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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

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Nr. 10 (Mai 1910)
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Scheu, Robert: Radikalismus
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Leppin, Paul: Daniel Jesus: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0078

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die Vermutung fiir sich haben, daß sie geistiger sind
als der Rationalismus. Es geht dies eigentlich aus
dem Vordersatz hervor, daß die revolutionären
Mächte die materiellen, die ökonomischen Not-
wendigkeiten durchsetzen, während die konser-
vativen ihnen entgegentreten. Diese müssen, da
sie nicht materielle sein können, eben geistige sein.
Je leidenschaftlicher die Reaktion vordringt, desto
geistiger müssen ihre Motive sein, weil sie sich im
Widerspruch zu Lebensforderungen behaupten
können. Wäre dies nicht der Fall, so wäre der
Rückschritt nur ein scheinbarer, würde sich ein
tieferer Fortschritt darin verbergen. Es ist demzu-
folge für den fortschrittlichen Qedanken viel
schwieriger, sich zu vergeistigen. Er siegt daher
nur fallweise, wenn ihm dies gelingt. Es ist dies
der letzte Qrund, warum die konservativen Ideale
gerade viele tieferen Qeister — wie beispielsweise
die Romantiker — anziehen; in der Krankheit steckt
eben mehr Qeist als in der Qesundheit, sie verfügt
über eine kompliziertere Dialektik. Nur durch das
Erscheinen tieferer farbenprächtiger Persönlich-
keiten kann daher die Reaktion besiegt werden,
durch Persönlichkeiten, die das Prinzip der Revo-
lution dem Rationalismus entreißen.

Der Fortschritt beruht allerdings auf der Ver-
nunft, aber die Vernunft allein vermag nicht zu
siegen, einzig der Qeist vermag dies. Aber die
Vernunft ist oft geistlos. Rationalismus und
Liberalismus können heute keinen Zauber mehr
ausüben, keine imponierende Vornehmheit mehr
entfalten, keine Vollblutpersönlichkeiten mehr
kristallisieren, sie sind, kurz gesagt, unfruchtbar
geworden.

Die Frage der Niederwerfung der Reaktion ist
daher eine Frage des Aufkommens freier Per-
sönlichkeiten, die den großen konservativen Er-
scheinungen ebenbürtig sind. Solche Persönlich-
keiten können aber weder zufallsweise noch über
einfachen Wunsch entstehen, sondern nur infolge
der entsprechenden Konstellation, die sie ge-
schichtlich fordert.

Ist eine solche Konstellation in Sicht? Es hat
den Anschein.

Die Zeit lechzt nach solchen Persönlichkeiten,
die an die Stelle der ausgeleerten, schaal ge-
wordenen Tory-Herrschaft die Führung über-
nehmen.

Die letzte Reaktionsepoche, die wir erlebt
haben, entstand dadurch, daß sich der Fortschritt
auf die positive Arbeit geworfen und dabei zer-
splittert hat. Heute marschieren die Truppen der
Kultur auf hundert Linien der Walstatt zu. Ein im-
ponierender Aufmarsch! Was ist in Kunst, Natur-
wissenschaft, Sozialpolitik erarbeitet worden!
Engster Anschluß an das Material, Stoffbe-
herrschung war die Devise. Auf diesen Linien
marschiert die Kultur, in viele Korps geteilt, aber
sicher, wie am Wasserlauf der Flüsse, die alle im
großen Meer zusammenmünden. Die Reaktion hat
gesiegt wie die Oesterreicher bei Königgrätz,
nämlich solange als nicht die gesamte preußische
Armee auf dem Schauplatz stand. Als aber, wie
genau vorausberechnet, der preußische Kronprinz
eintraf, verwandelte sich der vermeintliche Sieg in
eine Niederlage. Die Renaissance des Freigeistes
wird umso vollkommener sein, je schwieriger die
Synthese ist, je spannkräftigere Persönlichkeiten
sie daher erfordert und infolgedessen erzeugen
wird.

