßt, wie einfach-menschlich; und bin vei
von glattlasierten Schlachten, den sorgfältig
gen Kopftüchern der Verwundeten, den sau ^
Reitersäbeln. Und „Rast im Manöver“ heit [(
wenn auf Tournister gepackte Blechgefäße grai ?
grauen Straßenstaub entgegenblitzen. Und de a

strichliertes Schilf wächst „vor dem Gewitter' v

zinnweißen Reflexen eines Sumpfspiegels. An .
vier wird Abschied genommen, für ewig viel fj
Rosen lösen sich welkend aus Wassergläsern. j
ruhen im Grünen. Miß nur, kleines Mäderl;
höher ist, du oder euer Barry ... j,

Seit damals liebe ich die Behaglichkeit, di j
wußtlose Grazie schlechter Bilder, diese Ironi* -
von sich selbst nichts weiß, diese Eleganz de j
beabsichtigten Effekte. Wie ärmlich stellen c
seriöse Bilder daneben dar, die den Geist de c
schauers in eine einzige, vom Künstler ebei 5
wollte Richtung drängen. Sie sind so eind< I
so vollkommen, so häßlich . . . Die schönef s
der. Aber Wonnen eines triebhaften Balletfc i
unwillkürliche, unausschöpfliche Natur selbst, j
Chaos und urzeitliche Zeremonien lese ich
Annoncencliches, Reklamebildern, Briefma y
Klebebogen, aus Kulissen für Kindertheater, 1
ziehbildern, Vignetten; mich entzückt 5
Romantik des Geschmacklosen. -i
Seit damals sind die Plakate an den Stri ‘
edken meine Gemäldesammlungen. Da steht 1
zeugt für „Laurin & Clement“ ein rotes Pi*
automobil, bewohnt von Herr und Dame in t
chicer Dreß, steht vor einer gelben Gebirgsl
schaft aus aufgetürmten Rühreiern. Der ’"
scheint mit eleganter Handbewegung dieses t
tene Naturschauspiel der Dame zu präsentiereri
indes, ungerührt von den Blicken aus seiner il i
santen Schutzbrille eines Tauchers, ihren Scß c
mit spitzer Nase zu zerstechen sucht . . . Ein Ct
berlain mit Monocle und imperialistisch-fre'
Mundwinkeln macht auf die Eröffnung eines Hd
konfektionsgeschäftes geziemend aufmerksam 1
Nicht ganz so glücklich führt sich „Altvater Jäg 1
dorf“ durch einen triefäugigen Greis, mit F^ 1
barett und Grubenlampe jedoch, ein . . . Wef c
wir dieser arglos hochgeschürzten Galathea, ‘
witzreich verzeichneten Knaben einer Variete-Af* 1
widerstehen? . . . Und nieder auf die Knie, 1
Knie vor dem Porträt Zolas, vor seinem Stimk’
tern, das dem Autor ernster Bücher wohl anst (
und das ein einsichtsvoller Plakatkleber durch
sonders runzliges Ankleben gerade dieses PlaK 15
noch verstärkt hat ... Falls du immer h'
die Wirkung dieser wahrhaft primitiven Kunst J 1
zweifelst, schwebt schon, nicht um zu strafen, ^
um sanft zu überreden, ein Genius herbei, maj
doch jungfräulich, in ein aus Bolero und Chi';

kombiniertes Kleid gehüllt und mit unbeteiligt-S’

a 1

metrischen Flügeln, während wilde Falten den '
ren Gewandsaum wegblasen. Er verkündigt
festspiele“, schleudert in der Linken einen '

nach vorn und, um sich im Gleichgewicht ZU

halten, hat er den rechten Arm eingeknickt, W


0

ihni freilich das Versehen geschieht, die Pos» 1 I
stau an den Mund ans Ohr zu setzen, so daß

einem pompösen Hörrohr ähnelt. Doch scheint


kein unpassendes Symbol, da er so vortreffü cJ.
Opern, die er anzeigt, auch wohl selbst zu lausc* j
Lust bekommt. Und unbekümmert um all ^ .

(iÖ

jedenfalls dringt er in die Photographie des Thea'( (
gebäudes ein, trotz sichtlichen Gegenwindes, K l

_l_i _i__ i _:_1_ _ 1

obwohl das Licht verwirrend genug ihn von li 1’ ..
das Theater von rechts bestrahlt.

Glückselig darüber, daß nicht imtner die Phf
das letzte Wort behält, wende ich mich weß c,
Kunstgenüssen zu. Sie warten in allen Ausla^

diese zauberhaften Offenbachiaden des Lebens,

mich. Die Parfümerien stehen im Farbenschnoj
so schematischer Blumen, daß man „Kinder Flo^j <
mit Lächeln sie zu nennen versucht ist . . . . \
Houtens Cacao ist schon undankbar ohne
etwas nördliche Dame, die im Eisenbahncoupe v‘
nehmer Klasse einer trostlosen Winteröde t
Rücken kehrt, um desto neckischer ihr Lieblihij t
täßchen zu schlürfen, de smakelijkste, in’t Geh* ;
de vordeeligste. Klingt es nicht wie das pht
tastische Deutsch eines ganz souveränen erstkl 3^ 1
gen Schriftstellers ? Lustig, lustig ... In ei*j, I
Seidengeschäft ist die „Wiener Mode“ atw

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