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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 1.1910-1911

DOI Heft:
Nr. 13 (Mai 1910)
DOI Artikel:
Kraus, Karl: Perversität
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https://doi.org/10.11588/diglit.31770#0101

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DERSTURiW

WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE




Redaktion und Veriag: Beriin-Haler.see, Katharinenstrasse 5
Fernsprecher Amt Wilmersdorf 3524 / Anzeigen-Annahme und
Geschäftsstelle: BerlinW35, Potsdamerstr. 111 /AmtVI 3444


Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN


Vierteljahresbezug 1,25 Mark ; Halbjahresbezug 2,50 Mark/
Jahresbezug 5,00 Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1910 BERLIN/DONNERSTAG DEN 26. MAI 1910/WIEN NUMMER 13

INHALT: KARL KRAUS: Perversität / PAUL LEP-
PIN: DanielJesus /Roman /ELSE LASKER-SCHÜLER:
Oedichte / OTTO STOESSL: Die Schwestern Wiesen-
thal/ALFRED DÖBLIN: Gespräche mit Kalypso über
die Musik /RICHARD SCHAUKAL: Geistige Land-
schaft/TRUST: Kunstreferate/MINIMAX: Haare, aus
dem Kometenschwanz gezupft/KARIKATUR: Herr Pro-
fessor Meyer

Perversität

Voa Kart Kraus

Nervenärzte und andere Laien schwätzen jetzt
über tioinosexuaiismus. Ls hat sich im Laui der
begeoenheiten so viei Verstämitiis für die Sache ent-
wicKeit, üali die Linteilung in solche, die nicht anders
und in solche die auch anders können, zum üemein-
platz geworden ist, von dem aus die Vertreter von
üesetz und Sitte, also die, die überhaupt nicht
können, Mitleid und Verachtung ausgeben. Die
Menschheit wird sich mit der Zeit — so etwa in 129
bis 175 Jahren — wahrscheinlich zur schwindelnden
liöhe jener Erkenntnis emporschwingen, die die
angeborene Homosexualität iür eine Krankheit er-
klärt, die sie definitiv verzeiht, und die „erworbene“
für ein Laster, das sie nach wie vor der strafrecht-
lichen Verfolgung, der sozialen Acht und dem Er-
pressertum überantwortet. Sie wird die Unter-
scheidung den psychiatrischen Schergen überlassen,
die durch die bekannte Bordellprobe —■. vergleichbar
der Wasserprobe des Hexenglaubens — untrüglich
festzustellen vermögen, ob einer ein Kranker oder
ein sogenannter „Wüstiing“ ist. Der Paragraph
wird den „unwiderstehlichen Zwang“ anerkennen,
also wenigstens der Krankheit gegenüber Qnade für
Recht ergehen lassen, aber die Schmach einer
Menschheit vermehren, die sich von der Juris-
prudenz an die Genitalien greifen läßt. Nie wird
sich das Qesetz dazu entschließen, das Einver-
ständnis zweier mündigen Menschen unbeheiligt zu
iassen, und wenn es schon anerkennen muß, daß
Krankheit kein Verbrechen ist, so wird es dafür das
„Laster“ für ein um so größeres halten. Die unbe-
fleckte Ahnungslosigkeit, die Qesetze macht, wird
höchstens jenem Naturdrang ein Opfer bringen, vor
dem es kein Entrinnen gibt. Aber sie würde sich
dreimal bekreuzigen vor einer Meinung, die ihr ins
Qesicht zu sagen wagte, daß eher die Krankheit ein
Verbrechen ist als das Laster. Solche Meinung darf
man heutzutage nicht einmal bei sich behalten, ge-
schweige denn aussprechen. Darum tu ich’s. Ueber
den Wert des Mitleids kann man verschiedener
Meinung sein. Ich sage, daß man die geborenen
Homosexuellen, nicht weil sie Kranke sind, frei-
sprechen soll, sondern weil uns ihre Krankhaftigkeit
keinen Schaden zufügt. Mag man aber die mil-
dernden Umstände, auf die sie selbst plädieren, aus
welcher Einsicht immer gelten lassen, das Interesse
einer Kulturfrage kann die Behandlung patho-
logischer Formen nicht in Anspruch nehmen. Die
Natur und Herr Dr. Magnus Hirschfeld mögen was

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^ Dr. Richard Moses Meyer / Professor für Literatur an der Berliner Universität

die Literatur mit grösster Entschiedenheit in Dezennien ein und gelangte zu weiteren Unter-
schieden aus der Analyse von Haartracht, Kleidung und Knochenbau der betroffenen Dichter
 
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