Die Kultur darf nicht schlafen, sie darf sich
nicht auf vergangene Verdienste berufen, sie hat die
Verpflichtung, ihre produktive Kraft gegenüber der
konservativen Weltanschauung immer wieder neu
zu beweisen. Die konservative Weltanschauung
hat ihr Schwergewicht in sich. Aber die Kultur ist
wertlos, weil geistlos, wenn sie nicht in ihrer
Fruchtbarkeit unerschöpflich ist. Die Reaktion
wird an dem Tage geschlagen sein, wo das gesamte
Material der Zeit in seinem unerhörten Reichtum,
in seinen blendenden Widersprüchen, in seiner
traumhaften Entfaltung innerlich bezwungen,
geistig bewältigt und in blutvollen Persönlichkeiten
verkörpert sein wird.

Daniel Jesus

Roman

Von Paul Leppin

Es war eine lange und ziellose Straße, in der
Daniel Jesus hinter einem häßlichen Abend ging.
74

Der war immer vor ihm, und er konnte ihn nicht
erreichen mit seinen dünnen, schmerzhaften Beinen,
die einen hastigen und flackernden Schatten auf die
nassen Steine des Pflasters streuten, der ihn ärgerte
und verdrießlich stimmte. Der Abend lief vor ihm
her wie ein tolles und boshaftes Tier, und er konnte
ihn mit seinen magern Fingern nicht greifen und
konnte ihn nicht bei den wirren Haaren fassen und
ihm in die zuchtlosen Augen starren, lange und
nahe, so daß sein heißer Atem über seine zuckenden
Wimpern fahren müßte. Das war sein lieber Qe-
danke und seine sehnsüchtigste Sehnsucht seit
Jahren. Wer so den Abend erwürgen könnte!
Denn der Abend war böse. Natürlich müßte man
vorsichtig sein. Sich nicht belauern lassen und mit
einfachen und gütigen Worten sich ihm nähern und
lächeln und ihn liebkosen wie ein Weib. O, er
würde schon klug sein! Der Haß würde wie eine
Inspiration in ihm leuchten, daß er die richtige
Weise fände, den Abend zu bändigen und zu töten.
Er gäbe sich ihm hin wie ein Knabe, der gestern ins
Leben kam, und wäre sanft und leidenschaftlich und
wollüstig. Er würde mit verlangenden Händen den
glatten Leib dieser Metze betasten und sie schläfrig
und gierig machen. Bis er unter seinen Fingern
die schwarzen Adern an ihrem Halse klopfen
fühlte,. in denen ihr Herzblut brannte. Da würde er
zudrücken, plötzlich und krampfhaft und ohne Er-
barmen. Dann bekäme sie jenes furchtbare Ant-
litz, von dem er jede Nacht träumte. O Qott, daß er
immer daran denken mußte! Aber er konnte diesem
Bilde nicht entrinnen! In jedem Spiegel war es, in
den er hineinsah, und hinter jedem Fenster, an dem
er vorbeiging, hing es wie eine Larve. Es war ein
bleiches und angstvolles Qesicht, das eine arge
Krankheit mit Eiter und Aussatz grausam gezeich-
net hatte. Und unter seinen drosselnden Gelenken
war ein hilfloser Schrecken in dieses Qesicht ge-
kommen, der seine Augen aus den Höhlen trieb.
Und aus dem keuchenden Halse kroch die verfaulte
Zunge wie ein Eingeweide heraus und wollte kein
Ende nehmen und wurde länger und länger und
wuchs und stieß die Glasscheiben der Fenster ein,
an denen er vorüber mußte. Die Straße war ziellos
und lang, und die giftige Zunge leckte nach ihm und
haschte sein Kleid, und sie kam näher und nahe. Du
großer Qott! Jetzt war sie da, nur vorwärts, und
sich nicht umschaun um Gotteswillen!

Daniel Jesus Iief. Er lief in kurzen, zappelnden
Sprüngen, und der Schweiß rann ihm in blassen
Tropfen in seinen schüttern Bart. Er lief, bis ihm
seine kranke Lunge den Dienst versagte und er
röchelnd stehn blieb. Da lehnte er sich an einen
Laternenstock und ruhte aus. Gott sei Dank! Die
Angst war vorüber, und er fürchtete sich nicht
mehr. Er mußte wirklich zum Arzt gehn in den
nächsten Tagen, denn er hatte Visionen. Der
Abend war ja nicht tot, der ging vor ihm her und
tanzte einen Polkaschritt um jede elektrische
Lampe und hüpfte spöttisch von einer Seite der
Straße auf die andere hinüber und schielte in die
Parterre-Wohnungen hinein, und er hatte ihn noch
nicht erwürgt, und darum brauchte er dieses Qe-
sicht nicht so zu scheun! Trotzdem! Und wenn
es ihn zu Tode quälen sollte. Denn er haßte den
Abend. Weil er sich lustig über seinen Buckel
machte und ihn hundertmal nachäffte an den Häu-
serwänden, verzerrt und grotesk, komisch und
gemein.

Jedesmal, wenn eine Laterne kam, sah er sei-
nen spitzigen, schiefen Buckel an der Wand und
auf der Erde, zwei-, dreimal, in vielen Schattierun-
gen und Längen. Die Sonne war ehrlich und zeigte
ihm sein Qebrechen, aber der Abend verhöhnte es.
Er ließ sich nicht verhöhnen, er, der reiche Daniel
Jesus, dem die Leute die Hand küßten, wenn er
wollte.

Verbittert und ächzend ging er weiter. Es war
doch eine Miserabilität dieses Lebens, das er führte.
Es hatte kein Ziel und kein Ende, genau so wie die
Straße, die er vor sich sah. Es war nichts darin,
als wüste, verlogne Gaukeleien, in denen sich sein
starkes, hungriges Herz verlor. Diese Orgie, die
er in seiner Villa gestern veranstaltet hatte,
weil der junge Baron Sterben zwanzig
Jahre alt geworden war. War das groß
und grausam, und war darin nur ein Stückchen von
der großen Qloria der Missetat? War darin Glut
und Sünde? War darin ein Untergang?
Nicht einmal schamlos war es: Ein paar nackte
Mädchen, die sich mit Champagner betranken und
sich dann auf seinen wunderschönen, blutroten
Teppich übergaben, der ein Vermögen wert war.

Wo war da jener blinde und ruchlose Zug, def
seiner würdig wäre? Eine Fürstin hätte er findefl
müssen! Aber eine Fürstin der Seele, keusch und
gut, damit ein wenig Tragik dabei sei, ein wenig
Kampf und Schande und Sünde. Eine Heilige hätte
auf seinen Knien sitzen müssen und Rosen auf
seinen häßlichen Buckel streun und seine ver-
krüppelten Füße küssen und dem Baron Sterben
splitternackt den Champagner reichen. So war es
dumm und langweilig gewesen. Diese Bürgers-
töchter hatten keine Seelen. Es rührte und packte
sie nichts, und sie schauerten niemals unter einem
solchen Abend. Es fror und schrie nichts in ihnen,
kein Verbrechen und keine große Uebeltat, keine
Wollust der Selbsterniedrigung, kein Rausch und
keine Sehnsucht.

Er mußte Seelen sehn, wenn sie nackt und be-
trunken waren. Das liebte er. Brünstig und in-
brünstig, ekstatisch und irre. Von einer großen
Kraft verwirrt, von einem Qott oder einem Tiere.
Darum ging er jetzt auch wieder in das kleine
Haus neben dem Eisenbahnviadukt, wo er schon so
lange nicht gewesen war. Sie würden ihn frostig
empfangen, Schuster Anton und seine Beter. Sie
wußten ja immer alles, was er tat. Sie waren wie
das böse Qewissen. Und sie wußten sicher schon,
daß er gestern abend wieder gesündigt, daß
er dem Teufel seine Türe geöffnet habe. Er konnte
nicht ersinnen, wo Schuster Anton alle diese Dinge
erfuhr. Aber sie waren ihm alle bekannt.

Furchtsam und fiebernd ging Daniel Jesus die
finstre Holztreppe hinauf. Qanz leise öffnete er die
Tür und stand im Zimmer.

Sie sangen gerade das Marienlied vom
schmerzlichen Herzen. Um einen langen, kahlen
Holztisch herum standen eine Menge Menschen mit
Gesangbüchern in den heißen Händen, und ihre
Stimmen stiegen wie ein herber zerbrochner Schrei
in die Höhe und stießen sich an der niedrigen
Zimmerdecke wund. Und alle dachten nur das eine
Lied. Es war kein Raum in ihren Seelen für die
Geschehnisse der Stunde. Am Ende des Tisches
stand Schuster Anton. Er kannte das Lied schon
auswendig und hatte seine harten, ungeheuern roten
Hände zum Qebet gefaltet und sang. Es klang wie
ein Notruf auf See. In Nacht und Sünde war sein
Schiff gescheitert und trieb jetzt umher und suchte
Gott. Und er rief ins Dunkle hinaus, stetig und
immer lauter, sinnlos und gläubig. Ein wilder
und stolzer Kopf saß auf seinem riesenhaften
Leib. Bartlos in trotziger Askese, mit einetn
Mund, der wie ein Säbelhieb in seinem narbigen
Gesicht geblieben war.

Neben ihm stand sein Weib. Qroß und riesen-
haft wie der Schuster, mit einem wundervollen,
brandroten, glutenden Haar. Sie dehnte und bog
ihren mächtigen Leib im Qesang und rang mit der
Sünde. Sie schrie das Lied in die Stube, daß es wie
ein verirrtes und erdrosseltes Schluchzen auf die
Gasse fiel und die alten Frauen schauernd ein Kreuz
schlugen. Aber es half nichts. Sie konnte ihr Blut
nicht töten, und das Lied füllte ihr Herz nicht aus
wie die Herzen der andern. Sie suchte mittefl
zwischen den Strophen nach einem Brand und einer
Verheerung. Denn die Liebe zu Qott war klein ufld
arm und kein Sturm wie bei Schuster Antofl-
Der war ein Messias und ein Erlöser und sie ein
armes Weib. Aber sie mußte auch eine Glut ifl
ihrer Seele haben, die ihr Blut verdorren ließ wie
einen Tümpel in der Sonne. Sie war ein Mensch,
in dem es viel zu verbrennen gab. Sie haßte ihr
Blut und ihren großen Leib, den sie nicht bändigefl
konnte. Sie hatte eine stumpfe und gierige Angst
vor ihrem Leib. Sie sang. Und es war wie eifl
Notruf auf See.

Christus! Christus! schrie es in ihr.

Sie schob ihre weiten, verheerenden Augen afl
den verräucherten Wänden weiter und an den ver-
zerrten Qesichtern der Menschen. Aber das Lied
füllte ihre Seele nicht aus.

Da sah sie mit einem Male zwischen defl
Träumen und den Visionen, zwischen den Gaukeleifl
und den Flammen ihres Qesanges plötzlich, und wi e
den Schatten hinter einem Licht, Daniel Jesus in der
Stube stehn. Er sah sie an. Und ihre Augen ver-
loren sich. Ihre Augen gingen nackt und schamlos
in die seinen, wie eine Frau in das Bett ihres G e'
liebten steigt. Und groß und häßlich, so wie der
Abend draußen, den Daniel Jesus nicht erreichefl
konnte, trat zwischen das Lied die Sünde. Danie 1
Jesus war es, als ob eine eisige Hand über seinefl
Buckel führe. Und er trank diesen Blick der
Büßerin wie eine schöne und ruchlose Missetat-
 
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